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In der Rue Bonaparte, die von den ehemaligen Cafés der Existenzialisten zum Jardin du Luxembourg führt, bildet sich vor der Hausnummer 72 immer wieder eine Menschenschlange. Von weitem erkennt man nur vier gelbe, quadratische Vitrinen in einem minimalistisch gestalteten Schaufenster und vermutet einen Juwelier. Betritt man das von einem Designer ausgestattete Geschäft, entdeckt man auf einer sich entlang der gesamten Längsseite erstreckenden, schmalen Verkaufstheke essbare Schmuckstücke. Hinter Glas werden Pâtisserie-Kreationen angeboten, die in ihrer ästhetischen Perfektion eher an Food-Fotografie als an echten Kuchen erinnern: Eine glasierte, knallrote Kirsche samt Stiel ruht auf einem von Milchschokolade überzogenen Turm mit dreieckigem Grundriss (für sechs bis acht Personen, 70 Euro). Dünne, eckige Schokoladenblätter bedecken eine Halbkugel. Eine Dekoration aus Goldblättchen ist in das makellose Rechteck aus dunklem Schokoladenkuchen eingelassen. Tiefblaue Blütenblätter von Stiefmütterchen wurden auf gelbe Torten gestreut. Und auf kleinen, rosigen Makronentörtchen liegen jeweils eine Himbeere und ein dunkelrotes Rosenblatt mit einem aus Zucker imitierten Wassertröpfchen (für eine Person, 6 Euro). Kostet man von jener Rosenmakrone, erschließt sich einem die Sinnes-Euphorie der vor dem Geschäft Wartenden und man versteht plötzlich, warum sie die Kuchenkunstwerke tatsächlich als "Juwelen" bezeichnen und sich darüber austauschen, wo sie in Paris wieder ein schlechtes Plagiat von ihnen gesichtet hätten. Zwischen dem rosa Makronenboden und -hütchen grenzen ganze Himbeeren eine von Litschistücken durchzogene Rosenblätter-Creme ein. Die Süße der Makronen wird von der Säure der Himbeeren gebrochen, von der fruchtigen Frische der Litschis wieder ausgeglichen und von der aromatischen Rosenblätter-Creme abgerundet. Schließlich vollenden Duft und Geschmack des samtenen Blütenblattes der Rose die Geschmackssymphonie. Der Schöpfer dieser Kuchenkomposition, Pierre Hermé, wird als Bäcker der Sinne bezeichnet. Er gilt als einer der kreativsten und erfolgreichsten Pâtissiers von Paris. Nichts überlässt er dem Zufall. Sorgfältig tariert er das Ensemble der Zutaten, Temperatur, Stofflichkeit und Reihenfolge aus. Er spielt mit unterschiedlichen Geschmacksnuancen, die sich gegenseitig ausgleichen, ergänzen oder verändern. Nichts ist überflüssig. Schwere, überladene Torten-Dekorationen lehnt er ab. Stattdessen beruft er sich auf die "Architektur des Geschmacks". Er verziert nur dann eine Kreation mit einem Minz- oder Rosenblatt, wenn dieses Blättchen im Geschmacksbouquet eine konkrete Funktion übernimmt. Sonst verzichtet er lieber darauf.Der zurückhaltend wirkende 42-Jährige versteht die Pâtisserie als "Kunst, mit der er sich und seine Sensibilität ausdrücken kann". Wie selbstverständlich erläutert er, dass sich die Empfindsamkeit auf seinen Gaumen bezieht. Alle Duft- und Geschmackserfahrungen prägen sich seiner Erinnerung ein. Um seinen Gaumen zu schulen, probiert er alles. Er interessiert sich genauso für Maulbeer- oder Rosenmarmelade, die ihm gerade eine Freundin aus dem Nahen Osten mitgebracht hat, wie für Snickers- oder Mars-Schokoriegel aus dem Supermarkt.Pierre Hermé spricht auffallend ruhig: "Man kann nicht sagen, ich esse nur Delikatessen." Mit Neugierde aß er eine aus Syrien stammende Art Schnur, in die Haselnüsse