Wie Lauterbach den Tod von Tina Turner nutzt, um Homöopathie zu kritisieren

Der Gesundheitsminister irritiert mit einem Tweet zum Tod des Rockstars. Hat damit der Kampf gegen die alternative Medizin seinen Höhepunkt erreicht?

Homöopathische Kügelchen sind schwer umstritten: Ob Ärzte Zusatzausbildungen im Bereich Homöopathie machen dürfen, entscheiden mittlerweile Gerichte. 
Homöopathische Kügelchen sind schwer umstritten: Ob Ärzte Zusatzausbildungen im Bereich Homöopathie machen dürfen, entscheiden mittlerweile Gerichte. dpa

Am Mittwoch ist Tina Turner gestorben. Die US-Amerikanerin, die zuletzt in der Schweiz lebte, ist der Welt als Königin des Rock'n'Roll bekannt geworden, als Wirbelwind mit einer scheinbar unbezwingbaren Kraft.

Nicht nur ihre raue Stimme hatte aus ihr einen Superstar gemacht, auch ihre bewundernswerte körperliche Energie auf der Bühne war es, die ihr Millionen Fans bescherte, über Jahrzehnte hinweg – und das in einem Alter, in dem andere Musikstars schon längst in Rente sind. Noch mit über 40 Jahren nahm ihre Karriere so richtig Fahrt auf, mit Ende 60 ging sie immer noch auf Welt-Tournee.

Nun, nach ihrem Tod, wird thematisiert, wie krank Tina Turner, 1939 als Anna Mae Bullock geboren, schon seit vielen Jahren war. Sie litt an Bluthochdruck, Schlaganfall, Nierenversagen, Darmkrebs – am Ende starb sie laut aktuellen Berichten an einer „natürlichen“ Todesursache, sprich: am Alter. Zwar hatte die Sängerin, die mit ihrem deutschen Mann Erwin Bach zwischenzeitlich auch in Köln lebte, 2018 in ihrer zweiten Biografie schon von ihren schweren Erkrankungen berichtet. Doch diese, wenngleich wiederum Millionen von Menschen weltweit daran leiden, bringt man nur schwerlich mit dem Bild der quirligen Entertainerin zusammen. Wer an Tina Turner denkt, denkt eher an pure Lebensenergie.

Es ist der deutsche Gesundheitsminister Karl Lauterbach, der am Tag nach ihrem Tod twittert: „Beeindruckende Beschreibung von Tina Turner, wie Homöopathie ihre Niere zerstört hat. Die Dialyse kam, weil sie dachte, der Bluthochdruck könnte mit Homöopathie behandelt werden. Schlaganfall und Dialyse folgten. Sie hat danach den Fehler bereut und gewarnt.“

„Bluthochdruck tötete Tina Turners Nieren“

Es folgt ein Link zu einer Homepage namens „show your kidneys love“ – zeige Deinen Nieren Liebe – mit einem verwackelten Foto von Tina Turner auf einem Behandlungsstuhl. „Bluthochdruck tötete Tina Turners Nieren. Um ihr Leben zu retten, war eine Organspende ihres Mannes Erwin erforderlich. Die Musikerin erzählt von ihrem Bluthochdruck, ihrer Dialyse und ihrer Nierentransplantation“, steht über dem Text. Darunter beschreibt angeblich die Sängerin selbst:

„Meine Nieren sind Opfer davon, dass ich leugne, dass mein Bluthochdruck eine Behandlung mit Schulmedizin braucht. Ich habe mich einer großen Gefahr ausgesetzt, weil ich mich weigerte, die Realität zu akzeptieren, dass ich für den Rest meines Lebens täglich Medikamente benötigen würde. Ich habe meinen Körper viel zu lange als unverwundbare und unzerstörbare Bastion betrachtet.“

Weiter geht es im Text: „Ich leide seit langem an Bluthochdruck, die Diagnose wurde 1978 gestellt, aber es hat mir nicht viel ausgemacht. Ich kann mich nicht erinnern, jemals eine Erklärung darüber bekommen zu haben, was Bluthochdruck bedeutet oder wie er sich auf den Körper auswirkt. Ich hielt Bluthochdruck für meinen Normalzustand. Daher habe ich nicht wirklich versucht, es zu kontrollieren. 1985 verschrieb mir ein Arzt Tabletten, von denen ich eine pro Tag einnehmen sollte, und das war’s. Ich habe nicht weiter darüber nachgedacht. Nachdem ich 2009 aufgrund meines schlecht kontrollierten Bluthochdrucks einen Schlaganfall erlitt, hatte ich Mühe, wieder auf die Beine zu kommen. Da erfuhr ich zum ersten Mal, dass meine Nieren nicht mehr so gut funktionierten. Sie hatten bereits 35 Prozent ihrer Funktion verloren. Ich habe versucht, mehr über die Funktion und Bedeutung dieser Organe zu erfahren.“

