Entwicklungsminister : Gerd Müller, der Friedensminister

Gerd Müller lässt nicht los. Gerade hat ihm eine Narkoseärztin vom Roten Kreuz berichtet, wie sie von Macheten übel zugerichtete Menschen versorgt hatte. Der Entwicklungsminister nimmt ihre Hand, hält sie fest. Ein Minute, zwei Minuten – die Ärztin schaut leicht irritiert, doch Müller verharrt in dieser Haltung. Er fragt immer wieder nach, dankt schließlich der deutschen Medizinerin überschwänglich: „Es ist toll, was Sie hier leisten.“ Später streicht er in einem Flüchtlingslager in der Hauptstadt der Zentralafrikanischen Republik vielen Kindern über den Kopf, schüttelt unzählige Hände. Er hat das Programm umwerfen lassen, um das Lager besichtigen zu können. Nun stapft er durch Staub und Gestank, spricht mehrere Flüchtlinge an, hört aufmerksam zu.

So ein Besuch kann peinlich wirken, doch Müller meistert die Situation souverän. Er biedert sich nicht an, findet die richtigen Worte, seine Anteilnahme ist ungekünstelt. „Hier sitzt Müller, nicht Niebel“, hatte der Minister zu seinem Amtsantritt gesagt. Bei Reisen nach Zentralafrika oder Jordanien, wo er syrische Flüchtlingslager besuchte, zeigt er, was er damit meint: Das Ministerium wird nicht mehr geführt von einer kaltherzigen FDP, nicht mehr geführt von einem Minister, der Entwicklungshilfe lediglich als Türöffner für die Wirtschaft betrachtet hat. Und seit Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen (CDU) laut über neue Kampfeinsätze der Bundeswehr in Afrika nachgedacht hat, hat Müller eine regelrechte Mission: Gut gemachte Entwicklungshilfe kontra Militäreinsatz. Friedensministerium nennt er sein Ressort.

Niebel gerade überstanden

Als Müller zum Entwicklungsminister ernannt wurde, waren viele Hilfsorganisationen entsetzt. Da hatten sie gerade Niebel überstanden, der gern und oft über die Szene der Entwicklungshelfer spottete. Und nun sollte ein Mann der CSU kommen, der zuvor im Landwirtschaftsministerium genau das getan hatte, was als entwicklungspolitisch höchst problematisch gilt: Als Exportbeauftragter der Bundesregierung für Agrarprodukte setzte sich Müller jahrelang dafür ein, dass mehr Fleisch, Milch und andere Agrarprodukte ins Ausland verkauft werden. Mehr Exporte aus dem Westen heißt, mehr Konkurrenz für die Erzeuger in Entwicklungsländern, die mit den von der EU subventionierten Preisen gar nicht mithalten können.

Die Skepsis war groß und sie wurde verstärkt durch Geschichten, die wieder aus den Archiven hervorgeholt wurden: Ende der 80er-Jahre, Müller war damals Vorsitzender der Jungen Union Bayerns, forderte er die Todesstrafe für Rauschgifthändler. Hinzu kommt, dass Müller ganz und gar nicht wie ein engagierter Mensch erscheint, sondern auf den ersten Blick wie ein langweiliger Beamter. Der hochgewachsene 58-Jährige bewegt sich etwas linkisch und spricht ein langsames Schwäbisch mit vielen Pausen. „Lausbübisch“ nannte ihn einst Franz Josef Strauß – eine Charakterisierung, die einem zu Müller zunächst einmal nicht einfällt.

Doch der neue Minister weiß zu überraschen. Kaum im Amt, setzt er neue Akzente. Die Liberalisierung des Welthandels gehe deutlich zu weit, künftig müsse viel stärker auf die Einhaltung sozialer und ökologischer Standards geachtet werden, so seine Botschaft. „Der Markt braucht Grenzen“, sagt er in seiner ersten Bundestagsrede vor einigen Wochen. „Es ist absolut nicht hinnehmbar, dass in Bangladesch Näherinnen für fünf Cent in der Stunde 90 Stunden in der Woche Jeans nähen, damit wir für 9,90 Euro eine Jeans kaufen können.“ Müller stellt das Wachstum-um-jeden-Preis in Frage und verlangt eine Änderung des Konsumverhaltens der Bürger „im ökologischen Sinn“.

