Charité-Chef: „Von der Kapazitätsgrenze weit entfernt“

Der Vorstandsvorsitzende der Charité, Heyo Kroemer, sagt, die Klinik werde demnächst rund 400 Intensivbetten haben. Stand Donnerstag gab es 61 intensivpflichtige Covid-19-Fälle. Die größte Aufgabe bestehe darin, das medizinische Personal vor Infektionen zu schützen. 

Berlin-Die vergangenen Wochen sind für Heyo Kroemer eine besondere Herausforderung gewesen. Er ist Vorstandschef der Charité, die in Berlin eine Schlüsselrolle bei der Versorgung von Covid-19-Patienten einnimmt. Und er ist Mitglied der Nationalen Wissenschaftsakademie Leopoldina, die am Ostermontag einen ganzen Katalog an Empfehlungen herausgegeben hat, wie das Land aus dem Shutdown zu führen ist. Mit der Berliner Zeitung spricht er über falsche Erwartungen, Kritik an der Leopoldina und die Frage, wie lange das Coronavirus noch das Leben bestimmen wird.

Herr Kroemer, wenn in der nächsten Woche die Geschäfte öffnen: Welches werden Sie denn als Erstes ansteuern?

Das ist eine gute Frage. Ich werde wahrscheinlich als Erstes in einen Buchladen gehen. Aber die hatten doch in den vergangenen Tagen auch geöffnet, oder?

Ja, die waren geöffnet …

Sehen Sie, das habe ich gar nicht gemerkt, weil ich kaum Zeit hatte, irgendwo hinzugehen. Ich würde aber gerne mal wieder in eine Gaststätte gehen. Aber die werden ja auf absehbare Zeit nicht öffnen.

Sie sind Mitglied der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina, die am Ostermontag ihre Empfehlungen zur Lockerung des Corona-Shutdowns vorgelegt hat. Dabei ging es um eine schrittweise Öffnung der Schulen, eine Maskenpflicht im Personen-Nahverkehr und eine Lockerung der Auflagen bei Einzelhandel und Gastronomie. Jetzt liegen die Pläne des Bundes vor – und die sind etwas anders …

Die Leopoldina ist eine wissenschaftliche Akademie, die sich zu verschiedenen Fragestellungen äußert. Wir haben Empfehlungen gegeben für verschiedene medizinische Aspekte, für Schulfragen, für ökonomische Fragen. Klar war aber immer, dass es am Ende des Tages nur eine legitimierte Entscheidung gibt. Und die fällt die Politik. Die Tatsache, dass einige unserer Vorschläge befolgt werden und andere von der Politik differenzierter gesehen werden, halte ich für absolut normal.

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Foto: imago/Jürgen Heinrich
Zur Person
Heyo Kroemer hat an der Technischen Universität Braunschweig Pharmazie studiert und dort 1986 auch promoviert. 1992 habilitierte er an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen. Anschließend arbeitete  Kroemer als Professor an der Ernst-Moritz-Arndt-Universität in Greifswald sowie als Dekan und Vorstandssprecher an der Universitätsmedizin Göttingen.

Die Leopoldina wählte Heyo Kroemer 2018 in die Sektion Physiologie und Pharmakologie/Toxikologie.

Im September vergangenen Jahres übernahm er den Vorstandsvorsitz der Charité.

Bei den Schulen hatte die Leopoldina empfohlen, den Unterricht für die jüngeren Schüler wieder aufzunehmen und die älteren Schüler noch zu Hause zu lassen, weil die oberen Jahrgänge besser digital arbeiten können. Die Politik macht es genau anders herum. Und auch die von der Leopoldina geforderte Maskenpflicht ist politisch nur eine Empfehlung geworden.

Die Leopoldina spricht Empfehlungen aus und sagt etwa, dass eine generelle Maskenpflicht sinnvoll ist. Wenn die Politik pragmatisch handelt und etwas anderes beschließt, ist das eine politische Entscheidung. Allerdings gibt es sicherlich auch Einvernehmen darüber, dass es kein Nachteil ist, eine Maske zu tragen.

Und wie verhält es sich mit den Empfehlungen zur Schule?

Ich bin Pharmakologe und habe ehrlich gesagt mit der betroffenen Altersgruppe sehr wenig zu tun. Aber in der Arbeitsgruppe haben die führenden Bildungsforscher Deutschlands mitgearbeitet. Sie kamen zu dieser Empfehlung. Die Politik kam zu einer anderen Entscheidung. Ich kann das fachlich nicht beurteilen.

