Barfußlaufen im Sommer: Unten ohne durch Berlin
Berlin - Nicht jeder sieht barfuß aus wie ein Held. Wer an einem wilden Seeufer spontan die Schuhe von sich wirft, um wagemutig ins Wasser zu steigen, schon gar nicht. Steine piksen in die Fußsohlen, der Untergrund ist uneben und rutschig. Man verliert die Balance, stakst herum, rudert mit den Armen – sieht das blöd aus. Dass unter den Fußsohlen mehr Sinneszellen sitzen als im Gesicht, wissen die meisten Menschen gar nicht mehr. In Schuhen werden die vielen kleinen Sensoren schließlich kaum gekitzelt. Fußblind nennt man das auch.
Viele, die jedoch ihr Fußgefühl wiederentdecken, wollen die Schuhe am liebsten gar nicht mehr anziehen. In Barfuß-Blogs schwärmen sie von einem neuen Lebensgefühl. Der Sand am Strand ist warm, die Wiese kühl, die Erde weich. Sie verabreden sich zu Barfuß-Wanderungen oder verzichten selbst beim Joggen auf dicke Sohlen. Mittlerweile hat fast jede Sportschuhmarke Barfuß-Schuhe im Sortiment. Sie sehen aus wie Zehensocken: ohne Dämpfung, gefühlsecht, zurück zur Natur.
Als sich unsere Vorfahren zum aufrechten Gang erhoben, hatten sie schließlich auch nichts an den Füßen, deren Anatomie sich über viele Jahrtausende der Natur angepasst hatte. „Der Mensch ist ursprünglich zum Barfußlaufen konstruiert“, sagt der Orthopäde und ehemalige Langstreckenläufer Thomas Wessinghage. Mittlerweile leben wir jedoch nicht mehr in der Natur, sondern in einer ganz anderen Umwelt.
„Barfußlaufen stärkt die Fußmuskulatur“
„Wir laufen nur noch in Schuhen und auf Zivilisationsböden herum, viele haben Übergewicht und bewegen sich zu wenig“, sagt der Mediziner, der drei Kliniken der Medical Park AG am Tegernsee leitet. „Auf dieses moderne Leben reagieren die Füße vieler Menschen nicht gerade positiv.“ Als Orthopäde sieht Wessinghage viel Deformiertes. Große Zehen, die nach außen abwandern, zu platte und zu hohle Füße, verkrümmte Zehen, die sich nicht mehr strecken lassen, Entzündungen und Verschleiß.
Füße sind eigentlich ein ausgeklügeltes Werk der Evolution, gleichzeitig stabil und flexibel. Man kann mit ihnen rennen und schleichen, tanzen und springen, Tore schießen oder kickboxen. Doch wir behandeln sie nicht immer gut, zwängen sie in enge Schuhe oder auf hohe Absätze, überfrachten sie mit Übergewicht oder lassen die Fußmuskulatur verkümmern, weil wir zu viel sitzen.
„Barfußlaufen stärkt die Fußmuskulatur“, sagt Sebastian Manegold, Leiter der Abteilung für Fußchirurgie an der Berliner Charité. Ohne Sohlen, Dämpfung und Halt müssen die Füße sensibler auf Unebenheiten im Boden reagieren. „Schuhe nehmen uns diese Arbeit sonst weitgehend ab.“ So werden die Muskeln wenig gefordert und bleiben schwach. Sie sind es jedoch, die gemeinsam mit Sehnen und Bändern die raffinierte Statik des Fußes aufrechterhalten: Die kurzen und langen Fußmuskeln stabilisieren gemeinsam mit Bändern und Sehnen das Fußskelett und verspannen es zu einem Längsgewölbe.
„Gerade Kinder sollten viel barfuß laufen“, sagt Manegold. Babys werden nämlich zunächst mit Plattfüßen geboren. Bis etwa zum siebten oder achten Lebensjahr richtet sich das Fußgewölbe auf. Wenn sie in dieser Zeit schon Einlagen tragen, kann das der natürlichen Entwicklung entgegenwirken.