„Fatale Abneigung“ gegen Medikamente

Mit der Zeit habe sie eine „fatale Abneigung“ gegen die Blutdruckmedikamente entwickelt: „Ich erinnerte mich, dass ich das Leben genossen habe, bevor ich mit der Einnahme begonnen habe, und wünschte, ich könnte wieder so klar im Kopf und energiegeladen sein wie früher. Als ein Freund einen anderen Ansatz vorschlug und mir einen homöopathischen Arzt in Frankreich empfahl, zögerte ich nicht. Er ersetzte meine konventionellen Medikamente durch homöopathische Medikamente. Und mir wurde gesagt, ich solle immer trinken, trinken, trinken. Tatsächlich fühlte ich mich nach einer Weile besser.“

Stolz sei sie zur Kontrolle gegangen, so die Schilderung, doch es habe sich herausgestellt, dass ihr Blutdruck nicht besser, sondern schlechter geworden sei und ihre Nieren mittlerweile so stark in Mitleidenschaft gezogen habe, dass ihr Leben auf dem Spiel stand. Sie musste an die Dialyse. Ihr Ehemann spendete ihr schließlich eine Niere.

„Mir wurde klar, dass der Kampf um Heilung immer auch ein Kampf um genaue Informationen ist“, wird Tina Turner weiter zitiert. „Mir war zum Beispiel nicht bewusst, dass chronisches Nierenversagen als ‚stiller Killer‘ bezeichnet wird, weil sich die Symptome erst bemerkbar machen, wenn 80 Prozent des Nierengewebes verloren gegangen sind. Wie bei mir ist Bluthochdruck eine der häufigsten Ursachen für Nierenversagen.“

Und: „Wie konnte ich auf die Idee kommen, Behandlungsentscheidungen ganz alleine zu treffen? Wenn ich gewusst hätte, welches Risiko ich eingegangen bin, wäre ich niemals das Risiko einer alternativen Medizin eingegangen.“

Da die von Karl Lauterbach zitierte Homepage kein Impressum hat und in ihrem Copyright-Hinweis auf das „Europäische Nierenforum“ in Belgien verweist, lohnt sich ein kurzer Blick auf jenes EKHA, die European Kidney Health Alliance in Brüssel, die sich selbst wie folgt bezeichnet: „EKHA ist eine gemeinsame Anstrengung von Interessenvertretern, Lösungen für die Herausforderungen chronischer Nierenerkrankungen in Europa durch wirksame Prävention und einen effizienteren Pflegeweg vorzuschlagen, um die Bereitstellung einer angemessenen und erschwinglichen Behandlung für alle Europäer gleichermaßen zu erleichtern und gleichzeitig die höchste Qualität der Pflege zu fördern. EKHA geht von dem Grundsatz aus, dass das Thema Nierengesundheit und Nierenerkrankungen auf europäischer Ebene behandelt werden muss und dass sowohl die Europäische Kommission als auch das Europäische Parlament eine wichtige Rolle bei der Unterstützung der nationalen Regierungen bei diesen Herausforderungen spielen müssen.“ Ergo eine Lobbyorganisation.

Der Kampf um die Information

Nun ist es nicht weiter verwunderlich, dass eine Lobbyorganisation, die sich zum Ziel gesetzt hat, die Behandlung von Nierenerkrankungen europaweit voranzubringen, mit einem Star wie Tina Turner für ihre Arbeit wirbt.

Schon merkwürdiger wirkt da die Geste des deutschen Gesundheitsministers (SPD), am Tag nach dem Tod eines Weltstars auf dessen – offenbar überstandene – Krankheit hinzuweisen, die in diesem Fall nicht mal zu ihrem Tod geführt hat. Offenbar zu dem Zwecke, sich selbst zu positionieren auf seinem bevorzugten Medium Twitter – im Kampf zwischen Homöopathie und der sogenannten Schulmedizin.

Dazu muss man wissen: Dieser Kampf wird schon seit vielen Jahren ausgetragen, in allen möglichen Medien. Vertreter der klassischen Medizin werfen Vertretern der alternativen und naturkundlichen Lehren, vor allem der Homöopathie, vor, das Leben von Patienten zu gefährden. Indem sie Erkrankten vorgaukelten, auch Zuckerkügelchen oder rein pflanzliche Präparate könnten gegen ihre Leiden helfen, würden sie die Patienten von erfolgversprechender schulmedizinischer Behandlung abhalten und damit Leben verkürzen.