eingearbeitet waren. Das sei wirklich nicht überwältigend gewesen, aber selbst nicht gut schmeckende Produkte trügen zur Verfeinerung seines Geschmackssinnes bei.Pierre Hermés Kreationen entstehen im Kopf, bevor er sie später in seiner Backstube, die er "laboratoire" oder "atelier" nennt, ausprobiert. Als Erstes denkt er das Zusammenspiel verschiedener Ingredienzen und Stofflichkeiten durch. Wie ein Modeschöpfer zeichnet er seine Entwürfe auf Papier. Zweimal jährlich gibt er unter einem bestimmten Thema eine neue Kollektion heraus. Diese Frühling/Sommer und Herbst/Winter Kollektionen führte er schon vor Jahren als Chefpâtissier des alteingesessenen Traditionshauses "Fauchon" ein. In einem über seinem Geschäft gelegenen Büro holt er einen Aktenordner hervor. Er blättert in Skizzen von Torten, Törtchen und mehrschichtigen Desserts und spricht begeistert über die Wechselwirkung einzelner Zutaten. Eine Zeit lang arbeitete er auch mit einem Chemiker zusammen, um die Geheimnisse der Zuckerbäckerei zu erforschen. Doch der Experte der Molekulargastronomie konnte ihm keine eindeutigen Erklärungen geben. Er deutet auf eine andere Zeichnung. Diese Torte habe er für eine französische Parfummarke kreiert. Manchmal wird er beauftragt, für Werbe-Events neuer Parfums ein Dessert oder eine Torte zu gestalten. Den Duft setzt er dann sowohl in Geschmack als auch in Textur um. Die nach Vanille duftende Tonkabohne, die zu den Grundnoten vieler traditioneller Parfums zählt, kann er mit ihrem charakteristischen Vanillegeruch für die Pâtisserie übernehmen. "Kann ich einen Parfumgrundstoff nicht verwenden, so transponiere ich den Geruch in Geschmack. Das ist dann meine freie Interpretation."Pierre Hermé blättert weiter und zeigt auf den Entwurf der spektakulären Rosenmakrone in Tortenform. Benannt ist sie nach der persischen Stadt und Rosenart Ispahan. Er lieferte diese Kreation für einen Empfang, bei dem Farah Diba ihre Biografie präsentierte. Die im Pariser Exil lebenden Witwe des Schahs ließ ihm daraufhin ihr Buch schicken und rief ihn an. Als sie seinen Kuchen gekostet habe, sei sie in ihre iranische Vergangenheit zurückversetzt worden. Sie wünsche ihm, dass er eines Tages diese wunderbare Stadt besichtigen könne. Das Telefon läutet. Aus dem Geschäft wird ein Anruf durchgestellt. Pierre Hermé fängt in aller Ruhe an, ein Feigen-Birnen-Rezept zu erklären. Zwischendurch wiederholt er: "Ja, das wird ihr Haus sehr parfümieren." Als er auflegt, sagt er: "Da hatte jemand ein Rezept von mir nicht verstanden." Wenn man Pierre Hermé bittet, backenden Laien einen allgemeinen Rat zu geben, zögert er nicht eine Sekunde: "Man muss ein Rezept lesen, detailliert lesen, sich die verschiedenen Arbeitsschritte einprägen und möglicherweise notieren. Das erste Mal sollte man es wirklich befolgen. Erst nachdem es einem einmal gelungen ist, kann man Variationen probieren. Nur nicht gleich mit Interpretationen beginnen."Sein ,savoir faire erlangte Pierre Hermé beim großen Pâtissier Gaston Lenôtre, der "mein Meister war und mein Freund geblieben ist". Mit vierzehn Jahren kam er als Lehrling nach Paris. "Mein erstes Gehalt müssen umgerechnet ungefähr 40 Euro gewesen sein. Meine Eltern und meine Großmutter gaben mir jeder etwas dazu. Auch wenn das Zimmer im achten Stock, ohne Aufzug, gestellt wurde, war das nicht viel, um in der Hauptstadt zu leben. Ich dachte nur an die Pâtisserie." Morgens stand