Berliner Forscher: EU verschwendet die Hälfte der ukrainischen Weizenexporte
Angesichts des Krieges in der Ukraine fordern Wissenschaftler verschiedenster Institutionen einen Umbau des weltweiten Nahrungsmittelsystems.

Berlin-Von der Ukraine ist mitunter als „Kornkammer Europas“ die Rede. Die dortigen humusreichen Schwarzerde-Böden gehören zu den besten Ackerflächen der Welt. Das Land exportiert etwa 70 Millionen Tonnen Getreide pro Jahr – Weizen, Mais und andere Sorten. Doch durch den Krieg werde das Land in diesem Jahr wohl als Exporteur ausfallen, sagen Ökonomen. „Die Lage ist schlimm, in einigen Ecken katastrophal. Mit einer Aussaat rechnen wir noch nicht mal“, zitierte jüngst der Deutschlandfunk den ukrainischen Agrarunternehmer Alex Lissitsa. Hinzu kommt, dass Russland und die Ukraine führende Exporteure von Düngemitteln und Ölsaaten sind. Letztere sind Samen, aus denen man Sonnenblumen-, Raps-, Soja- und Leinöl gewinnt.
Aus Anlass des Kriegs in der Ukraine fordern Forschende aus Berlin und Potsdam, generell über das „weltweite Nahrungsmittelsystem“ nachzudenken. „Wir brauchen eine Transformation des Ernährungssystems – angesichts des Ukraine-Kriegs jetzt mehr denn je“, ist (aus dem Englischen übersetzt) eine Erklärung überschrieben, die von Autorinnen und Autoren des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung (PIK), der Charité – Universitätsmedizin Berlin, der University of Oxford und dem Thünen-Institut Braunschweig gemeinsam veröffentlicht wurde. Bisher sollen sich mehr als 600 Fachleute aus verschiedenen Ländern dem Anruf angeschlossen haben.
Es gibt mehr als genug Nahrungsmittel, um die Welt zu ernähren
Die Wissenschaftler sehen die Folgen des Kriegs in der Ukraine in einem größeren Zusammenhang – auch mit der weltweiten Klima- und Biodiversitätskrise. Die weltweite Ernährungsunsicherheit werde nicht durch eine Einschränkung des Nahrungsmittelangebots verursacht, sondern durch eine ungleiche Verteilung, erklärt die Autorin Sabine Gabrysch, Leiterin des Forschungsbereichs Klimaresilienz am PIK und Professorin am Institut für Public Health der Charité. „Es gibt mehr als genug Nahrungsmittel, um die Welt zu ernähren, auch jetzt bei diesem Krieg.“ Allerdings werde das Getreide an Tiere verfüttert, als Biokraftstoff verwendet oder einfach verschwendet, anstatt hungrige Menschen zu ernähren, sagt Sabine Gabrysch.
Umweltvorschriften aufzuweichen, um die Lebensmittelproduktion zu steigern, löse die Krise nicht, so Gabrysch. Gemeint ist damit zum Beispiel, dass die EU mit der Pestizid-Verordnung und dem Renaturierungsgesetz zwei wichtige Vorhaben für den nachhaltigen Umbau der Landwirtschaft auf unbestimmte Zeit verschoben habe, um die Lebensmittelproduktion zu steigern und die Ernährungsbranche von Importen unabhängiger zu machen. Angesichts des auch in Deutschland zu spürenden Klimawandels und des Artensterbens sind das für die Wissenschaftler Schritte in eine völlig falsche Richtung.
In ihrer Erklärung schlagen sie drei Hebel vor, „um die kurzfristigen Schocks zu bewältigen und gleichzeitig die menschliche Gesundheit und eine langfristige nachhaltige Entwicklung zu gewährleisten“, wie es in der PIK-Mitteilung heißt.
Etwa 60 Prozent des Getreides werden für Tierfutter genutzt
Der erste Hebel bestehe in einer „Beschleunigung der Umstellung auf eine gesündere Ernährung mit weniger tierischen Erzeugnissen in Europa und anderen Ländern mit hohem Einkommen, wodurch sich die für Tierfutter benötigte Getreidemenge verringern würde“. Etwa 60 Prozent des Getreides in der EU würden für Tierfutter genutzt. Die Forschenden schätzen, dass man den Einbruch der Importe von Getreide und Ölsaaten aus der Ukraine kompensieren könnte, wenn man den Verbrauch von Viehfutter um etwa ein Drittel verringern würde. Eine Verringerung des Fleischkonsums habe auch positive Effekte auf Umwelt, Klima und Gesundheit.
