Corona-Debatte: Es ist Zeit für eine Rückkehr zur wissenschaftlichen Seriosität
Zulassungsdesaster? Menschenversuche? Die Fronten in der Diskussion um die Zulassung der Corona-Impfstoffe sind verhärtet. Zeit für eine seriöse Aufarbeitung.

In der Debatte rund um die Corona-Thematik und die Impfstoffe sind die Fronten noch immer verhärtet. Insbesondere eine moralisierende, oft unlogische und empirisch-statistisch fragwürdige Argumentationstechnik steht der seriösen Aufarbeitung im Wege. Ein Beispiel.
Unter dem Titel „Das Zulassungsdesaster“ hatte eine Gruppe von Wissenschaftlern in der Berliner Zeitung das Prozedere bei der Zulassung der Corona-Impfstoffe kritisiert. Angesichts des ungewöhnlich schnellen und völlig neuartigen Vorgehens bei der Zulassung, überraschte es nicht, dass Fragen gestellt wurden. Umso weniger, als die Impfung vielerorts geradezu soteriologisch verklärt wurde, während Therapieansätze nicht annähernd vergleichbar ausführlich diskutiert wurden.
Der Artikel „Das Zulassungsdesaster“ verschwand indes überraschend von der Website, nach Auskunft der Berliner Zeitung aufgrund „starker“ Einwände. Einige Tage später waren sowohl der Artikel als auch eine Gegenrede des Molekularbiologen Emanuel Wyler wieder zu lesen.
Im Normalfall kann einer Zeitung nichts Besseres passieren als eine öffentliche Debatte. Es ist also eher unüblich, einen Text von Experten aufgrund der Einwände eines anderen Experten vom Netz zu nehmen. Vor allem aber ist die Gegenrede Wylers ein eindrückliches Beispiel für die Notwendigkeit einer Rückkehr zu fundierter Logik und solider Wissenschaft. Um dies einmal beispielhaft vor Augen zu führen, wollen wir uns im Folgenden zwei Argumente näher ansehen. Beide Argumente hat man in dieser und ähnlicher Form oft gelesen, sodass beide als charakteristisch gelten können.
Aus logischer Perspektive fragwürdige Argumente
Die Auflösung der Kontrollgruppe, so Wyler, sei aus ethischen Gründen erfolgt: Man habe der Kontrollgruppe die wirksame Impfung nicht vorenthalten dürfen. Denn solche Menschenversuche bedürften der Rechtfertigung.
Das Argument übernimmt unreflektiert die Darstellung der Hersteller zur Auflösung der Kontrollgruppe. Hersteller aber können aus naheliegenden Gründen nicht als unabhängige Quelle gelten. Und auch vom Standpunkt der Logik aus ist die Argumentation hochproblematisch.

