Alkohol in der Fastenzeit: Unter Trinkern von Alexander Osang
Letzte Woche, kurz nach eins, fragte mich ein Freund: „Wann warste eigentlich das letzte Mal betrunken? Ich meine, richtig besoffen.“
Das bin ich seit Jahren nicht mehr gefragt worden. Ich glaube, es hatte damit zu tun, dass ich gerade keinen Alkohol trinke.
Wir saßen an der Bar Central an der Schönhauser Allee. Ich hatte einen Pfefferminztee bestellt. Ironisch, weil es ja eine Bar ist, eine Berliner Bar. Ich frage nach Tee, als würde ich einen Witz erzählen. Aber sie machen im Central Tee aus frischer Minze. Ich bin nicht allein dort draußen, dachte ich, dann fiel mir ein, dass die Minze sicher für die karibischen Mixgetränke da war. Vorher hatte ich zwei Apfelschorlen und zwei Wasser getrunken. Das Wasser war ein bisschen lasch. Seit ich keinen Alkohol trinke, achte ich auf die Sprudeligkeit, normalerweise ist mir die komplett egal. Ähnlich wie den Super-G im alpinen Skisport habe ich das Konzept von „Medium“-Wasser nie verstanden. Früher.
Wann also war ich zum letzten Mal besoffen?
Ich dachte nach, mir fiel erstmal nur eine Geschichte ein, die länger als dreißig Jahre zurückliegt. Ich war mit meiner damaligen Freundin nach Ungarn getrampt, wo eine Hochzeit stattfand. Einer der Gäste lud uns zwei Tage später in seinen Weinkeller ein, ich probierte, es war um die Mittagszeit, vom selbst gemachten Palinka, ein ungarischer Pflaumenschnaps. Sehr schön. Ich trank ein paar. Ich war seit vier Tagen 21 Jahre alt und eine gute Woche zuvor nach anderthalbjährigem Dienst aus der Nationalen Volksarmee entlassen worden. Meine Freundin war schwanger, das Leben begann noch mal von vorn, und es war sehr heiß. Alles ein bisschen viel, fürchte ich. Als wir den Keller verließen, schlug mich eine Faust nieder. Ich spürte meine Beine nicht mehr. Ich murmelte meiner Freundin zu: weg, bitte schnell weg hier. Ich imitierte einen aufrechten Gang. Bis wir außer Sichtweite des freundlichen Schnapsbrenners waren, lief ich im Stechschritt des Volltrunkenen weiter. Wir erreichten eine Lichtung, ich ließ mich auf den Rasen fallen und verlor das Bewusstsein. Die Lichtung erwies sich als eine Art Parkanlage am Rande der ungarischen Stadt Miskolc. Meine Freundin setzte sich auf eine Bank und wartete, dass ich zu mir kam. Sie erzählte mir später, dass mich die Leute gleichgültig ansahen, einmal kam ein großer, zottiger Schäferhund und leckte mein Gesicht ab. Ich habe, nüchtern, Angst vor Hunden.
Eine gute Trinkergeschichte, dachte ich.
Mein Freund guckte mich an wie jemanden, der gesteht, dass er seit 30 Jahren keinen Sex hatte. Er war beim fünften oder sechsten Bier. Ich saugte das Wasser aus den Pfefferminzblättern, die sich auf dem Grund meines Teeglases zusammenballten. Ich täuschte cocktailtrinkerhaftes Verhalten vor. Als würde ich einen Mojito ausschlürfen.
Und du?
„Ach“, sagte er, „ich werde ja nicht mehr betrunken.“ Er sei gestern auf einer Film-Party gewesen. Cocktails und Bier, er sei vielleicht ein bisschen gewankt am Ende. Aber eigentlich war das nicht die Frage. Er ist ja derjenige, der sich normal verhält. Ich bin derjenige, um den man sich Sorgen machen muss. Wir treffen uns einmal die Woche, montags, nach dem Sport. Ich spiele Fußball, er boxt oder spielt Badminton. Normalerweise trinken wir Bier, drei oder vier große Bier, und reden über Sportverletzungen und Filmprojekte. Mein Freund ist Regisseur.
„Ich dachte, du bist übern Berg“, sagte er.
Ich sah auf den kleinen Bildschirm auf der anderen Seite der Bar, der in einer Endlosschleife Motive aus der Filmhistorie zeigte, George Clooney als Danny Ocean, Steve McQueen als Bullit, Leonardo DiCaprio als The Great Gatsby. DiCaprio prostete mir mit Champagner zu, zum etwa vierzigsten Mal. Es waren etwa zwanzig Images. Sie liefen in heavy Rotation.
„Ja“, sagte ich, „ein Rückfall.“
Ich beichte meine Abstinenz wie eine Krankheit, einen Tick. Ich habe meinem Freund am ersten Januarmontag erzählt, dass ich im Januar nichts trinken will, aber jetzt ist März. Ich wusste von Anfang an, dass ich noch ein bisschen weitermache, aber ich dachte, es ist einfacher, es in kleinen Schritten zu verkaufen. Nicht mir. Ihnen. Ich will den anderen nicht zu viel zumuten. Den Trinkern.
Ich mache es nicht zum ersten Mal, ich weiß, dass man eine gute Geschichte braucht, wenn man unter Trinkern lebt. Alle meine Freunde trinken.
Ein paarmal habe ich in der eigentlichen Fastenzeit nichts getrunken. Am Aschermittwoch ist alles vorbei. Ich bin allerdings kein Rheinländer. Ich habe es mit meiner katholischen Erziehung begründet. Aber es hat nichts damit zu tun, soweit ich das einschätzen kann.