Ärzte zur Krankenhausreform: „Wir sägen den Ast ab, auf dem wir selber sitzen“
Charité-Ärzte diskutieren über die neueste Reform von Lauterbach. Viele haben Angst vor Reduzierung der Betten – und auch um sich selbst.

In der Pandemie schien die Sache klar zu sein: Es gibt im deutschen Gesundheitssystem zwar immer noch mehr als in vielen anderen Ländern – aber trotzdem zu wenig von fast allem.
Personal, vor allem in der Pflege. Betten, die dadurch weniger Intensivpatienten zur Verfügung stehen. Beatmungsmaschinen, die deshalb vom damaligen Gesundheitsminister Jens Spahn eiligst eingekauft werden mussten. Schutzkleidung und Masken, weshalb durch das eilige Geschäftsgebaren die Maskendeals der damaligen Regierungspartei CDU/CSU überhaupt erst möglich wurden.
Insgesamt drohte, auch im ambulanten Sektor, eine Überlastung des Gesundheitssystems, was die eigentliche Ursache für die zahlreichen Pandemiemaßnahmen von 2020 bis 2022 war. Es ging nie um die Vermeidung einzelner Ansteckungen, es ging immer um das eine Ziel: das Gesundheitssystem nicht komplett zu überlasten. Ein System, das schon lange vor Corona deutlich an seine Grenzen gekommen war. Unter anderem durch die Einführung der sogenannten Fallkostenpauschalen, kurz: DRG (Diagnosed Related Groups).
Viele Menschen glauben bis heute, die Überlastung des Gesundheitssystems sei allein durch die Pandemie zustande gekommen und nun wieder passé, weshalb vor allem Pflegekräfte auf ihren Streiks und Kundgebungen sowie im Netz sich den Mund fusselig reden darüber, dass dem nicht so ist. Dass schon vor Corona die Situationen vor allem in Krankenhäusern, aber auch in Altenheimen oft zum Bersten angespannt war, nicht nur wegen der personellen, sondern auch wegen der finanziellen Lage in vielen Häusern. Und dass sie jetzt mitnichten besser, eher noch schlechter geworden ist.
Wer während der Pandemie davon sprach, dass unter anderem Karl Lauterbach als damaliger SPD-Gesundheitsexperte noch kurz vor Corona die Schließung Hunderter Krankenhäuser befürwortet hatte, erntete ungläubiges Lachen. Spätestens mit der Pandemie seien solche Vorstellungen ja wohl vom Tisch, so die allgemeine Annahme. Doch inzwischen ist Lauterbach Gesundheitsminister, die Pandemie hat unter anderem auch er für beendet erklärt – und nun nimmt er mit der Krankenhausreform genau jene Idee wieder auf, die er vorher schon hatte.
Wie man darauf in den Krankenhäusern selbst reagiert, davon zeugt eine Veranstaltung an der Charité vergangene Woche. Eingeladen hatte der Arbeitskreis Ökonomisierung im Gesundheitswesen von Mitarbeitern der Charité. Reinhard Busse von der TU Berlin, Professor für Management im Gesundheitswesen und Mitglied der Regierungskommission für die Krankenhausreform, stellte diese dort den Ärzten vor. Der Stuttgarter Chirurg Thomas Böhn, bei Verdi aktiv und Mitglied im Bündnis Krankenhaus statt Fabrik, übte Kritik an der Reform und machte Verbesserungsvorschläge. Im Plenum: rund 100 Ärzte, Studenten und Krankenhausangestellte.
Die Anzahl der Krankenhausbetten liege in Deutschland 50 Prozent über dem EU-Schnitt, machte Busse zunächst deutlich, von welchen Voraussetzungen die Kommission ausgeht. Genau wie die stationäre Fallzahl deutlich über dem EU-Schnitt liege und auch die Anzahl der Krankenhäuser. Laut Statistischem Bundesamt gab es hierzulande im Jahr 2021 genau 1887 Krankenhäuser. Abzüglich der psychiatrischen Häuser und reinen Tages- und Nachtkliniken verblieben 1534 allgemeine Krankenhäuser. Die wiederum auf Notfallstufen eingeordnet werden: Fast 60 Prozent der Kliniken haben die Notfallstufen 2 und 3, können also nicht in allen Notfällen sämtliche Behandlungen anbieten.
Zu viele Kliniken machen alles?
Dies ist der Ansatz für die Regierungskommission, künftig die deutsche Krankenhauslandschaft zu verändern. Hin zu größeren Versorgungszentren, die im Notfall eben alles anbieten könnten, auf einem hohen Niveau, weg von den kleineren Häusern, die derzeit noch ebenso in allen Krankheitsfällen aufgesucht werden, obwohl sie nicht spezialisiert sind.
Busse sagte: „Derzeit versorgen die meisten Krankenhäuser fast alle Indikationen, und das trotz oft inadäquater Ausstattung.“ Was er damit meint: Obwohl kleinere Krankenhäuser womöglich weniger Spezialisten zur Verfügung hätten als die großen Häuser, nehmen sie täglich Hüftgelenksimplantationen, Wirbelsäulenversteifungen oder Bauchspeicheldrüsen-OPs vor – um das Geld dafür zu bekommen und selbst überleben zu können. Vereinfacht gesagt.