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Wenn Sie die Zusammensetzung der Leopoldina schon ansprechen … Kritik gab es ja nicht nur an den Leopoldina-Empfehlungen, sondern auch an der Wissenschaftsakademie selbst. Die Mitglieder seien sei zu alt, zu weiß, zu männlich. Es fehlen Stimmen aus der Praxis, von Pfleger, Erzieherinnen, Sozialarbeiter. Und entsprechend sei das Ergebnis ausgefallen, wurde kritisiert. Sitz die Leopoldina im Elfenbeinturm?

Die Leopoldina ist eine Gruppe von Wissenschaftlern, deren Aufgabe Politikberatung ist. Wir sind keine Interessenvertretung, in der verschiedene gesellschaftliche Gruppen abgebildet werden. Was man aber zu Recht bemängelt hat, ist der zu geringe Frauenanteil in der Kommission. Diese Kritik muss man sicherlich akzeptieren.

Heyo Kroemer, Vorstandsvorsitzender der Charite - Universitätsmedizin Berlin (links), und Berlins Regierender Bürgermeister, Michael Müller (rechts) besichtigen ein Zimmer auf der neu eingerichteten Intensivstation der Charite Campus-Klinik.
Heyo Kroemer, Vorstandsvorsitzender der Charite - Universitätsmedizin Berlin (links), und Berlins Regierender Bürgermeister, Michael Müller (rechts) besichtigen ein Zimmer auf der neu eingerichteten Intensivstation der Charite Campus-Klinik.dpa/Britta Petersen

Nichtsdestotrotz liegt im Moment viel Aufmerksamkeit auf der Leopoldina. Auch, weil sich die Kanzlerin immer wieder auf sie bezieht. Ist das gerechtfertigt – auch im Vergleich zu den anderen Instituten?

Es gibt in der Wissenschaft das Prinzip, dass man sich nie selber bewertet, insofern würde ich die Bedeutung der Leopoldina ungern selbst einschätzen. Wir haben insofern eine besondere Situation, dass wir eine an Wissenschaft und Forschung interessierte Bundeskanzlerin haben. Trotzdem hat sie nie einen Hauch von Zweifel daran gelassen, dass am Ende die Entscheidung bei der Politik liegt.

Und die Kanzlerin hat entschieden. Nämlich, dass wir schrittweise lockern. Sie und Ihre Kollegen haben betont, die Voraussetzungen dafür sei, dass sich die Zahl der Neuinfektionen auf niedrigem Niveau stabilisiert. Dann haben wir jetzt also das Gröbste hinter uns?

Die Frage ist sehr schwer zu beantworten. Vor vier Wochen sind wir noch davon ausgegangen, dass um Ostern rum die Intensivkapazitäten erschöpft sein werden. Wir haben alle miterlebt, dass das nicht eingetreten ist. Der Shutdown wird sicherlich seinen Teil dazu beigetragen haben, auch wenn dies schwer exakt nachzuweisen ist. Klar ist aber auch, dass die Pandemie nicht einfach bis zum 3. Mai beendet sein wird.

Wenn der Hamburger Rechtsmediziner Klaus Püschel recht hat, wäre das auch gar nicht so schlimm. Laut Püschel hatten alle von ihm untersuchten Corona-Toten so schwere Vorerkrankungen, dass sie – auch wenn das hart klingt – im Verlauf dieses Jahres ohnehin gestorben wären. Püschel geht deshalb davon aus, dass die Todeszahlen am Ende des Jahres mit Corona nicht höher sein werden als ohne. Was halten Sie davon?

Das ist eine aus meiner Sicht problematische These, wenn man nach Italien, Frankreich oder nach New York blickt. Sagen Sie dort den Menschen: Das ist im Prinzip nichts anderes als eine Grippe? Ich dachte, dass wir diese Diskussion eigentlich schon hinter uns hatten. Und die Frage, ob Corona am Jahresende signifikant die Mortalitätsstatistik erhöht, die sollten wir nach der Pandemie den Statistikern überlassen.

Rechtsmediziner Püschel sagt auch: Deutschland müsse lernen, mit dem Virus zu leben, und zwar ohne Quarantäne. Das wiederum deckt sich mit Ihrer Einschätzung der Lage …

Man kann gut mit einem Virus leben, wenn es eine Impfung oder effektive Medikamente gibt. Beides haben wir nicht, und das macht die Lage gerade sehr speziell. Irgendwann wird sich das ändern, dann werden wir Sicherheit im Umgang mit dieser Erkrankung haben. Bis dahin aber müssen wir Maßnahmen ergreifen. Und ich finde, da hat sich die Bundesregierung im internationalen Vergleich gut geschlagen.

