Forsa-Chef Güllner zur Demoskopie: „Unzufriedene wählen nicht“
Berlin - Herr Güllner, in Berlin liegen die kleinen Parteien – AfD, Piraten, FDP – drei Wochen vor der Wahl zwischen vier und fünf Prozent. Ist das nur ein Hauptstadtphänomen oder auch ein Bundestrend?
Es ist beides. Es gibt viele Unzufriedene, die sich in den letzten Wochen eher an die kleinen Parteien halten, weil die Großen sie nicht mehr an sich binden können. Auch die Linkspartei profitiert inzwischen von einem sehr konsequenten Gerechtigkeitswahlkampf, der die SPD Stimmen kostet. Zehn Euro Mindestlohn klingt einfach besser als 8,50 Euro. In Berlin kommt hinzu, dass der Zustand der rot-schwarzen Koalition nicht optimal ist. Überragendes haben SPD und CDU jedenfalls nicht geleistet, und das nützt allen anderen.
Wie schätzen Sie das Potenzial der AfD ein? Kann sie über fünf Prozent kommen?
Das wird sich jetzt entscheiden. Die AfD hat ein hohes Potenzial bei Wählern, die weit rechts stehen und früher vielleicht die Schönhuber-Republikaner gewählt hätten. Wir können nur schwer voraussagen, wie viel Bewegung da noch drin ist, auch weil es – im Gegensatz etwa zu Anhängern der Piraten – eine hohe Dunkelziffer bei der AfD gibt.
Inwiefern?
AfD-Sympathisanten neigen zur Verschwörungstheorie. Sie sind sehr pessimistisch, von Zukunftsängsten und Abstiegssorgen geplagt und machen dafür andere verantwortlich: die etablierte Politik, den Euro, die Griechen, die Medien, auch Umfrageinstitute zählen dazu. Wir bekommen daher bei unseren telefonischen Interviews kaum brauchbare Antworten, weil wir für sie Teil der bösen Maschine sind.
In der Berlin-Umfrage sagen mehr als 80 Prozent der Menschen, der Wahlkampf sei wenig bis überhaupt nicht interessant. Woran liegt das?
Das darf man nicht als Desinteresse an Politik missinterpretieren. Richtig ist, dass es keine Wechselstimmung gibt. Kaum jemand zweifelt daran, dass Frau Merkel gewinnt und Rot-Grün verliert. Es gibt keine zugespitzte Lage wie 1998 am Ende der Regierungszeit von Helmut Kohl. Aber diejenigen, die den Wahlkampf unspannend finden, interessieren sich trotzdem für Politik. Sie sind allerdings unzufrieden mit dem bestehenden Angebot.
Das heißt, Merkels Agieren als Präsidentenkanzlerin ist genau die richtige Strategie für die Union?
Jedenfalls genau die richtige Strategie für Frau Merkel. Ihre Werte liegen weit über denen ihrer Partei, sie zieht die Union also hoch. Bei Steinbrück ist das nicht der Fall.
An der Frage, welche kleinen Parteien die Fünf-Prozent-Hürde schaffen, entscheidet sich doch auch die kommende Koalition.
Richtig. Das ist das eigentlich Spannende an dieser Wahl. Schafft es etwa die AfD in den Bundestag, wird es für Schwarz-Gelb wohl kaum reichen. Also sind die wahrscheinlichsten Optionen eine große Koalition oder Schwarz-Grün.
Sinkt die Wahlbeteiligung voraussichtlich wieder?
Das können wir per Umfrage nicht genau messen, weil viele Leute es uns nicht sagen, wenn sie nicht zur Wahl gehen wollen. Aber angesichts der Lage im Wahlkampf deutet einiges darauf hin.
Vielleicht sind viele auch einfach zufrieden mit ihrer Situation und gehen deshalb nicht zur Wahl?
Unsere Nichtwählerstudien bestätigen diese These überhaupt nicht. Es gibt keine Apathie aus Zufriedenheit. Wer nicht zur Wahl geht, ist unzufrieden über die Art und Weise, wie Politik gemacht wird.
Das Gespräch führte Jan Thomsen.