Gert Schramm überlebte als jüngster dunkelhäutiger Häftling Buchenwald - heute lebt er in Eberswalde: Nummer 49489

EBERSWALDE. Die tiefe Narbe unter dem weißen Haarkranz von Gert Schramm ist nicht zu sehen. Aber zu fühlen. Ein Metallsplitter hatte sich über dem rechten Ohr in die Schädeldecke gebohrt. Fast 67 Jahre ist das jetzt her. Gert Schramm war bei einem Fliegerangriff auf dem Ettersberg bei Weimar verschüttet worden. "Ich dachte damals, das war's, das überlebst du nicht", erzählt Schramm von diesem Tag im August 1944.Dabei musste Gert Schramm damals jeden Morgen damit rechnen, den Abend nicht mehr zu erleben. Schramm war Häftling im Konzentrationslager Buchenwald, in dem 56000 Männer, Frauen und Kinder ermordet wurden. Hier wurde aus jedem Menschen eine Nummer, aus Gert Schramm die 49489. Das rote Dreieck am Drillich machte ihn zu einem politischen Gefangenen.Doch nicht wegen seiner politischen Einstellung wurde Schramm , damals erst 15 Jahre alt, ins KZ deportiert. Es war wegen seiner Hautfarbe. Für die Nazis war er ein "Negermischling 1. Grades" mit "kaffeebrauner" Hautfarbe, so steht es in seiner Häftlingspersonalkartei. Schramm war der jüngste dunkelhäutige Häftling in Buchenwald, einem Ort, an dem es tödlich war, den SS-Schergen aufzufallen. "Es war nicht leicht, mit meiner Hautfarbe unentdeckt zu bleiben", sagt er heute.Der Vater kommt nach AuschwitzGert Schramm sitzt in seinem Wohnzimmer in Eberswalde (Barnim) und blättert in einem Buch. "Wer hat Angst vorm schwarzen Mann. Mein Leben in Deutschland", heißt es. Zwei Jahre hat Schramm daran geschrieben. Es erzählt von seinem Überlebenskampf im KZ, vom Neubeginn als Bergmann in Westdeutschland und Frankreich, von der Rückkehr in die DDR. Heute wird Gert Schramm sein Buch auf der Leipziger Buchmesse vorstellen."Zwei Gründe gab es, dieses Buch zu schreiben", sagt er. Er hatte als Rentner endlich Zeit, und er wollte etwas tun gegen das Wiedererstarken der Nazis. Es hat auch etwas mit seiner Heimatstadt zu tun, in der er seit 1964 wohnt. In Eberswalde wurde 1990 der Angolaner Amadeu Antonio von Neonazis zu Tode geprügelt. "Die Stadt ist nicht mehr so wie damals", sagt Schramm. Er lebe heute gerne hier.Schramm wurde 1928 in Erfurt geboren. Sein Vater stammte aus Kalifornien. Er kam als Vertragsarbeiter nach Thüringen, half beim Bau einer Brücke und fuhr dann wieder nach Hause. 1943 kehrt er nach Deutschland zurück, um Schramms Mutter zu heiraten - es war sein Todesurteil. Die Spur des Vaters verlor sich in Auschwitz.Gert Schramm wuchs bei der Großmutter auf. "Glücklich in einem erzkatholischen Dorf", wie er sagt. "Ich war nicht katholisch, ich war nicht weiß, aber ich gehörte dazu", erzählt er über Witterda in Thüringen. Mit einem Schulleiter, der den Kindern die Rassengesetze einpauken wollte, änderte sich das. "Der wollte mich weghaben, der hat mich drangsaliert und geprügelt", sagt Schramm. Nach acht Schuljahren durfte er wegen seiner Hautfarbe keinen Beruf erlernen. Er kam als Hilfsarbeiter in einer Autowerkstatt in Langensalza unter.Dort wurde er 1943 verhaftet. "Ich wusste nicht, warum?", erzählt er. Und auch seine