Auf die Nuss

Warum mögen Eichhörnchen die Stadt, warum finden wir sie so niedlich und stimmt es, dass die Einwanderer aus Nordamerika ihre europäischen Verwandten verdrängen? Ein Gespräch mit dem Evolutionsbiologen Josef H. Reichholf.

Berlin-Ein Evolutionsbiologe und Ökologe beschäftigt sich ja meist mit den größeren Zusammenhängen, Josef H. Reichholf aber richtet seinen Blick auch gern mal aufs Konkrete. In seinen vielen, auch preisgekrönten, populärwissenschaftlichen Büchern hat er sich unter anderem mit Schmetterlingen und Haustieren beschäftigt, und auch mit Eichhörnchen. Am Telefon – der emeritierte Professor der TU München lebt in Bayern – erzählt er von seiner Beschäftigung mit dem gern gesehenen Nagetier.

Die Neugier beruht auf Gegenseitigkeit: Ein rotes Eichhörnchen.
Die Neugier beruht auf Gegenseitigkeit: Ein rotes Eichhörnchen.Getty Images

Was macht ein Eichhörnchen an einem Vormittag wie heute? In Berlin sind es ungefähr acht Grad und es regnet. Schläft es?

In aller Regel ja, das ist die vernünftigste Strategie in dieser Zeit. Das Eichhörnchen hält ja keinen Winterschlaf, aber schlafen kann es. Und bei diesem ungemütlichen Winterwetter sollte man tunlichst vermeiden, sich der kühlen Nässe auszusetzen. In München ist jetzt dagegen schöner Föhn, da werden wahrscheinlich die Eichhörnchen in den Stadtparks munter herumhüpfen.

Warum leben Eichhörnchen eigentlich mitten in München oder Berlin?

Es gibt drei Hauptgründe. Der erste Grund, und der ist ganz wichtig: In der Stadt wird ihnen nicht nachgestellt, sie werden nicht verfolgt, in aller Regel nicht aktiv getötet. Das war früher auf dem Land anders und ist es immer noch, wenngleich es heute mitunter unabsichtlich passiert, etwa bei der Holzernte im Frühjahr oder Sommer. Da werden die Bäume mit den Nestern der Eichhörnchen vernichtet. In der Stadt geschieht so etwas nicht. Der zweite Grund: In der Stadt sind die Baumbestände sehr unterschiedlich zusammengesetzt, sie sind auch unterschiedlich alt. In der Stadt werden Jahr für Jahr mehr Eicheln, Bucheckern, Hasel- und Walnüsse produziert als draußen, wo es gute und sehr schlechte Jahre gibt. Und der dritte Umstand ist die Tatsache, dass die Menschen in der Stadt den Eichhörnchen wohlgesonnen sind. Sie werden gefüttert, die Bevölkerung tut viel, um sie auch halb zahm zu halten.

Ist es sinnvoll, Eichhörnchen zu füttern? Sie bedienen sich ja gern am Vogelhaus. Tut ihnen das überhaupt gut?

Wenn es das richtige Futter ist, insbesondere Nüsse, warum nicht? Da überwiegt auf beiden Seiten der positive Effekt. Die Eichhörnchen haben etwas davon und die Menschen auch, weil sie den Kontakt zum Tier bekommen.

Eichhörnchen wirken mit ihren runden Gesichtern besonders liebenswürdig. Sie erklären in Ihrem Buch, dass diese ansprechenden Körperformen ganz praktische Gründe haben.

Ein rundliches Gesicht mit verhältnismäßig weit nach vorn gerichteten Augen ermöglicht ein gutes tiefenscharfes Sehen, keine lange Nase stört die Sicht.

Eichhörnchen benutzen ihre Vorderpfoten fast wie Menschen, das sieht niedlich aus. Und sie sind nicht besonders scheu, zumindest nicht in Parks oder Gärten.

Ich habe oft den Eindruck – es ist natürlich schwer zu sagen, ob der richtig ist, als Wissenschaftler muss man da vorsichtig sein –, dass wir mit unserer aufrechten Fortbewegungsweise für die Eichhörnchen irgendwie interessant sind. Sie schauen uns neugierig an.

In Ihrem Buch erklären Sie Körperbau und Energiehaushalt, beschreiben Fortpflanzungszyklen und Jungtieraufzucht, erklären biologische Zusammenhänge. Sie erzählen andererseits aber sehr persönlich von einzelnen Tieren, etwa einem Siebenschläfer – auch aus der Familie der Hörnchen – der in Ihrer Familie lebte. Wer heute ein verletztes Jungtier findet, darf es eigentlich gar nicht aufziehen. Wenn ich Sie richtig verstanden habe, finden Sie so ein Verbot diskussionswürdig. Ist es nicht gut, dass nicht jeder so ein Tier mit nach Hause nehmen kann?

