Frank Schätzing hat mit "Der Schwarm" das Buch des Jahres geschrieben, es ist seit Monaten ein Bestseller. Er erzählt vom Aufstand des Meeres: Die Prophezeiung

KÖLN, im Dezember. "Etwas kam ihr seltsam vor", schreibt Frank Schätzing auf der Seite 404 seines Romans "Der Schwarm". "Kies und Felsen erstreckten sich weiter ins Meer als gewöhnlich, trotz der hereinrollenden Wellen." Dieser Satz kündigt ein Inferno an. Ein Inferno, das sich den Weg aus der Fantasie in die Realität gebahnt hat. Seit dem vergangenen Sonntag weiß die Welt, was es bedeutet, wenn sich das Wasser von den Küsten zurückzieht. Es wird wiederkommen. "Der Tsunami, wo immer er entstanden war, breitete sich in diesem Augenblick ringförmig aus, wie es der Natur von Impulswellen entsprach", ist zu lesen. "Das Ungeheuer aus dem Meer kam an Land, um zu fressen, und wenn es sich zurückzog, nahm es seine Beute mit." Das Szenario, das vor ein paar Tagen noch als gut recherchierte Fiktion zwischen Buchdeckeln gefangen war, ist als Verheerung über die Menschheit gekommen. Eine jener Katastrophen, die man aus Filmen wie "The Day After Tomorrow" kennt, ist aus dem Schatten ihrer Inszenierung getreten. Statt Monsterwellen aus Hollywood sehen wir Amateuraufnahmen, die Furcht erregender als jeglicher Spezialeffekt sind. Die Bilder verschwimmen. Was Frank Schätzing in seinem Roman beschreibt, ist nicht länger der Stoff für Albträume, es ist passiert. "Fast alle Küstenstädte des umliegenden Festlands waren teilweise bis vollständig zerstört. Hunderttausende hatten ihr Leben verloren", heißt es dreiunddreißig Seiten später, nachdem die ersten Vorboten der Flut die Ufer erreicht hatten. Frank Schätzing, der als Autor zum Propheten des Unglücks geworden ist, hat sein Mobiltelefon in diesen Tagen ausgeschaltet. Der gewünschte Gesprächspartner ist vorübergehend nicht zu erreichen. Vor einer Woche bei einem Treffen in Köln hatte Frank Schätzing noch gesagt, er wolle bis Silvester ausspannen. Bloß Schlafen, Lesen, Kochen, Freunde treffen. "Es war eine verrückte Zeit, ein Jahr im Ausnahmezustand". Als Schriftsteller war er so erfolgreich wie noch nie.Er konnte nicht ahnen, welchen Klang das Wort Ausnahmezustand gewinnen würde. Er konnte nicht wissen, dass sein Roman von der Wirklichkeit eingeholt werden würde, wie man so sagt, ohne sich die Wirklichkeit vorstellen zu können.Sein Buch lässt ihn nicht zur Ruhe kommen. Für die jüngste Ausgabe der Wochenzeitung Die Zeit hat er einen Beitrag unter der Überschrift "Wir haben versagt!" geschrieben. Er kritisiert die Ignoranz, mit der die westliche Tourismusindustrie den latenten Gefahren in der Region begegnet ist. "Schief gelaufen ist, dass die Nationen, deren Bürger so gern ins freundliche, preiswerte Asien reisen, bislang nicht auf die Idee gekommen sind, den freundlichen Asiaten ein Tsunami Warning System zu spendieren, obwohl die dortige tektonische Dynamik hinreichend bekannt ist", schreibt Frank Schätzing. "Weit davon entfernt, schuld zu sein, folgt die Natur also ihren Gesetzen. Es wird Zeit unser Entsetzen auf die richtigen Adressaten zu lenken. Auf die Untätigen." Schätzings Buch komme wie ein Tsunami daher, hatte der Spiegel in seiner Kritik zum "Schwarm" befunden. Es war einmal eine Pointe.Seit genau zehn Monaten steht der Roman ununterbrochen an der Spitze der deutschen Bestsellerlisten, erfolgreicher war nur der Amerikaner Dan Brown mit "Sakrileg". Fast eine halbe Million Mal wurde "Der Schwarm" in Deutschland verkauft. Übersetzungen werden für nahezu alle europäischen Länder vorbereitet. Im kommenden Herbst erscheint "The Swarm" in den USA. Die Taz sprach von einem "brillant konstruierten Thriller" und der Literaturkritiker der Zeit empfahl, das Weltuntergangstraktat schnell zu lesen, "allein schon deshalb, weil man seinen Schlaf erst findet, wenn man mit hängender Zunge ins Ziel gekommen ist." Man kann es gar nicht anders sagen, Frank Schätzing hat das Buch des Jahres geschrieben. So unheimlich das heute klingt, da sich seine Schilderung eines Tsunami als Menetekel der Tragödie liest.Aber der Autor verliert sich nicht im Countdown einer unbegreifbaren Zerstörung. Er führt vor Augen, zu welchen Konsequenzen die fortschreitende Vernichtung eines weitgehend unerforschten Ökosystems führt. "Wir wissen heute weniger über die Tiefsee als über den Weltraum." Das