Des Weiteren schlagen die Forschenden eine „Steigerung der Produktion von Hülsenfrüchten und eine weitere Ökologisierung der EU-Agrarpolitik“ vor, „auch um die Abhängigkeit von russischem Stickstoffdünger und Erdgas zu verringern“. Sie erinnern an die „Farm-to-Fork-Strategie“ der EU von Mai 2020, die jetzt in Gefahr sei. Diese ziele darauf, den Stickstoffüberschuss zu halbieren und den ökologischen Landbau auf 25 Prozent der Flächen auszuweiten. Das würde die Importabhängigkeit von Russland, was zum Beispiel Dünger betrifft, deutlich verringern.
„Mehr Vielfalt in den Fruchtfolgen durch Einbeziehung von stickstofffixierenden Leguminosen könnten synthetischen Dünger durch biologischen ersetzen“, schreiben die Forschenden. Damit ist gemeint, dass man unter anderem Futtererbsen, Ackerbohnen, Soja, Lupinen und andere Hülsenfrüchtler (Leguminosen) anpflanzt. Diese können selbst Stickstoff aus der Luft (N2) binden. Und zwar passiert das über Bodenbakterien, die von Pflanzenwurzeln angelockt werden. Sie dringen in die Wurzeln ein und verursachen Knöllchen. Die Bakterien binden molekularen Stickstoff und wandeln ihn zu Ammoniak und Ammoniumstickstoff um.
Etwa 30 Prozent aller produzierten Lebensmittel werden verschwendet
Als dritten Hebel sehen die Wissenschaftler eine „Verringerung der Lebensmittelverschwendung, da beispielsweise die Menge an vergeudetem Weizen allein in der EU etwa der Hälfte der Weizenexporte der Ukraine entspricht“. Etwa 25 Prozent des gesamten Getreides in der EU würden in den Haushalten verschwendet. Privathaushalte könnten „den kurzfristigen Druck auf die globalen Märkte mindern“, indem sie besser mit Nahrungsmitteln umgingen.
Insgesamt würden – auf den verschiedenen Stufen von Herstellung und Verbrauch – 30 Prozent aller produzierten Lebensmittel verschwendet, so die Forschenden. Ziel sei es, die Lebensmittelverschwendung bis 2030 zu halbieren – für einen nachhaltigen Ressourcenverbrauch „innerhalb der planetaren Grenzen“ und eine Verringerung des ökologischen Fußabdrucks. Doch die bisherigen politischen Maßnahmen seien nicht geeignet, dieses Problem angemessen anzugehen.
Kurzfristige Lösungen ohne Rücksicht auf Folgen sind gefährlich
Die Wissenschaftler beklagen, dass die jetzigen kurzfristigen Lösungen „ohne Rücksicht auf die längerfristigen Folgen“ künftige Risiken verschärften, einschließlich der Gefahr, kritische Kipppunkte der natürlichen Systeme des Planeten zu überschreiten. „Wir können und sollten auf die kurzfristige Krise in einer Weise reagieren, die auch geeignet ist, die langfristigen Krisen des Welternährungssystems zu bewältigen“, sagt der Gesundheitswissenschaftler Marco Springmann, einer der Mitautoren von der University of Oxford.
Ihre Forderungen haben die Wissenschaftler am Freitag in einem offenen Brief an die Bundesregierung bekräftigt. Neben PIK und Charité sind hier auch Forschende der Universität Göttingen, der TU Berlin sowie der Universitäten München und Rostock beteiligt. Federführender Autor ist Lukas Fesenfeld von der ETH Zürich und der Universität Bern. „Von zentraler Bedeutung für eine umfassende Transformation des Ernährungssystems ist, dass nun rasch produktions- und konsumseitige Maßnahmen strategisch ineinandergreifen“, erklärt Fesenfeld. Zu den konkreten Vorschlägen gehören zum Beispiel eine geringere Mehrwertsteuer auf pflanzliche Produkte, eine erhöhte Mehrwertsteuer für Fleischprodukte, Vorgaben zur Flächenbindung, Umbauprämien für Landwirte, Bildungsprogramme zur Ernährungsumstellung sowie „eine rasche Anpassung der Beimischungsquote, um die Nutzung von Bioethanol aus Energiepflanzen zu reduzieren“.
Die derzeit für die Bioethanol-, Futtermittel- und Tierproduktion genutzten Agrarflächen sollten verstärkt für den Anbau pflanzlicher Lebensmittel für den menschlichen Konsum genutzt werden. In einer Erklärung der Uni Göttingen zum offenen Brief heißt es zur Veranschaulichung: „Rund zehn Quadratmeter Ackerfläche bringen entweder Getreide für circa ein Kilogramm Schweinefleisch oder für mindestens zehn Kilogramm Brot für die Welt.“