Die vergessenen Kranken
Sibylle Dahrendorf lebt mit einer Krankheit, die kaum ein Arzt diagnostizieren kann. Hunderttausende fallen mit ME/CFS durchs Netz des Gesundheitssystems.

Berlin-Irgendwo in Prenzlauer Berg steht hinter einem Fenster mit einem goldfarbenen Vorhang ein Bett. Wenige Schritte davon entfernt befindet sich ein Sofa. Sofa und Bett, auf diesen Radius ist die Welt von Sibylle Dahrendorf zusammengeschnurrt. Sofa und Bett, zwischen diesen beiden Polen spielt sich das Leben der 56-Jährigen ab, im Liegen. Jeden Tag, seit Jahren schon.
Sibylle Dahrendorf leidet an einer Erkrankung, die kaum ein Arzt diagnostizieren kann, die kaum einer sieht, weil die Gesundheitspolitik sie schon lange ignoriert. ME/CFS Myalgische Enzephalomyelitis /Chronisches Fatigue-Syndrom heißt die Krankheit. Seit über 50 Jahren gibt es einen WHO-Diagnoseschlüssel, doch noch immer kämpfen Patientenorganisationen für eine Anerkennung durch Krankenkassen, für medizinische und soziale Versorgung sowie für interdisziplinäre Forschung. Schätzungsweise 250.000 Menschen leben in Deutschland mit ME/CFS, darunter 40.000 Kinder und Jugendliche – die Dunkelziffer ist wahrscheinlich noch höher. Mit Long Covid könnten es schon bald Zehntausende mehr werden.
Dieser Text entsteht über viele Tage hinweg, an denen Sibylle Dahrendorf einzelne Fragen per Sprachnachricht beantwortet. Nachdem sie gesprochen hat, muss sie sich ausruhen. Sibylle Dahrendorfs Leben ist eine einzige Pause, die doch keine Erholung bringt. Lebendig begraben, isoliert, Quarantäne für immer, so beschreiben Betroffene wie sie ihren Zustand.
Eigentlich geht es nur ums Durchhalten
„Ich habe seit Jahren keinen guten Tag mehr. Ich kann fünf bis zehn Minuten sitzen, das bringt mich an die Grenzen, mehr passiert nicht. Im Liegen versuche ich Symptome auszuhalten, das ganze neurologische Paket: Schwindel, Tinnitus, Kopfgeräusche, Brennen, widerliche Schmerzen, Elektroschocks im Körper. Ich kann wenigstens noch reden, viele können das nicht.“ Eigentlich gehe es nur ums Durchhalten, die nächste Stunde, die nächsten Minuten.
Eine Person kümmert sich um ihr Essen, kauft ein. Diese Hilfe bezahlt Sibylle Dahrendorf vom Pflegegeld, das sie bekommt. Pflegegrad 3 wurde ihr bewilligt. „Aber eigentlich reicht das nicht. Ich müsste eine Erhöhung beantragen, doch ich habe Angst vor dem ganzen Procedere.“
Neben dem Sofa steht ein Tisch, darauf biomedizinische Fachbücher, die Sibylle Dahrendorf längst nicht mehr lesen kann, und Bücher über schwer kranke Menschen, die es doch geschafft haben, rauszukommen aus dieser Spirale. Die Berichte von Genesenen sind ihre einzige Hoffnung. „Ich ertrage meinen Zustand nur durch meinen unaufhörlichen Wunsch, zu genesen und zu leben.“
Dreieinhalb Jahre bis zur Diagnose
Bevor Sibylle Dahrendorf in den gesundheitlichen Malstrom geriet, ist sie mit ihrer Kamera in viele Länder gereist. „Ich habe Reportagen fürs Fernsehen gemacht.“ In Afrika war sie mit Christoph Schlingensief im Operndorf, immer wieder filmte sie in Sarajewo. In der Sprachnachricht gibt es eine kurze Pause. „Darüber zu sprechen, macht mich sehr traurig“, sagt Sibylle Dahrendorf. Sie tut es dennoch, denn sie will, dass Menschen wie sie, die in Zimmern liegen und vergessen sind, endlich gehört werden. „Mein Leben war unterwegs, ich habe mich immer sehr wohl gefühlt im Kontakt mit den Menschen.“ Umso schwerer ist es nun, abgeschnitten von der Außenwelt dahinzuvegetieren.
Der Auslöser für ihre Abwärtsspirale waren eine Titanimplantation in den Kiefer und eine Antibiotikagabe, so stellt es sich zumindest für Sibylle Dahrendorf dar. Immer mehr Symptome tauchen auf und ein letzter Infekt. Sie gerät aus dem Tritt, weiß nicht, was mit ihr los ist. Dreieinhalb quälende Jahre dauert es bis zur Diagnose. Dahrendorf geht durch eine Odyssee von Falschdiagnosen und Therapien, die das Leiden verschlimmerten, statt es zu lindern. In der Charité-Fatigue-Ambulanz von Professor Carmen Scheibenbogen sieht sie ihre Diagnose zum ersten Mal auf Papier: ME/CFS. Endlich hat ihr Leiden einen Namen, doch das ändert nichts.