Selbst die Opposition ist angetan. Allein sieben Mal vermerkt das Bundestagsprotokoll während der Rede „Beifall im ganzen Haus“, bei weiteren fünf Gelegenheiten applaudieren die Grünen zusammen mit den Abgeordneten der großen Koalition. Irritationen gibt es nur in den eigenen Reihen. Hat man sich hier doch keinen ungefährlichen Provinzler in die Regierung geholt, sondern einen ernstzunehmenden, grünen Überzeugungstäter?

Müller, der auf einem Bauernhof in Krumbach im Allgäu groß geworden ist, kann mit der Kategorisierung „grün“ allerdings gar nichts anfangen. Er ist vielmehr ein tiefreligiöser Mensch, der immer wieder von der Bewahrung der Schöpfung spricht. Das ist sein Antrieb. Schon als Jungpolitiker organisierte er zusammen mit Parteifreunden Kongresse, bei denen der Klimawandel und die Abholzung des Regenwaldes thematisiert wurden. Da war das bei den Volksparteien noch kein Thema, schon gar nicht in der CSU. Und wenn er danach gefragt wird, warum ihn die Entwicklungspolitik reizt, erzählt er von seinem Vater, der die russische Kriegsgefangenschaft nur überlebte, weil Bauern ihm immer wieder Brot zusteckten. Vom Vater habe er Verantwortungsgefühl gelernt und Werte. Der Starke helfe dem Schwachen, egal ob Freund oder Feind: „Niemand in der Welt darf zurück gelassen werden.“

Doch so selbstlos funktioniert Entwicklungshilfe nicht. Es ist ein knallhartes Geschäft, bei dem um jeden Euro gefeilscht wird. Hilfsorganisationen sind längst keine Ansammlungen von Gutmenschen mehr, sondern oft große Unternehmen, die um Aufträge und Gelder kämpfen. Im Vergleich zu Niebel scheint Müller daher geradezu naiv.

Kritik an von der Leyen

Unterschätzen sollte man ihn aber besser nicht. Müller weiß ziemlich genau, was er auf dem Posten erreichen kann und will. Da kommt dann auch die Exportförderung nicht zu kurz. In seinem gerade fertiggestellten Afrika-Konzept ist beispielsweise von zehn neuen „grünen Zentren für landwirtschaftliche Wertschöpfung“ die Rede. Das sollen Ausbildungszentren sein, die mit Hilfe der deutschen Agrarindustrie errichtet werden. Anfixen nennt man so etwas in der Medizin.

Was er nicht will, weiß er auch: Neue Militäreinsätze der Bundeswehr etwa in Afrika. Das hat weniger mit Pazifismus zu tun, Müller hat selbst gedient. Vielmehr treibt ihn die Sorge vor einer Überlastung der Truppe und eine gehörige Portion Antipathie gegenüber der resoluten Verteidigungsministerin von der Leyen. Letzteres wird sogar bei öffentlichen Auftritten deutlich. Als er im Bundestag erläutert, wie die Entwicklungshilfe in Afrika verstärkt werde und wie man mit dem Aufbau staatlicher Strukturen Sicherheit schaffen könne, schiebt er extra ein Bedauern darüber ein, dass die „Frau Verteidigungsministerin“ nun schon leider weg sei. Vor seiner Reise in die Zentralafrikanische Republik spricht er ausführlich mit Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) über den Trip, das Verteidigungsministerium wird lediglich informiert.

Die Idee, den Konflikt in seinem Sinne zur Profilierung zu nutzen, gefällt ihm zunehmend. Hier die kriegsbesessene Verteidigungsministerin, dort der Friedensminister Müller. Einen Sieg hat er schon errungen: Auch aufgrund seiner Intervention wird es entgegen der Absicht von der Leyens beim geplanten Einsatz der Bundeswehr in Zentralafrika keine logistische Unterstützung für die dort operierenden französischen Truppen geben.

Obwohl Auslandseinsätze der Bundeswehr auch in der Bevölkerung äußerst kritisch gesehen werden, ist dennoch offen, ob die Idee mit dem Friedensministerium wirklich ankommt und nicht doch lächerlich wirkt. Als vor einigen Jahren eine Online-Petition gestartet wurde, um die Bundesregierung zur Einrichtung eines derartigen Ministeriums aufzufordern, war die Reaktion sehr übersichtlich: Der Aufruf fand keinen einzigen Unterstützer.