Mutter habe nichts über das Schicksal ihres Kindes erfahren. Schramm durchlief ein Jahr lang verschiedene Gefängnisse der Gestapo, er wurde geschlagen und erniedrigt. Doch das Schlimmste stand ihm noch bevor.Am 20. Juli 1944 wurde der 15-Jährige in einen Viehwaggon gepfercht und mit anderen Gefangenen auf den Ettersberg gebracht. Da wusste er noch nicht, was ein KZ ist. "Als die Türen des Waggons aufgingen, haben SS-Männer auf uns eingeprügelt. Mit Gewehrkolben und Knüppeln", sagt er. Dann wurden die Hunde losgelassen. Es sollte noch viel schlimmer kommen. Schramm sah die vielen Toten, die morgens aus den Baracken getragen wurden. Er erlebte, wie Menschen ermordet wurden. Auch sein Freund Wolfgang, ein jüdischer Junge, der nur wenig älter war als Schramm. "Er hatte sich abends beim Zählappell bewegt. Das hat gereicht, um ihn vor aller Augen totzuschlagen."Sprung in die MülltonneSchramm wurde zur härtesten Arbeit in den Steinbruch geschickt. Im Laufschritt musste er stundenlang Steine schleppen. "So etwas hält keiner lange aus", sagt er. Doch er wollte nicht zusammenklappen, nicht "durch den Schornstein fahren", wie er sagt. "Kommunisten haben mir das Leben gerettet", erzählt er. Sie organisierten ihm eine leichtere Arbeit. Er überstand auch den Luftangriff, bei dem er verschüttet wurde. Häftlinge suchten nach vermissten Wachleuten und gruben den schwer verletzten Jungen aus.Gert Schramm, der sein Leben lang in keiner Partei war, kennt die Namen seiner Retter noch genau. Sie holten ihn nicht nur aus dem Steinbruch und pflegten ihn nach seiner Verletzung. Sie brachten ihn beim Zählappell in ihrer Mitte unter, damit er nicht als sichtbares Opfer am Rand antreten musste. Schramm musste, wollte er überleben, unsichtbar sein. "Einmal bin ich sogar in eine Mülltonne gesprungen, damit mich ein SS-Mann nicht sieht", erzählt er.Er kann sich noch genau an den 11. April 1945 erinnern, den Tag der Befreiung. Da tönte n aus den Lautsprechern jene unfassbaren Worte, die ihn noch heute aufrütteln: "Kameraden. Wir sind frei!" Schramm hat die Hölle überlebt. Er war einer von insgesamt sechs dunkelhäutigen Häftlingen in Buchenwald. Zwei kamen aus Deutschland, vier mit Transporten aus Frankreich, sagt Philipp Neumann von der thüringischen Gedenkstättenstiftung. Der Prominenteste unter ihnen war Raphaël Elizé, der erste dunkelhäutige Bürgermeister Frankreichs. Elizé kam beim Luftangriff im Außenlager Weimar ums Leben.Viermal im Jahr fährt Schramm noch heute auf den Ettersberg. Er ist im internationalen Buchenwaldkomitee. Nach der Befreiung hat er das Gelöbnis der Überlebenden geleistet. In dem für ihn bewegendsten Augenblick seinen Lebens hat er geschworen, erst zu ruhen, wenn auch der letzte Schuldige vor dem Richter steht und der Nazismus mit seinen Wurzeln vernichtet ist.-----------------------"Wer hat Angst vorm schwarzen Mann. Mein Leben in Deutschland" erschien im Aufbau-Verlag. Das 267-Seiten-Buch kostet 19,95 Euro.------------------------------Foto: Gert Schramm ist heute 82 Jahre alt und lebt seit 1964 in Eberswalde.Foto: "Negermischling 1. Grades" steht auf Schramms Häftlingspersonalkarte.