Immer wieder werden dabei Fälle von Heilpraktikern genannt, die etwa Patienten mit Krebsdiagnose falsche Versprechungen gemacht und somit zu deren verfrühtem Tod beigetragen hätten. Ein paar dieser Fälle sind auch aktenkundig. Vor allem in der esoterischen Szene gab es in der Tat teils gruselige Beispiele von Behandlungsoptionen per Luft und Liebe, die oft nicht den gewünschten Effekt erzielten und stattdessen das Portemonnaie der Behandler füllten.

Umgekehrt gilt aber auch: Das deutsche Gesundheitswesen ist eines der teuersten der Welt – und eines der ineffizientesten. „Die Bruttowertschöpfung im Kernbereich der Gesundheitswirtschaft lag 2021 bei knapp 391,8 Milliarden Euro. Das entspricht mehr als 12,1 Prozent des Bruttoinlandsprodukts“, verkündet das Bundesgesundheitsministerium auf seiner Homepage. Knapp 400 Milliarden Euro sind es also inzwischen jährlich, diese Zahl steigt stetig – doch viele Ergebnisse für Patienten werden gleichzeitig immer schlechter: Die Krankenkassen übernehmen seit Jahrzehnten immer weniger Behandlungen, Krankenhäuser berichten von einem ständigen Kampf ums Überleben.

Tina Turner wurde 83 Jahre alt

Aufgrund finanzieller Daumenschrauben weichen Ärzte auf Behandlungen aus, die mehr Geld einbringen, obwohl sie den Patienten oft weniger nützen: Deutschland gehört zu den führenden Nationen bei etwa Hüft- und Knieoperationen oder auch Kaiserschnitten. Auch der ambulante Sektor darbt, weshalb es etwa für Kassenpatienten an zahlreichen Orten Deutschlands inzwischen ein Ding der Unmöglichkeit ist, zeitnahe Termine bei Fachärzten zu bekommen, weshalb wiederum viele Notaufnahmen überlaufen.

Die medizinische Versorgung der Kinder ist ein zunehmendes Problem, von der Versorgung der Alten in der Pflege ganz zu schweigen. Und zusätzlich haben wir mittlerweile ein Problem mit der Lieferung zahlreicher auch lebenswichtiger Medikamente, weil zu wenig in Deutschland produziert wird. Von dem Gesundheitssystem, auf das man hierzulande einmal so stolz war, sind wir also weit entfernt. Und das, obwohl so viel Geld im System ist wie nie zuvor. Und auch die klassische Medizin hat viele Opfer: 15 Prozent Fehldiagnosen, geschätzte 20.000 Tote durch Behandlungsfehler allein in Kliniken jährlich laut Auskunft von Krankenkassen – die Dunkelziffer gilt als hoch.

Insofern scheint es bei dem mittlerweile erbitterten Streit zwischen Homöopathie und Schulmedizin nicht nur um den inhaltlichen und medizinischen Streit zu gehen unter der berühmten Annahme „Wer heilt, hat recht.“ Es geht in diesem Streit, vor allem auf Twitter, sehr viel ums Rechthaben – wie in allen anderen Kämpfen, die verstärkt über Social Media ausgetragen werden. Es geht aber wohl auch, und das gerät oft in den Hintergrund, dabei um sehr viel Geld – und um die Verteilung dessen.

Ob die Krankenkassen also auch naturheilkundliche Behandlungen bezahlen, inwiefern Heilpraktiker zur Behandlung zugelassen werden, ob Naturheilkunde in die medizinische Ausbildung einfließen darf oder nicht – all diese Fragen haben am Ende deutliche Auswirkungen auf die Methodik der Behandlung. Und somit auch auf deren Finanzierung. Bei diesem Streit geht es also nicht nur um Patienten, sondern auch um finanzielle Interessen.

Bisher hatte sich Karl Lauterbach dabei nicht auffällig eine Seite geschlagen. Sein Tweet anlässlich des Todes von Tina Turner wird nun von Verfechtern der einen Seite begrüßt nach dem Motto: Endlich sagt der Gesundheitsminister mal, wie schädlich Homöopathie ist. Die andere Seite schreibt hingegen: „Sie sollten sich in Grund und Boden schämen, den Tod von Tina Turner so zu instrumentalisieren.“ Oder: „Tausende Patienten in Deutschland haben diese Krankheit auch ohne Homöopathie.“

Tina Turner ist übrigens 83 Jahre alt geworden. Das ist das Durchschnittsalter, das Frauen aktuell in Deutschland erreichen. In der Schweiz liegt die Zahl etwas höher (85,7 Jahre), in den USA etwas niedriger (81 Jahre).

Und tatsächlich: Bluthochdruck und seine Auswirkungen werden von zu vielen Patienten, darunter die meisten männlich, nach wie vor unterschätzt, mehr Aufklärung täte not. Das betrifft allerdings sowohl solche, die zu Homöopathie und anderen Mitteln greifen, als auch solche, die das nicht tun. Letztere sind nach wie vor die Mehrheit.