Zu einem solchen Leben mit Corona gehört auch Veränderung. Viele Menschen haben im Moment Angst, ins Krankenhaus oder zum Arzt zu gehen, weil sie sich vor einer Corona-Infektion fürchten. Wie wird es im Gesundheitssystem weitergehen?

Die Politik hat zu Beginn der Pandemie sehr entschlossen reagiert und entschieden, dass alle nicht zwingend notwendigen medizinischen Aktivitäten einzustellen sind. Jetzt haben wir in der Charité 635 freie Betten. Das wäre im Januar undenkbar gewesen, denn da waren wir noch zu 92 Prozent belegt. Wir müssen jetzt darüber nachdenken, auch dieses System in angemessener Zeit und abhängig von politischen Entscheidungen wieder hochzufahren. Diese Aufgabe ist genauso komplex wie der Neustart der Wirtschaft.

Zumal wir ja im Moment weder eine Impfung noch Medikamente haben …

Deswegen ist auch damit zu rechnen, dass wir innerhalb der kommenden Monate immer wieder lokale Ausbrüche haben werden. Und darauf müssen wir uns intensiv vorbereiten. Wir müssen etwas haben, was im deutschen Medizinsystem in den vergangenen Jahren gar nicht mehr vorgesehen war: eine adäquate Reservekapazität. Darüber werden wir uns Gedanken machen müssen.

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Foto: dpa/Christophe Gateau
Haus der Nobelpreisträger
Die Charité zählt nach eigenen Angaben zu den größten Universitätskliniken Europas. Im Jahr 2010 konnte die Charité auf eine 300-jährige Geschichte zurückblicken.Über die Hälfte der deutschen Nobelpreisträger für Medizin und Physiologie stammen aus der Charité, unter ihnen Emil von Behring, Robert Koch und Paul Ehrlich, heißt es auf der Internetseite des Klinikums.

Auf insgesamt vier Campi verteilt sich die Charité. Zu ihr gehören  rund 100 Kliniken und Institute gehören.

Mit knapp 14.600 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern erwirtschaftet  die Charité nach eigenen Angaben 1,8 Milliarden Euro Gesamteinnahmen pro Jahr und ist damit einer der größten Arbeitgeber Berlins.

Mit Tochterunternehmen hat die Charité - so heißt es auf der Internetseite - 18.010 Beschäftigte. 

Stichwort intensivmedizinische Kapazität. Wie sieht es denn im Moment an der Charité aus?

Wir haben demnächst rund 400 Intensivbetten an der Charité. Stand Donnerstag hatten wir 61 intensivpflichtige Covid-19-Fälle. Rein nach der Bettenzahl sind wir also von der Kapazitätsgrenze weit entfernt.

Und wie sieht es mit den personellen Kapazitäten aus?

Es ist für uns von überragender Bedeutung, dass sich unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nicht infizieren, damit das Krankenhaus arbeitsfähig bleibt. Wir sind gerade dabei, uns einen Komplettüberblick über die Charité zu verschaffen. Weil die Zahl der pro Tag verfügbaren Tests in der Labor Berlin GmbH, die je zur Hälfte der Charité und Vivantes gehört, auf 5000 gestiegen ist, können wir das gesamte Personal testen. Wir machen Abstriche und untersuchen das Blut nach Antikörpern, um zu sehen, wer schon mit dem Virus infiziert war. Wichtig ist aber auch, dass wir schnellstmöglich anfangen, alle Patienten, die ins Haus kommen, zu testen.

Sie wollen wirklich alle Patienten testen?

Ja wollen wir, auch wenn wir dies nicht gleich morgen umsetzen werden, so streben wir es an. Es sollen dann auch diejenigen, die mit anderen Krankheitsbildern in die Klinik kommen getestet werden. Selbst, wenn diese Patienten keine Symptome haben, können sie trotzdem mit dem Virus infiziert sein und das Personal anstecken. Allerdings müssen auch dieses Tests freiwillig sein.

Aber im Moment dauert es doch noch mehrere Stunden, bis die Testergebnisse vorliegen …

Es sind bereits Verfahren in der Entwicklung, die viel schneller gehen. Auch deswegen bin ich sicher, dass so ein Verfahren kommen wird, das wird aber ein bisschen dauern.

Haben Sie sich eigentlich selber schon testen lassen?

Nein, noch nicht, es gab dafür keinen Grund. In der unmittelbaren Krankenversorgung bin ich nicht eingesetzt. Ich versuche ja nur gemeinsam mit meinen Vorstandskollegen, einen Beitrag zu leisten, um das Ganze zu organisieren. Aber wenn das komplette Personal getestet wird, wird sicherlich auch vor meiner Tür ein Testteam stehen.