Fröhliche Geschlechterwissenschaft bietet "Wiener Blut" am Hebbel-Theater: Immerfort kleine Hände küssen

Eigentlich will man es nicht mehr hören, das Triefig-Gemütliche im Dreivierteltakt: "Wiehner Bluut, Wiehner Bluut", schuh-schu-schuuh, schu-schu-schuuh, schu-schu-schuuh . Unerbittlich verstaubt wirkt die schlüpfrige Operetten-Geschichte, die die Librettisten Viktor Léon und Leo Stein zur Zeit des Wiener Kongresses ansiedelten: Ein Graf aus dem offenbar spaßfreien thüringischen Kleinstaat Reuß-Schleiz-Greiz lernt so um 1815 herum die sündige Wiener Sinnlichkeit kennen und flattert prompt zwischen einer Tänzerin und einer Probiermamsell hin und her, dieweil die Gattin zum Kontrollbesuch angelangt ist. "Das innenpolitische Ergebnis der Liebesquerelen", so fasst es das unentbehrliche Operetten-Handbuch von Volker Klotz zusammen, "ähnelt jenem des Wiener Kongresses: Restauration der alten Verhältnisse, mit unerheblichem scheinfreiheitlichen Schlenker." Und Klotz beklagt den "aufdringlichen Lokalnarzissmus" und "übergemütlichen Heimatkitsch" des Werks. So weit, so unausstehlich. Wäre da nicht die Musik von Johann Strauß Sohn, die schmeichelnden Walzer und feschen Polkas, die Adolf Müller der Jüngere mit Genehmigung des siechen Meisters 1899 für das Stück adaptierte und posthum zur Uraufführung brachte: eine Musik von wahrer Klassizität, die - richtig gespielt - zum Geschmackssichersten, ja Vollendetsten des späten 19. Jahrhunderts gezählt werden muss. Was tun? Als Museumsstück behandeln?Die Produktion von "Wiener Blut" am Hebbel-Theater, inszeniert von Cordula Däuper, hat einen anderen Weg gewählt, und es ist ein ganz entzückender Abend geworden. Natürlich fürchtet man sich ein bisschen, wenn man hört, dass die Hauptrollen allesamt mit Frauen besetzt sind und dann auch noch ein Judith-Butler-Zitat über "die heterosexuelle Matrix der Geschlechterrollen" als einzige Information im Programmheft findet. Das klingt doch freudlos, nach Reuß-Schleiz-Greiz gewissermaßen. Nichts gegen das schöne Thüringen! Aber wenn sie versuchen, den Namen "Reuß-Schleiz-Greiz" auszusprechen, werden der Graf (Mariel Jana Supka) und die Gräfin (Verena Unbehaun) von reflexartigem Würgereiz befallen, so öde muss es dort zugehen. Und wenn der Minister (mit großartig rollendem R: Sandra Maria Schöner) ins Fettnäpfchen getreten ist (er hat die Tänzerin mit der Gattin verwechselt), schilt er sich: "Das war nicht politisch,/ Auch nicht diplomatisch,/ Das war so Duodez-,/ Das war so klein-staatisch!" Das wahre Leben ist anderswo, nämlich in Wien, das sich aber auch stark verändert hat und jetzt ziemlich nah am Halleschen Ufer liegt. Wie sich die Körper, Texte und, ja, die "heterosexuelle Matrix der Geschlechterrollen" verheddern, das ist ausgesprochen lustig, es ist fröhlichste Geschlechterwissenschaft.Da stiefelt Nadja Petri als Tänzerin Franzi in Pelz und Strapsen über die Bühne und kann bei Bedarf so intelligent gucken wie eine Aufblas-Sexpuppe. Da tänzelt Verena Unbehaun in der Ballrobe mit einer virtuosen Ungelenkigkeit, als wäre sie falsch zusammengeschraubt worden. Mit Geschlechterinsignien wird gespielt: Ein Schnurrbart wird lebendig und beginnt mit Fräulein Kopfputz zu dialogisieren. Und da wir schon beim Schnurrbart sind: Der von Mariel Jana Supka fällt ohnehin mit schöner Regelmäßigkeit ab, worauf der Graf beschließt, während er davon singt, immer kleine Hände küssen zu müssen und so weiter, seine eigene Frau zu werden: Er malt sich die Lippen rot und schmust mit einer Federboa. Im Übrigen sind die Damen alle, auch Katharina Haindl als Josef und Cathrin Romeis als Pepi, zum Fressen süß, auch wenn nur Petri und Unbehaun wirklich singen können.Ebenso witzig sind die Verfremdungseffekte des Arrangements für Instrumental-Quartett von Tobias Schwencke. Dass der eine oder andere Gag ein bisschen überdehnt wird und manche Kreischaktion dann doch aus dem Volksbühnenfundus kommt, kann man hinnehmen. Denn insgesamt gelingt es dem Abend bis hin zum wahrhaft himmlischen Schlussbild, die Liebe zur Operette in all ihrer Widersprüchlichkeit zu wahren. So dass man auch am nächsten Tag noch ohne schlechtes Gewissen vor sich hinsummen kann: "Wiehner Bluut, Wiehner Bluut, schuh-schu-schuuh, schu-schu-schuuh, schu-schu-schuuh ."Nochmals heute und morgen, Hebbel-Theater, 19.30 Uhr.------------------------------Foto: Es handelt sich um neue Unterwäsche: Verena Unbehaun als Gräfin (l.) und Mariel Jana Supka als Graf.