Klischee olé in Neukölln: Wir probieren uns durch die Holly Gastrobar
Kahle Wände, Neonröhren, bunte Speisen: Holly sieht aus wie so ziemlich jede Neuköllner Gastrobar. Kann der Laden trotzdem etwas, was die anderen nicht können?

Neukölln, Naturwein und viel Fermentiertes auf der Karte. Ich fühlte mich bestätigt, als ich die Bilder der Holly Gastrobar im Netz sah: ein schlichter, minimalistischer Raum mit rohen Wänden, deren Putz hier und da abblättert. Tief hängende Leuchtröhren als Lampen und Teller auf hellgrauem Hintergrund fotografiert, damit die prächtigen Farben des gepickelten Gemüses umso mehr leuchten.
Auch von den Gastronomen fand ich ein schönes Bild: Ein lässiger Typ mit Bart, offensichtlich der Küchenchef, wie er an der Wand lehnt, ein angedeutetes schiefes Lächeln, ein Arm tätowiert. Unter den anderen hakt sich seine Partnerin ein, die Fernanda Befi heißt und in Brasilien geboren und in Italien aufgewachsen ist. Sie blickt ungeschminkt und supersympathisch in die Kamera.
Die klare Bildsprache erzählt mit wenigen Details eine Geschichte. Perfekt, um heute auf Instagram durchzustarten. Doch leider kann ich mir persönlich im Jahr 2022 kaum etwas gastronomisch Erwartbareres vorstellen als ein Paar mit internationaler Biografie, die eine Naturwein-Gastrobar aufmachen. In Neukölln.

Ich war mir sicher, die Holly Gastrobar wäre bestimmt sehr solide. Trotzdem zog mich nichts hin, weil ich dachte: Was soll ich dort Neues entdecken und beschreiben? Es wurde nicht besser, nachdem ich die Karte studiert hatte: Spitzkohl, las ich, Miso-Brühe, Garum. Alles wunderbare Sachen. Aber ob Barra, Beuster, Jaja, Otto, Konträr – mir fielen ein Duzend Namen von Gastrobars ein, in denen man so eine Küche essen kann.
Schon lange hat unsere Testerin keinen so gelungenen Abend mehr erlebt
Doch weil man gerade als Testerin gegen Vorurteile ankämpfen sollte, fuhr ich eines Abends doch in die Holly Gastrobar nach Neukölln. Ich wollte nicht der berufsbedingt gerade sehr modernen Haltung aufsitzen, ich wüsste schon alles, ohne es selbst gesehen und in meinem Fall auch probiert zu haben. Und mein Besuch dort ist der beste Beweis, wie falsch man ohne Gegencheck liegen kann.

Schon lange habe ich keinen so rundum gelungenen Abend erlebt. Und das lag nicht nur am überraschend anders schmeckenden Essen. Vor allem lag es an der guten Laune und der Herzlichkeit, die Gastgeberin Fernanda Befi versprüht. Mein Besuch in der Holly Gastrobar fühlte sich wie im Haus einer liebenswerten Familie an, in der der Papa auch noch ein talentierter Koch ist.
Gerade die Besitzerin und Sommelière sorgt für ausgezeichnete Stimmung
Fernanda Befi ist Wein- und Bier-Sommelière. Da ich keine Lust auf Naturwein hatte, sondern eher Durst wegen der Hitze, empfahl sie mir als süffigen Allesbegleiter das Thirsty Lady von der Berliner Brauerei Heidepeters, für die sie eine Zeit lang gearbeitet hatte. In ihrer wechselnden Bierauswahl konzentriert sich Befi auf kleinere Berliner Brauereien. Die Thirsty Lady ist ein Einsteigerbier für alle, die mal kein Lager trinken wollen. Ein erfrischendes Blond Ale, fruchtig bis würzig und nur leicht bitter im Abgang. Das passte hervorragend zum Schweinemett, das ich als Vorspeise aß.

Rindertatar kriegt man in Gastrobars ja häufig. Doch so ein feines, vom mageren Duroc-Schwein gewolftes Mett ist selten. Mit einem groben deutschen Zwiebel-Mettbrötchen hatte dieses hier gar nichts gemein. In die Würzung des großartigen Fleisches spielten Koriander und Chili-Noten hinein. Statt Brot gab es einen frittierten Chip aus französischem Fougasse. Besonders gut gefiel mir der an Cider erinnernde vergorene Apfel, den der Küchenchef Simon Guitard dazu kombiniert.
Die französische Prägung des Küchenchefs bleibt immer erkennbar
Simon Guitard hat sein Handwerk in Toulouse an einer renommierten Kochschule gelernt. Und weil es in Berlin wieder so modern ist, greift er gerne auf die alten Techniken wie Beizen, Brennen, Pökeln, Räuchern, Laktosegärung und Reifung zurück. Schön ist gerade, dass seine französische Prägung bei allen Gerichten erkennbar bleibt, denn Guitard vergisst nie die Sauce.

Beim Filet Mignon etwa besticht ein Rotwein-Knochenjus. Beim Spitzkohl, auf den ich eigentlich keine Lust hatte, eine Hefe-Weißwein-Buttersauce mit Karamellnoten. Schön auch, wie der Küchenchef den verbrannten Kohl anrichtet: wie eine Seerose aufgeblättert und seidig weich. Crunchiges kam vom gepoppten Buchweizen sowie Lauch – ähnliche Noten von einem Bärlauchöl. So buttrig-süß habe ich Spitzkohl noch nicht gegessen.
Im Gegensatz zu anderen Gastrobars sind die Teller großzügig bemessen
Sehr französisch war auch ein Brotzeitgang in der Mitte des Menüs: ein im Ofen gebackener Camembert aus der Normandie, unter den zuvor ein mit Riesling eingekochtes Zwiebel-Confit sowie eine Kürbis-Miso gehoben wurden. Ein mächtiger Gang, denn die Teller sind im Gegensatz zu manch anderer Gastrobar sehr großzügig bemessen.
Für die farbenfrohe Nachspeise blieb dennoch etwas Platz: Eine pastellgrüne Zuckerwatte, die wie eine Wolke auf einem sauren Brombeersorbet thronte und von einer süßen Erdbeersauce sowie einem salzigen Crumble begleitet wurde. Fernanda Befi hat sie kreiert, denn sie ist nicht nur Sommelière sondern auch ausgebildete Köchin. Unglaublich, diese Frau, die am Abend auch die Speisen servierte, während ihr neunmonatiges Baby vorne bei ihr im Tragegurt hing.
Die Geburt des gemeinsamen Sohnes fiel übrigens genau mit der Eröffnung ihres Restaurants zusammen. Den Kleinen haben sie Rio getauft. Wäre er ein Mädchen gewesen, wäre es eine Holly geworden. Also haben die beiden Gastronomen eben ihre Gastrobar so genannt. Ihr zweites Baby, das sie mit ebensolcher Hingabe schaukeln.
Preise: Vorspeisen 5–15 Euro; Hauptgerichte 24–29 Euro; Desserts 7–12 Euro; 4-Gang-Tasting Menü 55 Euro beziehungsweise vegetarisch 48 Euro.
Holly Gastrobar, Mainzer Straße 23, 12053 Berlin. Mittwoch bis Sonnabend 18.30–24 Uhr. info@hollyberlin.com, Tel.: +49 (030) 509 510 10, www.hollyberlin.com