ist seine These. Auf tausend Seiten entwirft Schätzing eine Schicksalsmär von biblischer Dimension, wie man es nennt, wenn die Menschheit in Gefahr gerät. "Ich haue am Anfang so richtig rein", sagt Schätzing über seine Arbeitsweise. "Ich sorge für Action. Im Prinzip schreibe ich einen Film auf, wie ich ihn im Kopf habe." Zuerst spielen die Wale vor der kanadischen Küste verrückt, plötzlich greifen sie Touristen in Ausflugsbooten an. In einem französischen Edelrestaurant zerplatzt ein giftspritzender Hummer auf dem Tisch. Die australischen Strände werden von einer Quallenplage heimgesucht. In Long Island bevölkern Millionen Krabben das Ufer. Schätzings Erzählung folgt einer klaren Idee. Das Meer, seit Jahrzehnten von seinen Anrainern, besonders in den Industrieländern, als Kloake und Beutegrund missbraucht, schlägt zurück. Die Natur erhebt sich gegen den Menschen. Jenes Beben, das im Roman die Welle auslöst, wird von Tiefseewürmern verursacht. Sein Epizentrum liegt im Nordatlantik. Weil sich die Literatur im Unterschied zur Natur einer Moral verpflichtet sieht, sind bei Schätzing die reichen Nationen dem Untergang geweiht. Sie werden für ihre Hybris gestraft. Die Flut im Indischen Ozean hat vor allem die Ärmsten in den Tod gerissen. Naturgewalten kennen Kategorien wie Schuld und Sühne nicht. Frank Schätzing aber nimmt auch moralische Überlegungen auf, wenn er nach der Katastrophe in der "Zeit" schreibt: "Angesichts der schrecklichen Bilder muss uns die Frage quälen, wann wir - die industralisierten, wohlhabenden und politisch stabilen Nationen - endlich beginnen, Verantwortung zu übernehmen für die Welt 'da unten' oder 'dahinten'."Schätzing, siebenundvierzig Jahre alt, Teilhaber einer Werbeagentur in Köln, hat drei Jahre lang recherchiert für das Buch, ein Jahr am Manuskript geschrieben, meistens nachts oder an den Wochenenden. Er hat das Cover entworfen, eine Werbestrategie entwickelt und den Roman den Buchhändlern ans Herz gelegt. Dennoch glaubte er nie, dass man einen schriftstellerischen Erfolg planen kann. "Wer kalt kalkuliert, also bloß schreibt, wovon er annimmt, dass es gerade in die Zeit passt, kommt nicht weit", hat er noch vor einer Woche in Köln gesagt. Andererseits sagte er aber auch: "Während ich am ,Schwarm' gearbeitet habe, war ich ein bisschen nervös. Ich wusste nicht, was Michael Crichton machen würde. Wenn einer hingeht und sich die Tiefsee vornimmt, dann er, habe ich gedacht. Eigentlich müsste der von selbst darauf kommen." Aber er kam nicht drauf. Michael Crichton hat zunächst über Nanotechnologie geschrieben. Erst in seinem neuen Buch "Welt in Angst", das vor wenigen Wochen in den USA erschien und im Januar auf Deutsch herauskommt, ist auch Crichton auf das Thema der Flutwelle gekommen. Bei ihm rollt ein Tsunami auf Nordamerika zu. Der literarische Seiteneinsteiger Schätzing, der bis vor kurzem noch für einen lokalen Verlag Kölner Krimis schrieb, weiß um die Konkurrenz mit dem Weltmeister des Wissenschaftsthrillers. Und Schätzing, der auf seinen Autorenfotos etwas spektakulärer wirkt als im Leben, lässt sich auch gerne mit Crichton vergleichen, dem Autor von "Jurassic Park", "Twister" und einem Dutzend weiterer Bestseller. Als Vorbild würde Schätzing den Amerikaner Crichton jedoch nicht bezeichnen. "Vorbilder habe ich keine. Wenn man ein zweiter Soundso ist, ist man nicht mehr der Erste." Es sieht so aus, als sei Schätzing selbst von seinem Erfolg am wenigsten verblüfft worden. Er hatte wohl damit gerechnet. Für ihn ist es normal, dass sich ein Agent in Los Angeles um das Geschäft mit den Filmrechten an dem Thriller kümmert. "Wir haben uns den Mann einfach geleistet. Der vertritt Julia Roberts, Michael Douglas, Peter Jackson. Das ist die erste Liga. Wir erwarten ja auch eine Verfilmung in der ersten Liga, das geht gar nicht anders." Als Hauptdarsteller könne er sich George Clooney und Lucy Liu vorstellen. Heute muss man sich allerdings fragen, ob man sich noch einen verfilmten Tsunami vorstellen möchte. Bisher hat das Buch, das Schätzings Leben wohl eine neue Richtung geben wird, dieses Leben noch nicht groß verändert. Mit seinen engen Bluejeans, der kurze Lederjacke und den schwarzen Stiefeln mag Frank Schätzing auf den ersten Blick wie ein ergrauter Rockstar wirken. Wenn er über Methanhydrate auf dem Meeresboden, Stabilitätsfenster