„Trotz Mindestmengenregelung nehmen allein in Berlin 23 Krankenhäuser komplexe Pankreaseingriffe vor, obwohl nur sieben ein Pankreaszentrum haben“, so Busse. Und: „Mehr als 50 Prozent aller Krebspatienten werden außerhalb von Krebszentren behandelt, aber auch viele Zentren kommen auf sehr niedrige Fallzahlen“, referierte er. Diesen Wildwuchs soll die Krankenhausreform nun begrenzen.
Warum werden DRGS nicht abgeschafft?
Den Anreiz zu dieser Form des für Patienten bisweilen schädlichen Wettbewerbs um finanzierungsstarke Abrechnungsleistungen hatte allerdings die Einführung der DRGs gesetzt – die durch die Reform nun aber gar nicht abgeschafft werden sollen. Wie kann das sein?
Busse sagt: Die DRGs hätten nicht nur Nachteile, wie viele glauben. Unter anderem hätten sie Standards und Transparenz geschaffen, die Krankenhausfinanzierung gegenüber vorher verbessert und zu einer „hohen betrieblichen Effizienz“ in den Kliniken geführt. Raunen im Publikum, das von dieser Effizienzsteigerung auch auf Kosten von Patienten und Personal ein Lied singen kann.
Immerhin gibt Busse zu: Die DRGs hätten nicht zu einer hohen Systemeffizienz geführt. Es profitieren also einzelne, nicht das Gesundheitssystem im Ganzen. Weshalb nun eine grundsätzliche Anpassung am Vergütungssystem nötig sei. Vor allem weil der Personalengpass in Zukunft noch deutlich größer werde als ohnehin schon: Allein in diesem Jahr, also 2023, würden 1,2 Millionen Menschen in Deutschland 65, aber nur 700.000 werden 20 Jahre alt. Was den Professor zu dem denkwürdigen Satz veranlasste: „Probleme durch mehr Personal lösen zu wollen, scheidet aus!“
Mehr Personal? Gibt´s halt nicht!
Das ist deshalb denkwürdig, weil die öffentliche Debatte noch genau an diesem Punkt festhängt: Es müsse einfach mehr Personal in die Versorgung, dann würde alles wieder besser. Realistisch gesehen scheint es aber genau diese Lösung nicht zu geben. Also müssten andere Lösungen her.
„Obwohl wir für stationäre Versorgung im internationalen Vergleich relativ und absolut sehr viel und deutlich zunehmend Geld ausgeben, anders als etwa in Dänemark, geht es den Krankenhäusern finanziell schlecht“, so Busse weiter. Seine Schlussfolgerung: „Probleme durch mehr Geld lösen zu wollen, scheidet auch aus!“
Während der Pandemie sei diese grundsätzliche Krise mit Sonderzahlungen „kaschiert“ worden, was den kleineren Häusern überdurchschnittlich geholfen und die Probleme des Gesamtsektors noch verschärft habe.
Deshalb schlägt die Kommission eine Reform mit drei Komponenten vor: eine einheitliche Form von Versorgungsstufen der Kliniken, genannt Level, um lokale, regionale und überregionale Versorgungsaufträge abzugrenzen. Ein System von Leistungsgruppen (LG), die passgenauer als die DRGs den Leveln zugeordnet werden sollen. Und neben reduzierten DRGs ein Vorhaltebudget für jede Leistungsgruppe, die ein Krankenhaus anbietet, wenn es die Voraussetzungen dafür erfülle.
In Zukunft soll es dementsprechend nur noch Häuser der Maximalversorgung auf den höchsten Stufen, der Regional- und Schwerpunktversorgung auf Stufe 2 und eine Grundversorgung auf der unteren Leistungsstufe geben, Letztere mit einem Sicherstellungsauftrag für stationäre internistische und chirurgische „Basisversorgung“ sowie für Notfälle. Die Zuordnung zu den „Leistungsstufen“ der Kliniken erfolge durch verpflichtende Merkmale der Ausstattung und der ärztlichen Anwesenheit auch außerhalb von Kernarbeitszeiten. Bei den Maximalversorgern etwa braucht es eine 24-stündige Anwesenheit von Ärzten aus den Gebieten Inneres, Chirurgie, Notaufnahme, Intensiv und teils Fachärzten. Im unteren Level braucht es nur eine fachärztliche Rufbereitschaft.
Dramatische Entökonomisierung?
So weit zu den Plänen. An denen an diesem Abend Thomas Böhm scharfe Kritik übt: Lauterbachs Krankenhausreform habe große Erwartungen geschürt, doch die Fallhöhe sei groß. Von einer Überwindung der DRGs oder der vom Gesundheitsminister angekündigten „dramatischen Entökonomisierung“ könne keine Rede sein.