„Längeres Barfußlaufen ist aber auch nicht jedem zu empfehlen“, sagt Manegold, „man muss sich erst an diese Belastung gewöhnen.“ Menschen, die schon Fußfehlstellungen haben, sollten, wenn es sportlich wird, lieber gute Schuhe tragen. „Barfuß-Wandern oder -Joggen ist für sie nicht geeignet.“ Gerade bei Plattfüßen könnten sich an den Knochenvorsprüngen Druckstellen entwickeln. Auch Diabetikern rät er ab, weil diese häufig ein schlechtes Gefühl an den Füßen haben. Sie merken gar nicht, wenn sie in einen Stein treten.
Übung macht mehr Hornhaut
Zu welchen Höchstleistungen die Füße des Menschen hingegen grundsätzlich fähig sind, zeigen Sportler, die seit ihrer Kindheit barfuß unterwegs sind. Der Läufer Abebe Bikila aus Äthiopien ging im September 1960 ohne Schuhe bei den Olympischen Spielen in Rom an den Start. Der schlaksige Mann, damals 28 Jahre alt, musste beim Marathon unerwartet für seinen Kollegen einspringen, alle Schuhe, die man ihm kurz vorher im Training brachte, hinterließen nur Blasen, also lief er ohne. So, wie er es schon als kleiner Junge in seinem Dorf in der Provinz Shoa getan hatte. Am Ende erreichte Bikila als Sieger das Ziel – obendrein mit neuem Weltrekord. 42 Kilometer in 135 Minuten und 16 Sekunden. Alles ohne Schuhe.
Orthopäde Thomas Wessinghage, selbst 22 Mal Deutscher Meister, hat im Laufe seiner Karriere und als Leiter von Laufseminaren einige Menschen kennengelernt, die sich das Joggen ohne Schuhe langsam wieder antrainiert haben. Darunter war zum Beispiel ein Österreicher, der nach ein paar Monaten Training problemlos auf allen Untergründen barfuß laufen konnte – auch auf der Straße.
Seine Füße hatten sich verändert, hatten mehr Polster und Hornhaut bekommen. Kleine Steinchen spürte der Mann gar nicht mehr. „Das ist mit dem menschlichen Fuß möglich“, sagt Wessinghage. „Man muss das Training aber sehr vorsichtig beginnen und ganz langsam steigern.“ Der Fuß mit seiner degenerierten Muskulatur, sonst von Sohlen und Schaumgummi abgefedert und unterfordert, muss sich nach und nach wieder an die Belastung gewöhnen. „Sonst kann es schnell zu Überlastung und Verletzungen kommen.“
Obacht vor Zigarettenkippen, Kaugummis und Hundekot
Haben wir uns also unsere eigene natürliche Dämpfung abtrainiert? Sind Hightech im Schuh und Laufbandanalyse gar nicht so gut? Für viele Menschen doch. Vor allem diejenigen mit Fußfehlstellungen brauchen Schuhe, die auf ihre Bedürfnisse abgestimmt sind. „Für sie sind Laufbandanalysen sinnvoll, die zeigen, an welchen Stellen der Fuß verstärkt gestützt werden muss“, sagt Manegold. Knick-Senkfüße bräuchten eher eine Stütze auf der Innenseite, Hohlfüße knicken eher nach außen ab und müssen dort gehalten werden. Auch deformierte Füße dürften aber ab und zu ein paar Runden über taufrisches Gras spazieren, wie es der Erfinder des Wassertretens Sebastian Kneipp bereits vor 150 Jahren tat – für eine bessere Durchblutung und um sein Immunsystem zu stärken.
So eine jungfräuliche Sommerwiese ist natürlich sanft und weich unter den Füßen. Doch Barfußläufer begegnen einem auch fernab von Wald und Wiese – zum Beispiel mitten in Berlin, in der U-Bahn, im Supermarkt, auf dem Hermannplatz. Auch Teenies sollen am Frühstückstisch derzeit gerne verkünden: „Ab heute gehe ich ohne Schuhe zur Schule.“
Doch auf dem harten Berliner Asphalt liegen Zigarettenkippen, Kaugummis und Hundekot. Schon ein kurzer Spaziergang macht die blanken Sohlen pechschwarz. „Ich würde mir und meinen Füßen nicht zumuten, barfuß durch die Stadt zu laufen“, sagt Thomas Wessinghage. Die Gefahr, in etwas hineinzutreten, sich zu verletzen und eine Entzündung zu bekommen, sei einfach zu groß. Glasscherben auf dem Kopfsteinpflaster hat die Evolution nicht vorhergesehen.