und die DNA bei Einzellern doziert, verflüchtigt sich dieser Eindruck einer Leichtfertigkeit sofort. Er weiß genau, welche Wirkung er erzielen will, er hat Kommunikationswissenschaft studiert.Rockstar wäre er gern geworden, er macht selbst Musik, betreibt ein eigenes Studio, in dem er momentan an einer Sinfonie über das Meer arbeitet. Schätzing verehrt David Bowie, dessen Wandlungsfähigkeit ihn fasziniert. "Am erfolgreichsten sind die Leute, die immer exakt das Gleiche machen oder immer wieder etwas völlig anderes." Er hat sich für Letzteres entschieden.Schätzing arbeitet bereits an einem neuen Roman, dessen Thema er nicht einmal ansatzweise nennt. Er weiß, wie wichtig dieses zweite große Buch für ihn sein wird. Das ist wie im Pop, das schwierige zweite Album nach einem Hit. Alle Welt erwartet etwas Großartiges. "Man darf keinen Murks schreiben", sagt er. "Wenn der zweite Roman die Erwartungen erfüllt, ist das Eis komplett gebrochen." Womöglich wird sich das neue Buch nicht um die Luftfahrt drehen, denn Schätzing leidet unter enormer Flugangst. Das könnte die Recherche erschweren. Die Idee, die er nicht verrät, kann Gold wert sein. Frank Schätzing ist jetzt ein Bücherstar. Thriller, wie er sie schreibt, haben Konjunktur. Wer liest, sehnt sich nach Fakten. Die Entwicklung der Wissenschaften und die Globalisierung des Lebens werfen Fragen auf, die Antwort suchen. Je weiter der Horizont , desto unüberschaubarer wird die Welt. Die Ahnung, dass alles mit allem zusammenhängt, weckt den Wunsch nach Autoren, die diese Zusammenhänge beschreiben und Phänomene erklären. Der Trend zum Sachbuch hat längst die Belletristik errreicht. Und genau genommen ist "Der Schwarm" ein solches modernes Sachbuch, ein von Spannungsfäden durchzogenes Kompendium über die Welt des Ozeans, seine Biologie, Geologie, Tektonik und über die Lebewesen, die sie bewohnen. Das Interesse an diesem Roman dürfte jetzt noch größer werden. Weit davon entfernt, schuld zu sein, folgt auch der Buchmarkt seinen Gesetzen. Vielleicht kann ja so ein Text tatsächlich dazu beitragen, zumindest den Respekt vor einem komplexen Ökosystem wie dem Weltmeer zu befördern. Neunzig Prozent dessen, was in seinem Buch steht, sei in der Realität vorstellbar, sagte Schätzing. Sein Material habe er in jahrelanger Recherche gewonnen, neben seiner Arbeit in der Werbeagentur. "Das Internet eröffnet mir riesige Möglichkeiten. Mein bester Freund heißt Google." Er korrespondierte mit Forschungsinstituten in aller Welt. In einem Dutzend Aktenordner ist alles versammelt, was er über das Meer weiß. Auf Interviews mit Wissenschaftlern, die er konsultierte, hat er sich gezielt vorbereitet. "Ich entwickle Szenarien und will von den Experten erfahren, wie weit man die akademischen Erkenntnisse ins Potenzielle stretchen kann." In Potenzielle stretchen - das bedeutet, die Vorstellungskraft zu dehnen, eine Möglichkeit zur Tatsache zu erklären. Dass ein Tsunami mehr als hunderttausend Opfer fordern könnte, war eine wohl begründete Hypothese, mehr nicht. In Wissenschaftsromanen sorgen kleine Verschiebungen im Koordinatensystem der gesicherten Erkenntnis für Wirkungen, die man Science Fiction kaum nennen kann, eher vorweggenommene Wirklichkeit. Geologen wissen, dass die Vulkane der kanarischen Inseln in den vergangenen zwei Millionen Jahren zwölf Mal an ihren Flanken ins Rutschen gerieten und Flutwellen verursachten. Würde das heute geschehen, wären nicht nur Westafrika und Südeuropa bedroht, sondern auch die Städte an der amerikanischen Ostküste. Es wird geschehen, aber vielleicht erst in tausend Jahren. "Um New York auszulöschen", schreibt Schätzing in seinem Roman, "reichen 50 Meter". Er glaube nicht an Gott, hatte Frank Schätzing vor einer Woche gesagt, sondern an die Natur. Dann kam der Sonntag. Auch der Glaube an die Natur kann den Menschen auf eine harte Probe stellen. ------------------------------"Wir wissen heute weniger über die Tiefsee, als über den Weltraum."Frank Schätzing------------------------------"Fast alle Küstenstädte des umliegenden Festlands waren teilweise bis vollständig zerstört. Hunderttausende hatten ihr Leben verloren."Aus dem Roman "Der Schwarm"------------------------------Foto: Frank Schätzing, Autor des Romans "Der Schwarm". Sein Öko-Thriller verkaufte sich im zurückliegenden Jahr vierhunderfünfzigtausend Mal.