Zwar sei die Einteilung in Leistungsstufen und Level grundsätzlich richtig. Doch die dafür benötigten Kriterien könnten für den Bettenabbau und für Krankenhausschließungen „missbraucht“ werden. Die Verknüpfung von Leveln und Leistungsstufen der Kliniken mit ihrer Finanzierung sei grundsätzlich falsch. Stattdessen müsse es eine regionale Ermittlung des Bedarfs geben, eine Planung und Vorhaltung der jeweils notwendigen Versorgungseinrichtungen und daraufhin eine Finanzierung der dafür notwendigen Kosten. Also eine bedarfsgerechte Finanzierung.
Außerdem würden nach den Plänen der Regierungskommission die Kliniken der unteren Level eher zu besseren Kurzzeit-Pflegeheimen gemacht, ihre Zielsetzung sei nicht klar. Das ergebe keinen Gewinn für ländliche Gebiete und deren Versorgung. Stattdessen würden sie zu einem „Tummelplatz“ für Niedergelassene, MVZ und Belegärzte gemacht, was die weitere Privatisierung im Gesundheitsbereich vorantreibe.
Patienten nachts nach Hause?
Auch die Planung, dass Patienten künftig nachts nach Hause entlassen werden könnten, sofern sie selbst zustimmen, sei „ein Witz“, so Böhm. Die amtliche Begründung laute, dadurch Pflegepersonal entlasten zu können. Doch der Personaleinsatz erfordere ja eine langfristige Planung. Außerdem betreffe diese Sonderregelung nur einzelne Patienten, und es sei nicht vorhersehbar, ob diese dann auch wirklich aufgrund ihres Gesundheitszustandes nach Hause entlassen werden könnten. Statt einer Entlastung ergebe das eine Mehrbelastung durch noch mehr Entlassungen und Dokumentationspflichten. Den Wiedertransport in Krankenhaus müssten die Patienten dann auch selbst bezahlen, was wiederum die Patienten belaste.
Außerdem gebe es anstelle einer Überwindung der DRGs, wie angekündigt, eine Ausdehnung der DRGs – auf den ambulanten Bereich. Dabei sei die Höhe noch unklar. Zu befürchten sei ein „massives Sponsoring der Niedergelassenen, eine sehr hohe Vergütung bei niedrigen Vorhaltekosten“ mit dem Ziel der Verlagerung von ambulanten Behandlungen aus dem Krankenhaus zu niedergelassenen Ärzten.
Und noch viel mehr Kritik an der Krankenhausreform hatte Böhm im Anschlag, unter anderem zur künftigen Personalbemessung in der Pflege oder der Versorgung von Kindern und Jugendlichen. Doch die Ärzte im Raum wollten auch noch Kritik loswerden.
Reicht es denn in Zukunft für das Notstromaggregat?
Er habe zuletzt erfahren, dass in Deutschland allein das jährliche Gesundheitsbudget bei 300 Milliarden Euro liege, während in seiner Heimat Griechenland der Gesamthaushalt gerade mal 220 Milliarden betrage – und er frage sich, ob man das ganze Geld wirklich nicht besser verteilen könne, merkte ein junger Arzt an. Und zwar so, dass es für alle reiche, auch das Personal in allen Bereichen ausreichend bezahlt würde und dass die Kliniken genug Geld für ihre Investitionen bekämen, sodass sie operieren könnten und im Notfall auch das Notstromaggregat anspringen würde. Lachen im Raum; in der Woche zuvor war ausgerechnet an der Charité die Stromversorgung ausgefallen.
Reinhard Busse antwortete auf die Frage nach besserer Planung auch des Bedarfs an Ärzten mit der Gegenfrage, ob es in Zukunft in Deutschland weiterhin freie Arztwahl geben solle.
Thomas Böhm verwies hingegen bei der Frage nach einer Alternative zu den DRGs auf das Konzept eines Systems, „das darauf baut, dass Gewinne in Krankenhäusern verboten sind und dass die Kosten, die tatsächlich entstehen und notwendig sind, refinanziert werden. Das hieß früher Selbstkostendeckung.“ Dadurch sei auch eine Reduzierung der Gesamtkosten möglich, denn: „Ein Großteil der Gelder landet in den Taschen von Privaten, ob bei der Pharmaindustrie oder sonst wo.“
Ob das Beharren auf den DRGs damit zusammenhänge, „dass in dieser bürokratischen Blase auch viel Geld verdient wird, ist das vielleicht der eigentliche Grund?“, fragte ein anderer Arzt und erntete Applaus. Und eine Ärztin bemerkte: Ihr werde hier zu viel von Fällen, Diagnosen und Patienten und zu wenig von Menschen geredet. Sie frage sich außerdem, ob der demografische Wandel in dieser Reform schon berücksichtigt sei. „Wenn knapp die Hälfte der stationären Betten in diesem Land im Zuge einer Reform gestrichen werden sollten, dann wird es mir schon ein bisschen angst und bange. Wir sägen hier gerade den Ast ab, auf dem wir selber sitzen.“ Und wieder: Klatschen im Raum.