Der erste Teil (Auflösung der Kontrollgruppe aus ethischen Gründen, weil die Impfung nicht versagt werden durfte) stellt einen Zirkelschluss dar: Die Kontrollgruppe dient in Zulassungsprozessen bekanntlich der Klärung der Frage, ob die Impfung überhaupt sicher und wirksam ist. Wenn man aber der Kontrollgruppe die Impfung verabreicht, weil man ihr deren Schutz nicht versagen dürfe, setzt man bereits voraus, dass die Impfung sicher und wirksam ist. Man nimmt also das, was das Experiment beweisen soll, als bereits gegeben an (petitio principii). Das Argument ist damit ein Scheinargument und verletzt das principium rationis sufficientis. Durch die „ethischen“ Gründe wird dieses Vorgehen darüber hinaus moralisch (auf-)gewertet (Euphemismus).
Der Kontrollgruppe die Impfung zu versagen, sei ein Menschenversuch, meint Wyler im zweiten Teil des Arguments. Nun, jede klinische Studie ist im Prinzip ein Versuch am Menschen. Der Nürnberger Kodex untersagt dies nicht generell, aber er stellt in der Tat hohe Anforderungen daran. Insbesondere Freiwilligkeit und informierte Zustimmung. Von beidem ist bei Wyler keine Rede, dafür werden durch die Wortwahl („Menschenversuch“, „unethisch“) negative Emotionen gegenüber dem regulären Vorgehen bei klinischen Studien erzeugt (ein sogenannter Dysphemismus). Was er allerdings nicht schreibt: Überspringt man die klinische Studie (bzw. bricht sie vorzeitig ab) und wendet das Produkt gleich am Menschen an, macht man jeden einzelnen Patienten zum Teilnehmer an einem Menschenversuch – und dies gänzlich ohne informierte Zustimmung und, im Falle einer 2G-Regelung etwa, nicht einmal freiwillig. Die 2G-Regeln und die berufsspezifische Impfpflicht machten Freizeitgestaltung, Körperpflege (Friseur) bis hin zum Broterwerb schließlich von ebendieser Impfung abhängig. Es bedarf schon einiger Verzerrung, den regulären Zulassungsprozess zur Sicherstellung medizinischer Qualität als Menschenversuch darzustellen, die massenhafte, oft unter massivem Druck erfolgte direkte Anwendung am Menschen jedoch nicht. Dieses Scheinargument ist als „Haltet den Dieb!“-Technik bekannt: Der Gegenseite wird etwas unterstellt, was in Wirklichkeit jemand anders (meist der Sprecher selbst) tut.
Aus empirisch-statistischer Perspektive fragwürdige Argumente
Ein zentrales Argument in Wylers Gegenrede ist weiterhin, dass die schlimmste Phase der Pandemie deutlich länger gedauert hätte, wenn die Corona-Impfstoffe nicht so schnell zugelassen worden wären. Dieses Argument wird damit belegt, dass im zeitlichen Zusammenhang mit dem Beginn der Corona-Impfungen die Anzahl der berichteten Corona-Todesfälle gesunken ist. Konkret lautet Wylers Aussage (die genannten Zahlen beziehen sich auf die Anzahl der Corona-Todesfälle laut der Internetseite Our World in Data):
„Im Corona-Winter 2020/21 waren bis Ende Januar 2021 ungefähr 48.000 Menschen in Deutschland gestorben. Mit den schnellen Impfungen gerade der vulnerabelsten, älteren Menschen ab Januar 2021 starben bis zum Ende des Winterhalbjahres ‚nur‘ noch 33.000 mehr.“
Wyler führt also den Rückgang in der Anzahl der Corona-Todesfälle vom Zeitraum November 2020 bis Januar 2021 (von Wyler „Corona-Winter 2020/21“ genannt) auf den Zeitraum Februar 2021 bis Juni 2021 (von Wyler „bis zum Ende des Winterhalbjahres“ genannt) kausal auf die Ende Januar beginnenden Corona-Impfungen zurück – er schließt also von einer beobachteten Korrelation auf einen kausalen Zusammenhang.

Ein solcher Schluss ist aus wissenschaftlicher Perspektive unzulässig, und normalerweise erfolgt in solchen Fällen ein öffentlicher Aufschrei der statistischen Fachexperten. Beispielweise sind in Bezug auf die Beobachtung eines Anstiegs der nicht durch Corona bedingten Todesfälle mit Beginn der Corona-Impfungen mehrere Faktenchecks erschienen: Verschiedene Statistiker weisen darin darauf hin, dass ein beobachteter zeitlicher Zusammenhang zwischen dem Anstieg der Impfungen und einer Veränderung der Sterbefallzahlen nicht notwendigerweise bedeuten muss, dass die Impfungen die Ursache der Veränderung der Sterbefallzahlen waren.
Tatsächlich können andere Ursachen als die Impfungen für die beobachteten Veränderungen in den Sterbefallzahlen verantwortlich sein, sodass sich die Sterbefallzahlen nur rein zufällig zeitgleich mit dem Beginn der Impfungen verändert haben. Beispielsweise ist wissenschaftlich erwiesen, dass sowohl die Infektiosität als auch die Mortalität von Sars-CoV-2 in den kälteren Jahreszeiten höher ist als in den wärmeren Jahreszeiten. Der Rückgang der Corona-Todesfälle im Zeitraum von Februar bis Juni 2021 muss also nicht notwendigerweise auf den Effekt der Impfungen zurückgehen, sondern könnte auch einfach darauf beruhen, dass man zufälligerweise zu Beginn der wärmeren Jahreszeiten mit dem Impfen begonnen hat.
Selbst ein Rückgang der Covid-Todesfälle unabhängig von saisonalen Effekten würde nicht notwendigerweise einen Effekt der Impfungen belegen. An Corona versterben vor allem hoch vulnerable Personen. Da die Anzahl hoch vulnerabler Personen begrenzt ist, sinkt mit der Zeit die Anzahl der Personen in der Bevölkerung, die an Corona versterben können. Ein Rückgang der Corona-Todesfälle nach der starken Sterbewelle um den Jahreswechsel 2020/21 muss also nicht notwendigerweise auf den Effekt der Impfungen zurückgehen, sondern könnte auch einfach darauf beruhen, dass zunehmend weniger hoch vulnerable Personen am Leben waren, die an Corona versterben konnten.