er um 3 Uhr 45 auf. Ein Bus nahm ihn um 4 Uhr 30 mit. Um fünf Uhr begann die Arbeit. Sobald Pierre Hermé einen freien Tag in der Backstube hatte, ging er in Lenôtres Küche, um kochen zu lernen. Es sei utopisch zu denken, dass man einen Beruf beherrschen könne, ohne viel zu arbeiten." In Marcel Proust rief die Madeleine, das einfache Teegebäck, eine vergessene Kindheitserinnerung hervor. Fragt man Pierre Hermé, ob auch er mit seiner Kindheit einen bestimmten Kuchen verbinde, nennt er "die Pflaumentorte". Sein Vater Georges, selbst Pâtissier in Colmar, habe sie oft gebacken und er sei als Junge in den Obstgarten gegangen, um die Pflaumen zu pflücken. Pierre Hermé entstammte einer seit vier Generationen tätigen Konditorfamilie aus dem Elsass. So ist ihm die den Franzosen unbekannte deutsche Weihnachtsbäckerei ein Begriff. Er schätzt "Weihnachtsbaumanhänger aus Sandgebäck und Gewürzbrot, die Sterne, diese Zimtsterne, und die kleinen Häuser", unter der Bedingung, dass beim Backen Qualitätsprodukte verarbeitet werden. An Weihnachtsgebäck finden sich in seinem Geschäft nur Baseler Leckerlis - allerdings das ganze Jahr lang. In der Adventszeit fertigt er einen von Marzipan überzogenen Stollen mit kandierten und getrockneten Früchten an. Das Rezept habe er aus der Hauptstadt des Marzipans in Norddeutschland. Fragt man Pierre Hermé, was er im Allgemeinen von deutscher Konditorei hält, weicht er zunächst geniert aus: "Oh jee, ich kann nicht sagen, was ich denke." In Deutschland sei man oft zu traditionell und bereite seit Jahren die gleichen Sahnetorten zu. In deutschen Backstuben verwende man zu oft Fertig- oder Ersatzprodukte. Oft benutze man Margarine statt Butter. In Österreich, wo er den Strudel noch gelten lässt, kann er der Sachertorte nichts abgewinnen. "Die ist schlecht, sehr schlecht. Zwar angenehm zu essen, süß und schokoladig, doch vom Geschmack her ekelhaft."Pierre Hermé ist Träger zweier französischer Orden: des Ritterordens der Künste und Literatur sowie des Ordens der Verdienste um die Landwirtschaft. "Die Kreation von Torten beinhaltet eine künstlerische Dimension", sagt er, "und ich habe auch zahlreiche Bücher geschrieben." Dessert- und Backbücher. Die internationale Presse überschüttet ihn regelmäßig mit Lobeshymnen: Er sei der Star der Zuckerbäckerei, der Picasso der Pâtisserie, der Paganini der Desserts... In Amerika ist Pierre Hermé Botschafter beim "Culinary Institute of America" und Berater der auf Feinkost spezialisierten Ladenkette "Wegmans Food Market", in Frankreich Mitglied der "Académie Culinaire", sowie elitärer Schokoladen- und Tee-Clubs. Zudem lehrt er an der Fachhochschule für Pâtisserie und der "Fondation Escoffier". Neben seinem vor drei Jahren eröffneten Pariser Geschäft gibt es in Tokyo sowohl einen Pierre Hermé Teesalon als auch seit 1998 eine Niederlassung im Luxushotel "New Otani".Obwohl der König der Konditorei überaus beschäftigt und gesellschaftlich äußerst eingebunden ist, wirkt er entspannt und zufrieden. "Ich bin ruhig, aber sehr organisiert. Das ist mein germanischer oder elsässischer Charakterzug." Wenn die Torten und Törtchen im Geschäft so liegen, wie sie zu liegen haben, dann kann er sich jeden Tag neu darüber freuen. Zum Abschied sagt Pierre Hermé unvermittelt, sein Lieblingsausdruck auf Deutsch sei übrigens: "Es ist die Hölle los!"SOCREPA, GRANT SYMON Begehrte Kunstwerke: eine der Kreationen von Pierre Hermé.