Corona: Wie Impfschäden immer noch heruntergespielt werden

Gesundheitsminister Karl Lauterbach findet Post-Vac deutlich weniger schlimm als Post Covid. Ein Forscher widerspricht. Und dann wäre da noch ein Brandbrief von Betroffenen.

„Viele sagen mir jetzt: Wenn ich Covid-19 bekomme, wird mir geholfen – wenn ich Impfnebenwirkungen bekomme, wird mir nicht geholfen. Also lasse ich mich nicht mehr impfen“, berichtet Tamara Retzlaff. „Das ist fatal.“
„Viele sagen mir jetzt: Wenn ich Covid-19 bekomme, wird mir geholfen – wenn ich Impfnebenwirkungen bekomme, wird mir nicht geholfen. Also lasse ich mich nicht mehr impfen“, berichtet Tamara Retzlaff. „Das ist fatal.“imago images

Der Brandbrief ist unterschrieben von Hunderten Patienten, Betreff: „Unterlassene Hilfeleistung bei Impfnebenwirkungen“. Er ist adressiert an die Bundestagsabgeordneten und Mitglieder im Gesundheitsausschuss, an Frank Ulrich Montgomery als Ratsvorsitzenden des Weltärztebundes und weitere Ärztevertreter sowie an Wissenschaftler und Forscher der Unikliniken. Die Unterzeichner kritisieren den Umgang mit unerwünschten Nebenwirkungen der Corona-Schutzimpfung.

Schwerste Impfnebenwirkungen ignoriert?

Nach wie vor würden teils hochrangige Wissenschaftler und Politiker in Deutschland diese öffentlich herunterspielen und damit schwerste Beschwerden der Patienten negieren, heißt es darin. „Unter anderem sprechen wir von Entzündungsreaktionen, Autoimmunprozessen, kardiologischen und neurologischen Beschwerden, die so schwerwiegend sind, dass ein Großteil der Betroffenen seinen Alltag nicht bewältigen, seiner Arbeit nicht nachgehen und seine Kinder nicht mehr alleine versorgen kann“, schreiben die Geschädigten. Der Brandbrief ging Mitte Juni an Politik und Medien. Nachgefragt bei einer Sprecherin, ob und wie darauf reagiert wurde, heißt es: Von den Medien hätten sich deutschlandweit nur drei zurückgemeldet. Aus der Politik: niemand.

Dass Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach im August 2021 von einer „nebenwirkungsfreien“ Impfung twitterte, noch im November den Zusammenhang von Corona-Impfungen und schweren Nebenwirkungen bei „Anne Will“ in der ARD als „schäbige Desinformation“ betitelte und sogar noch im Februar 2022 bekräftigt habe, dass es so gut wie keine Nebenwirkungen der Impfungen gebe, kann Tamara Retzlaff nicht nachvollziehen.

„Es gab schon im Juni 2021 eine Pressekonferenz in den USA zu Impfnebenwirkungen, das heißt: Da wurde das Thema schon öffentlich groß diskutiert. Die Fälle dort waren identisch mit uns, sie haben dieselben erhöhten Autoimmunkörper im Blut und dieselben erheblichen Beschwerden“, erklärt die 28-Jährige aus der Nähe von Stuttgart, eine der Sprecherinnen der Geschädigten-Initiative. „Ich selbst bin zwei Monate später zur Impfung gegangen, das war zehn Tage nachdem Karl Lauterbach schrieb, die Impfung sei nebenwirkungsfrei.“ Retzlaff kann nicht verstehen, wie Politik, Medizin und Forschung damals noch so hätten tun können, als wisse man in Deutschland gar nichts von unerwünschten Nebenwirkungen. „Und dann im Februar noch mal, da hatte ich meinen Fall schon mehrfach an das Paul-Ehrlich-Institut gemeldet.“

Wohlgemerkt: Es geht um schwere Impfnebenwirkungen, nicht zu verwechseln mit leichten oder nach wenigen Tagen vorübergehenden Impfreaktionen wie Kopfschmerzen oder Schmerzen an der Einstichstelle. Retzlaff plagen die schweren Beschwerden seit der Impfung (die Berliner Zeitung berichtete im April über sie und andere Impfgeschädigte). Sie litt ununterbrochen an Schwindel, Kopfschmerzen, Wortfindungsschwierigkeiten, Konzentrations- und Gedächtnisproblemen, extremer Müdigkeit, Atemnot, Herzstechen, Muskel- und Gliederschmerzen, Zuckungen und Taubheitsgefühlen. „Ich wurde völlig aus dem Alltag gerissen“, so die Marketing-Expertin, die ihren Job aufgeben musste, kein selbstständiges Leben mehr führen konnte und zeitweise gar im Rollstuhl saß. Im April 2022 verschlechterte sich ihre körperliche Verfassung so stark, dass sie akute Angst um ihr Leben bekam.