ME/CFS -Erkrankungen werden verharmlost
Denn es gibt keine Anlaufstelle, keine Ursachenforschung, keine Therapie für ME/CFS- Betroffene. „Wir fallen durch alle Netze, medizinische, soziale, politische“, sagt Sibylle Dahrendorf. Die Krankheit werde immer noch fälschlich als psychogen oder als Anpassungsstörung verharmlost. Auch Hausärzte sind überfordert von der neuroimmunologischen Erkrankung, die mit einer Vielzahl an gravierenden Symptomen einhergeht. Entkräftung, die es unmöglich macht, zu stehen oder zu gehen. Tägliche Handlungen wie Einkaufen, Duschen, Essenszubereitung werden unmöglich. Dazu kommen Missempfindungen, Taubheitsgefühle, Lähmungen, inneres Vibrieren, Schmerzen am ganzen Körper, Atemnot, Sehstörungen, Kopf und Ohrgeräusche, Schwindel, Herzrasen, die körpereigene Blutdruckregulierung funktioniert nicht, Konzentrationsstörungen treten auf und Brain Fog. Eine Verschlimmerung der Symptome erfolgt oft nach minimaler Anstrengung. Manche Betroffene müssen dauerhaft im Dunklen liegen, manche werden künstlich ernährt.
Bei Behörden weiß man zu wenig über ME/CFS
Eine Erkrankung, die nicht offiziell anerkannt wird, sorgt nicht nur für körperliche und psychische Probleme bei Betroffenen, sondern auch für praktische. Wie werde ich versorgt, wie bekommen ich einen Pflegegrad? Wie bekomme ich Hilfsmittel, Rente, Schwerbehindertengrad? Themen, mit denen man sich, wenn man jung ist, überhaupt nicht befassen möchte. „Menschen mit ME/CFS kämpfen jeden Tag um ihr Überleben, und darum, von Ärzten und Behörden ernst genommen zu werden. Doch mit welcher Kraft eigentlich, wenn es schon unmöglich ist, alleine zu Duschen?“
„Wendet euch an die bestehenden Einrichtungen, heißt es auf Briefe und Hinweise von Betroffenen an das Bundesgesundheitsministerium.“ Doch bei Rentenkassen und Pflegegutachtern weiß man oft nichts über ME/CFS. Ein Teufelskreis, der unterbrochen werden muss. Denn schon jetzt zeichnet sich ab, dass mit Covid auch die Zahl derer zunimmt, die eine solche Erkrankung entwickeln.
„Kein Politiker will eingestehen, dass man, wenn man bereits früher zu ME/CFS geforscht hätte, unter Umständen jetzt schon Ansätze für Long Covid hätte“, sagt Sibylle Dahrendorf.
In den Niederlanden würde gerade ein riesengroßes Forschungspaket auf den Weg gebracht. Das müsse jetzt hier auch geschehen. „Ich erwische mich bei dem Gedanken: Warum habe ich nicht lieber Krebs gekriegt oder Multiple Sklerose? Dass man mit einer Erkrankung zu Hause herumliegt, bei der einem Behandlung und Versorgung verwehrt sind, das ist als Lebensziel ziemlich bitter.“
Interdisziplinäre Forschung ist nötig
Dennoch glaubt Sibylle Dahrendorf daran, dass ihr Zustand verbesserungsfähig ist. Forschung müsse sich endlich damit beschäftigen, was Infektionen im Körper anrichten. Was passiert, wenn Virusinfektionen auf bakterielle Infektionen treffen, wenn ein Virus auf eine Borreliose trifft, wenn Herpesviren reaktiviert werden? Wie entstehen Mitochondrienschädigungen? Wieso leiden einige Betroffene, wie sie auch, zusätzlich an einer Halswirbelsäulen-Instabilität? In welcher Verbindung stehen auch Schädigungen durch Medikamente? All das und noch viel mehr wird bisher nicht umfassend untersucht. Es ist ein medizinischer Skandal, den keiner beim Namen nennt: eine große multisystemische Erkrankung wird von der Gesundheitspolitik ignoriert.
„Eine schwere Form von ME/CFS gleicht dem Endstadium von Krebs oder HIV, nur dass wir in diesem Zustand jahrelang verharren müssen“, sagt Sibylle Dahrendorf. „Wir haben nicht einmal eine Palliativversorgung. Lebensqualität? Gibt es nicht.“

Markus Wächter
Ihre verschwindend geringe Energie setzt sie daher auf ein einziges Ziel: endlich wahrgenommen werden, Verbesserungen in der Versorgung einfordern, auf Forschung bestehen. Sibylle Dahrendorf muss nicht lange überlegen, welche Erwartungen sie an die Politik hat: eine Entschuldigung dafür, dass Menschen wie sie jahrelang in die Psychosomatik abgeschoben wurden. Die Einrichtung interdisziplinärer Forschungsstudien. Die Anerkennung durch Krankenkassen. Eine flächendeckende Versorgung für die Schwersterkrankten und für die Angehörigen, die sie pflegen. „Es braucht Weiterbildung an den Unis, Broschüren, das ist richtig viel Arbeit“, sag Sibylle Dahrendorf.
Jemand muss sie angehen, für die Menschen, in den Zimmern, hinter den Vorhängen, die nichts lieber tun würden, als hinauszugehen und ein Leben zu leben.