Sicher wurde da früher manches oder vieles falsch gemacht und Tiere wurden zum Beispiel falsch gefüttert. Aber man muss davon ausgehen, dass hilflos aufgefundene Eichhörnchen so oder so sterben würden. Wenn man sie mitnimmt, haben sie eine Chance. Das Gefühl der Verantwortung für so ein Tierchen erzeugt eine ganz andere Einstellung als die Distanz, die die meisten Menschen heutzutage gezwungen sind, einzuhalten. Als Naturschützer – ich bin ja Wissenschaftler einerseits, aber wirklich mit Herz auch Naturschützer – meine ich, wir müssen dieses Emotionale, das die Menschen mit der Natur verbindet, stärken. Es nützt den Eichhörnchen wenig, wenn sie formal vor den Menschen geschützt sind, wenn dann im Wald die Jungen in den Nestern bei der Holzernte getötet werden. Man fragt sich, ob wir den Artenschutz damit in der richtigen Weise ausüben.

So ein bewirtschafteter Wald kann also auch unwirtlich für die Tiere sein.

Meist ist es ja so, dass die Praxis der Forstwirtschaft gegen die Interessen der Tiere gerichtet ist. Das ist eine Wirtschaftsform, die einer intensiven Landwirtschaft immer ähnlicher wird. Wenn gegenwärtig über ein weiteres Waldsterben geklagt wird, so sind das eben die Folgen von Monokulturen, die ja auch in der jüngeren Vergangenheit immer wieder angelegt worden sind. Und wenn jetzt der Klimawandel tatsächlich dazu zwingen sollte, dass reichhaltige Mischwälder angelegt werden, dann müsste man ihm fast schon dankbar sein.

In England hat sich das amerikanische Grauhörnchen ausgebreitet und gilt als Bedrohung für seine roten europäischen Verwandten, die es angeblich verdrängt. Ihre Sicht ist da etwas anders. Was läuft Ihrer Meinung nach in England falsch? Nun, zunächst wurden dort die europäischen, roten Eichhörnchen fast ausgerottet, weil sie als Waldschädlinge galten.

Wieso das?

Vor allem wegen der Schäden, die sie in der Forstwirtschaft anrichten, indem sie junge Triebe annagen und vermeintlich junge Eichen zerstören. Aber in Wirklichkeit ist es so, dass die Äste mit einem Pilz befallen sind, den die Eichhörnchen fressen. Sie lösen also nicht den eigentlichen Schaden aus, sondern nutzen nur den vorhandenen Schaden des Bäumchens.

Und die grauen Eichhörnchen sind dann irgendwo ausgebrochen und haben sich vermehrt?

Nein, die wurden aus Nordamerika geholt, einige Hundert, und ganz gezielt in Parks freigelassen, weil man sie niedlich fand. Da war von Anfang an genügend Masse für die Bestandsentwicklung und die eigenen roten Eichhörnchen waren ja wegen ihrer vermeintlichen Schädlichkeit getötet worden. In Gebieten, in denen europäische Eichhörnchen häufig genug vorkommen, werden die amerikanischen kaum eine Chance haben, sich zu etablieren. Und wenn doch, kann erwartet werden, dass Ähnliches geschieht wie in Nordamerika, nämlich dass es schließlich zwei Eichhörnchenarten unterschiedlicher Größe gibt. Natürlich ist das auch eine Frage der Geduld, die Leute sind oft zu schnell mit ihren Urteilen, weil sich gerade etwas ändert. Das ist eine verbreitete menschliche Eigenschaft, wenn sich etwas ändert, dann ist es schlecht.

Die Diskussion um eingewanderte Tiere gibt es ja auch hier, etwa um Waschbären. Sie würden also sagen: Habt mal ein bisschen Geduld, das wird sich schon einpendeln?

Diese Trennung zwischen fremd und heimisch lässt sich historisch gesehen gar nicht aufrechterhalten, weil nach einiger Zeit frühere Fremde als heimisch eingestuft werden – wie zum Beispiel Fasan und Kaninchen. Die Trennung ist übertrieben und führt in eine bedenkliche Grundhaltung hinein. Und das, was eigentlich notwendig wäre, ein rationales Abwägen, und das Beseitigen echter Schäden, das unterbleibt. Es wird automatisch den Fremden unterstellt, dass sie Schaden verursachen, nur weil sie fremd sind.

Auch die europäischen Eichhörnchen werden für ihr Verhalten kritisiert. Viele Vogelfreunde beklagen, dass sie Vogelnester ausräumen.

Das ist oft eine engstirnige Betrachtungsweise: Weil ich Singvögel schützen möchte, sind Eichhörnchen, Krähen, Elstern, die Vogeleier und Küken fressen, naturgemäß böse. Wenn ich den Habicht schützen möchte, dann sind Elstern und Krähen als Hauptbeute für den Habicht natürlich gut. Und wenn ich Schmetterlinge schützen möchte, dann muss ich mit einem gewissen kritischen Blick die Tätigkeit der Singvögel betrachten, denn die vertilgen auch seltene Schmetterlinge.

Haben Sie eigentlich Eichhörnchen bei sich in der näheren Umgebung?

Nein, leider nicht, hier in einer Kleinstadt in Südostbayern sind die Eichhörnchen sehr rar.

Die möchten also nicht nur einfach in die Stadt, sondern in die Großstadt?

Großstädte sind absolut bevorzugt. Dass die Welt in Kleinstädten und Dörfern noch in Ordnung sei, das sehen die meisten Tiere nicht so.  

Josef H. Reichholf: Das Leben der Eichhörnchen. Mit Illustrationen von Johann Brandstetter, Carl-Hanser-Verlag, München 2019, 223 S., 20 Euro.