Würde man sich der naiven Perspektive von Wyler anschließen und einfach aus beobachteten zeitlichen Zusammenhängen auf Kausalitäten schließen, müsste man korrekterweise eigentlich sogar schlussfolgern, dass sich die Sterblichkeit im Zuge der Corona-Impfungen verschlechtert hat. Im zeitlichen Zusammenhang mit dem Beginn der Impfungen ist zwar zum einen die Anzahl der berichteten Corona-Todesfälle gesunken. Aber zum anderen ist gleichzeitig die Anzahl der nicht durch Corona bedingten Todesfälle gestiegen.
Betrachtet man nun die Gesamtanzahl aller Todesfälle unabhängig von der angegebenen Todesursache, so ist im von Wyler betrachteten Zeitraum (Anfang Februar bis Ende Juni) die Gesamtanzahl der Todesfälle nach dem Beginn der Impfungen im Vergleich zum Vorjahr um knapp 4500 Todesfälle angestiegen. Nach der Logik von Wyler müsste man damit schlussfolgern, dass die Corona-Impfungen insgesamt mehr Menschenleben gekostet haben als sie gerettet haben, weil nach Beginn der Impfungen mehr Menschen verstorben sind als vor den Impfungen.
Zu einer solchen Schlussfolgerung müsste man sogar selbst dann kommen, wenn man mit einrechnet, dass die deutsche Bevölkerung aufgrund des demografischen Wandelns zunehmend älter wird und deswegen von Jahr zu Jahr mehr Menschen versterben. Laut den Studien der renommierten Forschergruppe um Göran Kauermann von der LMU München, in welchen die in den Jahren 2020 und 2021 in Deutschland beobachtete Übersterblichkeit unter Einrechnung des demografischen Wandels geschätzt wurde, ist die Übersterblichkeit im zeitlichen Zusammenhang mit dem Beginn der Corona-Impfungen von in etwa 6500 unerwarteten Todesfällen im Jahr 2020 auf in etwa 23.500 unerwartete Todesfälle im Jahr 2021 angestiegen.
Die Argumentation in der Gegenrede von Wyler basiert also auf einer unzulässigen kausalen Interpretation einer beobachteten Korrelation, die darüber hinaus auch noch inhaltlich fehlerhaft ist. Wenn man sich der unzulässigen Perspektive von Wyler anschließen und einfach von beobachteten Korrelationen auf Kausalitäten schließen würde, müsste man in Wirklichkeit sogar zu dem Schluss kommen, dass die Corona-Impfungen mehr Todesfälle herbeigeführt als verhindert hätten.

Ein Appell für die weitere Aufarbeitung der Corona-Krise
Wie die beiden Beispiele zeigen, enthält die Gegenrede von Wyler Argumente, welche einer genaueren logischen bzw. empirisch-statistischen Prüfung nicht standhalten. Es stellt sich die Frage, ob solche Scheinargumente unbewusst oder bewusst eingesetzt werden. Ersteres wäre hinsichtlich des Vertrauens in wissenschaftliche Institutionen fatal. Denn schließlich werden diese Argumente von einer Person vertreten, die mit einer eigentlich als renommiert wahrgenommenen Institution, dem Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin in der Helmholtz-Gemeinschaft verbunden ist. Letzteres wäre nach gängiger Definition eine Propagandatechnik – und damit ebenso fatal.
Wenn eine seriöse Aufarbeitung der vergangenen drei Jahre möglich sein und die gesellschaftliche Spaltung überwunden werden soll, muss zunächst einmal wieder vernünftig und wissenschaftlich solide argumentiert werden können. Zirkelschlüsse, moralisierende Verzerrungen und empirisch-statistisch fragwürdige Interpretationen sind der falsche Weg.

Die Redaktion der Berliner Zeitung steht für Debatte und Debattenkultur. Dies ist ein Gastbeitrag. Die Meinung der Autoren muss nicht die Meinung der Redaktion widerspiegeln.