Marburg kann Betroffenen helfen – aber nicht alleine

Zu ihrer Rettung wurde damals die Long-Covid-Sprechstunde der Uniklinik Marburg, die sich seit Januar verstärkt um das sogenannte Post-Vaccine-Syndrom kümmert, weil sich zunehmend dort Patienten meldeten, die starke Long-Covid-Symptome hatten, ohne je mit dem Corona-Virus infiziert worden zu sein – nachgewiesenermaßen. Sie alle hatten außer den Beschwerden noch eines gemeinsam: Sie waren kurz zuvor gegen Sars-Cov-2 geimpft worden.

Professor Bernhard Schieffer als Leiter der Einrichtung erklärte der Berliner Zeitung damals, man müsse mit Blick auf eine mögliche neue Impfkampagne im Herbst 2022 „jeden Patienten, den man impft, sehr genau anschauen“ – weil die Impfung offenbar bisher unentdeckte Autoimmunerkrankungen demaskieren oder aus anderen Gründen entzündliches Vorgehen im Körper befeuern könne. Ähnlich wie die Corona-Erkrankung selbst oder eben Long Covid.

Lauterbach findet Impfnebenwirkungen weniger schlimm als Post Covid

Auch der Gesundheitsminister hat zuletzt eingestanden, dass die Impfung Nebenwirkungen verursachen könne. Am 16. Juni veröffentlichte das Gesundheitsministerium ein kurzes Info-Video dazu, in dem Lauterbach Fragen zu Impfnebenwirkungen beantwortet. Darin sagt er unter anderem:

„Als Post-Vac-Syndrom bezeichnet man das Syndrom, wo nach der Impfung die Menschen sich nicht so gut konzentrieren können wie vorher oder wo also Nebenwirkungen vorkommen. So ähnlich wie bei Post Covid. Allerdings seltener, viel seltener und auch weniger schwer. Das muss ernst genommen werden, das wird untersucht, das kann man nicht unter den Teppich kehren. Es ist aber nicht vergleichbar mit der Schwere der Erkrankung von Post Covid.“

Daraufhin twitterte Professor Schieffer:

„Leider decken sich ihre Äußerungen zu Schweregrad von Post-Vac, der geringer als Long Covid sein soll, nicht mit unseren klinischen Erfahrungen. Ich würde empfehlen, solche Äußerungen zurückhaltend zu tätigen, da Betroffene jedweder Erkrankungsentität vor den Kopf gestoßen werden.“

Auch Tamara Retzlaff hält die neueren Äußerungen von Lauterbach für „unglücklich“: „Das Post-Vaccine-Syndrom ist deutlich mehr als Konzentrationsschwierigkeiten. Wir haben Leute, die im Rollstuhl sitzen oder nur noch im Bett liegen können. Es ist fahrlässig, die Patientengruppen so gegeneinander auszuspielen.“ Und sie sagt: „Wir können diese Leute doch nicht einfach in ihren Betten liegen lassen.“ Aber nach wie vor gebe es für solche Patienten kaum Ansprechpartner und Hausärzte seien weiter hilflos. Weil die entsprechende Forschung fehle.

Ihr selbst konnte in Marburg insoweit geholfen werden, dass sie zumindest wieder laufen kann. „Dafür bin ich sehr, sehr dankbar.“ An Arbeiten sei aber noch lange nicht zu denken. „Heute Vormittag war ich kurz draußen, danach musste ich mich den Rest des Tages wieder hinlegen.“ Trotzdem habe sie noch großes Glück gehabt, in Marburg überhaupt eine Behandlung zu erhalten. Denn die Warteliste dort ist lang, die Behandlungsplätze waren schon im April bis 2023 ausgebucht.

Selbsthilfegruppe: „Völlig überflutet von all diesen Betroffenen“

Retzlaff betreut nun mit anderen Helferinnen und Angehörigen weitere Betroffene aus ganz Deutschland in einer Selbsthilfegruppe. Sie selbst sei Ansprechpartnerin für rund 1000 Fälle, andere hätten mehrere Tausend, deren Anfragen sie regelmäßig beantworten müssten. „Man fühlt sich völlig überflutet von all diesen Betroffenen. Es wäre utopisch, allen einzeln antworten zu können. Wir versuchen, Strukturen aufzubauen, Infoblätter zu verteilen und Kontakte anzubieten – was alles eigentlich gar nicht unsere Aufgabe wäre. Das nimmt sehr viel Zeit in Anspruch“, erzählt Retzlaff, die deshalb zusammen mit den anderen Geschädigten in ihrem Brandbrief an die Politik schreibt:

„Konkret fordern wir vom Deutschen Bundestag: 1.) Bundesweite Anlaufstellen für Betroffene von Impfnebenwirkungen, 2.) Forschungsgelder für die Ursachenforschung und Therapie, 3.) Anerkennung und wissenschaftliche Aufarbeitung, 4.) Finanzielle Ausgleichszahlungen.“

