Gedenkstätte Yad Vashem: Überlebenszeichen aus Auschwitz

Jerusalem - Es sind knappe Texte, kurz und eher im lakonischen Ton gehalten. „Ich habe überlebt, aber die meisten aus unserem Dorf sind tot“, lautet einer der Sätze, der so oder ähnlich in vielen Briefen von Auschwitz-Überlebenden vorkommt. Die Befreiung durch die Rote Armee am 27. Januar vor siebzig Jahren bietet ihnen erste Gelegenheit, Angehörigen ein Lebenszeichen zukommen zu lassen. Zu mehr fehlt nach der durchlittenen, schier unendlichen Zeit in den Konzentrations- und Vernichtungslagern die Kraft. „Ich bin noch nicht in der Lage zu schreiben, wie es uns ergangen ist, vielleicht im nächsten Brief“, heißt ein anderer, wiederkehrender Satz.

Oft sind Namenslisten angehängt, berichtet Iael Nidam-Orvieto, die Direktorin der Internationalen Forschungsabteilung in Yad Vashem. Manchmal seien sie versehen mit Bemerkungen wie: „Bitte sagt Herrn Soundso, dass sein Bruder noch lebt.“ Iael Nidam-Orvieto arbeitet derzeit daran, aus Briefen, die Holocaust-Überlebende unmittelbar nach Kriegsende geschrieben haben, ein Buch zu machen.

Auch Schreiben, in denen amerikanische und britische Soldaten die Verhältnisse in den von ihnen befreiten Lagern schildern, sollen hinein. „Ihr könnt ruhig glauben, was ihr über die KZ gehört habt, es ist alles wahr“, werde darin immer wieder versichert, berichtet die Wissenschaftlerin.

Gerüchte über den Massenmord an den Juden waren bis dahin oft als Hirngespinste abgetan worden. Sie sprengten die Vorstellungskraft. Selbst in der jüdischen Gemeinschaft wurden vor 1945 Berichte über die Existenz von Gaskammern und Todeskommandos angezweifelt.

Dieses Phänomen hat die israelische Schriftstellerin Shulamith Hareven in der Novelle „Der Zeuge“ aufgegriffen. Die Hauptperson ist Schlomek, ein jüdischer Junge aus Polen, dem Partisanen zur Flucht verholfen haben. Schlomek kommt während des Zweiten Weltkriegs in eine Schule in Palästina und wird wegen seiner Schilderungen von NS-Verbrechen von den Mitschülern geschnitten. Die Kinder und der Lehrer finden, Schlomek übertreibe maßlos mit seinen Berichten, der Vater sei aufgehängt und seine Mutter und Brüder seien erschossen worden, als sie hinausgingen, um Brot zu erbitten. „Zwischen einer Information und dem inhaltlichen Begreifen ist ein großer Unterschied, wenn etwas nicht ins eigene Bild passt“, sagt Iael Nidam-Orvieto. Doch der 27. Januar 1945 markiert eine Zäsur, bringt die ungeheuerliche Wahrheit ans Licht.

Am Tag der Befreiung sind nur noch wenige Häftlinge in Auschwitz, viele sind angesichts der näher rückenden Sowjettruppen auf Todesmärsche Richtung Westen geschickt worden. Viele Überlebende sterben an den Folgen von Entbehrung, Krankheit und Unterernährung. Die Zeit der Pein ist noch nicht zu Ende, geht aus den Briefen der Befreiten hervor. Aber man erfährt auch von ihren ersten Schritten in ein neues Leben. Es fühle sich so gut an, wieder als menschliches Wesen behandelt zu werden, schreibt etwa ein Mädchen einem Jugendfreund.

Einige ehemalige Häftlinge machen sich unter dem noch frischen Eindruck der Verfolgung daran, das Erlebte zu dokumentieren. Einer notiert zynische Sprüche, die in der Hölle von Auschwitz kursierten. „Wir werden alle in einem Stück Seife enden“, gibt die Wissenschaftlerin ein Zitat wieder.

In verschiedenen Initiativen, die Überlebende ergreifen, werden Tausende Zeugen interviewt. „Wir haben jahrelang geglaubt“, so die Holocaust-Forscherin, „dass die Überlebenden still blieben und die Gesellschaft sie auch nicht hören wollte. Jetzt erkennen wir, dass das so nicht stimmt.“ Dazu beigetragen hat das Projekt „Fragmente sammeln“, zudem Yad Vashem vor wenigen Jahren aufgerufen hat. Enkel brachten Notizen ihrer Großeltern, die sie beim Aufräumen im Keller fanden. Unschätzbares Material kam zusammen.

Wunsch nach Normalität

Nach der Rückkehr in den Alltag hatten die Überlebenden allerdings vieles verschwiegen. Sie wollten sich nicht von ihren horrenden Erfahrungen überwältigen lassen. Eine Familie gründen, Fuß fassen in einem normalen Leben hatte Vorrang, individuell und auch in der israelischen Gesellschaft, die ein Land aufbaute.

Die Konfrontation mit der Vergangenheit geschah eher kollektiv und in Wellen, die der Eichmann-Prozess 1961 und die Filme über die Shoah in den Achtzigerjahren auslösten. Aber die Briefe der Überlebenden von Auschwitz und ihrer Befreier liefern die ersten, vielstimmigen und unwiderlegbaren Zeugenaussagen zum Holocaust.