20 Euro für Notfallambulanzen: Wie sehr lassen sich Patienten noch verhöhnen?
Der jüngste Vorschlag der Union stößt auf viel Kritik, aber auch auf Lob – von solchen, die auf falsche Narrative über das Gesundheitssystem hereinfallen.

Man könnte meinen, die Ampel-Koalition lasse derzeit genügend Spielraum für die Opposition, um sich zu profilieren. Umso verblüffender, dass es die CDU/CSU nun mit einem derart absurden Vorstoß versucht: Eine 20-Euro-Gebühr für Patienten in Notfallambulanzen hat die Partei jüngst vorgeschlagen. Das ist auf so vielen Ebenen falsch, dass man kaum weiß, wo man da anfangen soll.
Vielleicht mit dem gröbsten Fehler: der Annahme, ein Großteil der Patienten suche die Notaufnahme für Kleinigkeiten auf – und solche könnten mit einer Gebühr davon abgehalten werden, so das beliebte Argument.
In den sozialen Netzwerken wird seit dem Wochenende wieder angeregt über den Vorschlag diskutiert, nachdem schon Mitte April Kassenärzte-Chef Andreas Gassen eine Notfallgebühr vorgeschlagen hatte, aber von Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) abgeschmettert worden war. Denn Lauterbach plant derzeit eh eine größere Reform der Notaufnahmen – eine Gebühr habe darin keinen Platz, gab er zu verstehen. Seit dem erneuten Vorstoß der Unionsfraktion Ende vergangener Woche wird nun wieder darüber gestritten.
Viele User empfinden eine Gebühr für Arme und Kranke als ungerecht, würden aber gleichzeitig begrüßen, damit „die vielen“ Bagatell-Besucher abzuschrecken. Das Narrativ ist weit verbreitet; kaum jemand kommt ohne diesen Fingerzeig aus. Schlimm ist, wenn auch Politiker als Entscheidungsträger, denen eine gewisse Kompetenz in dieser Frage abverlangt werden dürfte, diese Erzählung bedienen.
Um es ein für allemal klarzustellen: Patienten, die wegen Kinkerlitzchen die Notaufnahmen aufsuchen, mögen für Ärzte und Pflegekräfte nachvollziehbarerweise ein ständiges Ärgernis sein, doch sie sind keinesfalls eine Mehrheit. Im Gegenteil: Durch diese aufgebauschte Sorge vor fälschlicherweise oder hinterlistig die Notaufnahmen verstopfenden Patienten kommt es immer wieder auch zu Notfällen, die unversorgt oder unterversorgt bleiben. Weil man ihnen ihre Krankheit nicht glaubt, wenn man eh davon ausgeht, dass die Hälfte der Patienten sich nur unnötig anstellt.
Das kann verheerende Folgen für den Patienten haben. Jede einzelne davon ist eine zu viel. Die Gesellschaft und die Politik haben daran auch ihren Anteil, wenn sie dieses ungeprüfte Narrativ einfach immer weiter tragen. Das sollte jeder wissen. Es ist daher unverantwortlich, dieses Märchen ständig weiter zu verbreiten.
„Rund 40 Prozent aller Fälle in den Notaufnahmen sind Bagatellfälle und gehören nicht dorthin“, verkündete etwa der gesundheitliche Sprecher der CSU, Stephan Pilsinger, am Freitag. Man fragt sich, woher der Mann diese konkrete Zahl hat. Von Twitter? Tatsache ist, dass aktuelle Studien eher von 5 Prozent der Ambulanz-Patienten ausgehen, die sich selbst nicht als Notfall bezeichnen würden.
Jawohl, sich selbst. Denn wie soll ein Notfall genau von einem Nicht-Notfall abgegrenzt werden – außer durch die übliche Triage, die in Kliniken eh schon passiert, das heißt: die Beurteilung von Patienten nach Dringlichkeit und Relevanz der Behandlung durch Fachpersonal, auch aufgrund ihrer körperlichen Verfassung.
Aber eben nicht nur danach. Menschen sind unterschiedlich. Während man dem einen den Schlaganfall auch als Arzt nicht ansieht, kann der andere schon mit einer Migräne völlig außer Gefecht gesetzt oder ein Häufchen Elend sein. Das lässt sich auch am Telefon nicht ausreichend diagnostizieren. Und erst recht nicht per Terminvergabe, denn Notfälle haben es so an sich, dass sie eben notfallmäßig auftreten, also nicht planbar sind. Genau dafür gibt es ja Notaufnahmen.
Als „irreführend und gefährlich“, hatte der Berliner Gesundheitspolitiker Janosch Dahmen (Grüne) deshalb schon den Vorstoß von Gassen bezeichnend, und damit hat er recht. Denn: „Die derzeit lückenhafte, insbesondere hausärztliche Grundversorgung lässt manches medizinische Problem überhaupt erst zum Notfall werden“, so Dahmen im April.
Auch die Deutsche Stiftung Patientenschutz sprach sich gegen eine Strafgebühr aus. Eugen Brysch, Vorstand der Deutschen Stiftung Patientenschutz, sagte: Von massenhaftem Missbrauch der Notaufnahmen könne keine Rede sein. Er verweist auf eine Umfrage der Krankenkasse KKH, wonach weniger als jeder Vierte die Notaufnahme aufsucht, wenn er bei nicht lebensbedrohlichen Erkrankungen außerhalb der Praxis-Öffnungszeiten Hilfe benötigt.
Zudem täten sich auch Mediziner mitunter schwer, eine fachfremde Diagnose zu stellen. Deshalb müssten zunächst die Kassenärzte ihre Hausaufgaben machen, so Brysch: „Das gilt neben dem Ausbau und der Spezialisierung des ärztlichen Bereitschaftsdienstes auch für die Öffnungszeiten der niedergelassenen Ärzte sowie das Angebot von Hausbesuchen.“
Auch die Linke-Vorsitzende Janine Wissler legte nun mit der Kritik an dem CDU-Vorstoß nach: Eine Notaufnahme-Gebühr werde die Krankenhäuser nicht entlasten, sondern zusätzliche Bürokratie bescheren. Das lehrten die Erfahrungen mit der früheren Praxisgebühr in Höhe von 10 Euro. Schlimmstenfalls würde die Notfallgebühr echte Notfallpatienten abschrecken. Auch sie betont, dass in zahlreichen Regionen Deutschlands vor allem gesetzliche Versicherte oft viele Monate auf einen Termin beim Spezialisten warten müssen. „Der Weg in die Notaufnahme ist da oft die einzige Chance“, so Wissler. Im Übrigen bringe eine Gebühr keine zusätzliche Pflegekraft, keine neuen Planstellen und auch nicht die derzeit benötigten fehlenden Medikamente zurück.
Bleibt die Frage, warum diese unsinnige Idee trotzdem immer wieder auftaucht, nun schon im Monatsrhythmus. Vielleicht weil das Narrativ von den mehrheitlich unnötig die Notaufnahmen verstopfenden Patienten so schön die tatsächlichen Gründe für die Not der Notaufnahmen verschleiert, und weil es so leicht über die Lippen geht. Ähnlich wie das Narrativ, dass die meisten Deutschen ihre pflegebedürftigen Angehörigen lieber in Heime geben als sie selbst zu pflegen. Stimmt genauso wenig, hält sich aber ebenso hartnäckig – mit allen dümmlichen und auch gefährlichen politischen Folgen.