Bisher verwies der Bund im Falle von Impfschäden auf die Versorgungsämter, die nach eingehender Prüfung eine monatliche Grundrente als Ausgleichszahlung bei Berufsunfähigkeit zahlen – doch der Weg dorthin ist lang und das Ende oft unerquicklich: Wer es geschafft hat, sich als Patient den Impfschaden als solchen vom selben Amt hat anerkennen zu lassen, das dafür dann auch zahlen soll, bekommt im Höchstfall rund 800 Euro monatlich – plus die Erstattung der Behandlungskosten. Tamara Retzlaff weiß von Mitstreitern, die anteilig im Monat nur 120 Euro erhalten. Sie fragt: „Was ist das gegen ein zerstörtes Leben?“

Die Impfgeschädigte ist weiterhin nicht grundsätzlich gegen Impfungen. Sie bemängelt allerdings, dass es in Deutschland kaum verwertbare Forschung und Zahlen zu der Thematik gibt und dass auch jetzt noch kaum weiter daran geforscht werde. Und vor allem: Dass die Thematik der Impfnebenwirkungen teils von höchsten Stellen weiter heruntergespielt und die Betroffenen alleingelassen würden: „Wie man in diesem Blindflug einmal mehr in den Herbst gehen kann, ist mir ein Rätsel.“

Inzwischen schreiben auch größere Medien über Impfschäden

Immerhin: Dass sich in den vergangenen Wochen immer mehr weitere Medien hervorgewagt und einzelne Berichte über Impfnebenwirkungen gebracht hätten, mache ihr Mut. Es habe auch dazu geführt, dass sie und viele weitere Betroffene nicht mehr so stark ausgegrenzt würden wie noch zu Beginn des Jahres oder 2021. Da außerdem immer mehr Menschen Betroffene kennen würden, würden sich auch immer mehr Leute in ihrem Umfeld, die bisher die Impfung gut vertragen hätten, die nächste Impfung gut überlegen. „Das ist fatal“, sagt Tamara Retzlaff, „denn viele sagen mir jetzt: Wenn ich Covid-19 bekomme, wird mir geholfen – wenn ich Impfnebenwirkungen bekomme, wird mir nicht geholfen. Also lasse ich mich jetzt nicht mehr impfen.“ Retzlaff findet: „Dass unter diesen Umständen viele zögerlich werden, sollte auch einem Bundesgesundheitsminister klar sein.“

Und dann war da noch die Sache mit der Charité.

Ende April hatte der MDR über eine Studie berichtet, die der Berliner Stiftungsprofessor Harald Matthes dort durchführte, unter anderem zur Erfassung von Impfnebenwirkungen. In dem TV-Beitrag hatte Matthes gesagt, er gehe von einer Untererfassung durch das Paul-Ehrlich-Institut aus. Anstelle der dort vermuteten 0,02 Prozent schweren Impfnebenwirkungen seien es nach seinen Schätzungen eher 0,8 Prozent – also 40-mal so viel. Auch Hausärzte hatten damals schon davon berichtet, die Berichterstattung an das PEI dauere zu lang und finde im Praxisalltag kaum Platz, zumal sie nicht vergütet werde. Traditionell gelten Arzneimittelnebenwirkungen in Deutschland unter anderem aus diesen Gründen als untererfasst.

Charité empfiehlt Stiftungsprofessor, Studie nicht weiterzuführen

Matthes forderte in dem TV-Beitrag außerdem mehr Anlaufstellen für Betroffene, wie es nun auch die Betroffenen selbst mit ihrem Brandbrief forderten. Doch kurz nach der Ausstrahlung gab es Berichte über methodische Mängel:

Die Teilnehmer seien nicht repräsentativ ausgewählt worden, es habe keine Kontrollgruppe gegeben, Interessenten hätten sich im Netz selbst anmelden können, eine Überprüfung der Daten habe nicht stattgefunden. Für die Auswertung und die Validität der Ergebnisse sei das ein Problem. Denn: Einen repräsentativen Datensatz über die Häufigkeit von Impfreaktionen durch eine freiwillige Internetbefragung aufzubauen, sei dadurch nicht möglich. Die Charité nahm daraufhin die Studie vom Netz.

Nachgefragt bei der Charité, erklärte ein Sprecher, dass es berechtigte Kritik aus dem eigenen Haus und von Wissenschaftsjournalisten gegeben habe. Matthes sei Inhaber einer Stiftungsprofessur für Anthroposophie, der eigentliche Experte für Impfung und Impfnebenwirkungen im Haus sei aber neben Christian Drosten der Impfstoffforscher und neue Leiter der Klinik für Infektiologie, Leif Erik Sander.

Noch mal nachgefragt: Warum stoßen diese beiden dann keine Studie zu (schweren) Impfnebenwirkungen an oder leiten diese gar? Vor einem Jahr, als Matthes seine Beobachtungsstudie an der Charité begann, gab es dazu offenbar keine limitierenden Einwände. Das sei eine Frage der zeitlichen Ressourcen, heißt es aus dem Haus.

Vor einer Woche nun hat die Charité die Prüfung der Studie aufgrund der Kritik abgeschlossen und öffentlich verkündet, dass sie dem Stiftungsprofessor anempfehle, die Studie nicht weiterzuführen. Der Studienleiter selbst war für eine Stellungnahme nicht zu erreichen.