Ärzte im Homeoffice: Wie ein Berliner Start-up den Hausarzt-Mangel bekämpft

Auf dem Land fehlen Ärzte. Ein junges Unternehmen will Abhilfe schaffen. Mit einem digitalen Arztkoffer. Die AOK Nordost probiert die Idee in Pflegeheimen aus.

Der Hausarzt auf dem Tablet-Computer: Benjamin Gutermann bei einer digitalen Sprechstunde.
Der Hausarzt auf dem Tablet-Computer: Benjamin Gutermann bei einer digitalen Sprechstunde.Gerd Engelsmann

Der Puls ist ruhig und regelmäßig, die Sauerstoffsättigung beträgt 98 Prozent. Benjamin Gutermann sieht zufrieden aus, er lächelt vom Bildschirm des Tablet-Computers den Probanden an. Beide sitzen im ersten Stock eines Hauses an der Schönhauser Allee, in unterschiedlichen Räumen, nur durch einen Flur getrennt.

Gutermann könnte jetzt genauso gut in seiner Praxis in Hannoversch Münden sein, doch er ist an diesem Tag in den Berliner Sitz von MedKitDoc gekommen. Das Start-up hat er 2020 zusammen mit seinem Bruder Dorian Koch gegründet, und nun demonstrieren der 42 Jahre alte Mediziner und der 33-jährige IT-Experte ihre Idee: Sie können den Puls, den Sauerstoffgehalt im Blut und andere Werte ihrer Patienten auch aus der Distanz messen. Ein Zimmer weiter oder auf der anderen Seite des Planeten, solange der Patient digital vernetzt ist.

Mit der AOK Nordost sind sie eine Kooperation eingegangen. Die Krankenkasse erprobt das System in Pflegeheimen Brandenburgs und Mecklenburg-Vorpommerns. „Größter Kunde bundesweit“, sagt Koch, „ist momentan allerdings die Deutsche Fachpflege.“ Ein Zusammenschluss von Unternehmungen mit mehr als 200 Einrichtungen. Rund 70 Heime insgesamt nutzen bisher die Technik, das Kit, das aus einem Tablet mit einer App und einer silbernen Metallbox besteht. Die Box enthält eine Manschette zum Messen des Blutdrucks, ein Stethoskop, an dem ein Kästchen mit Elektronik hängt. Dazu ein Mini-Computer, etwa so groß wie der Handteller eines Erwachsenen.

Das Kit ist handlich. Vielleicht hilft es dabei, ein Problem in den Griff zu bekommen. Das möchte die AOK gerade herausfinden, möchte wissen, ob dadurch die Zahl der Klinikeinweisungen und die Transportkosten sinken. Es geht darum, dem Ärztemangel in Deutschland und seinen Folgen zu begegnen. Bis 2035 werden rund 11.000 Hausarzt-Stellen nicht besetzt sein, wie die Robert-Bosch-Stiftung prognostiziert. Fast 40 Prozent der Landkreise droht eine Unterversorgung. In Brandenburg ist der Mangel schon spürbare Realität. Laut Kassenärztlicher Vereinigung (KVBB) stehen etwa in Lübben und Luckau mehr als 6000 Menschen ohne Hausarzt da.

Die Situation dürfte sich weiter verschärfen: Im gesamten Bundesland ist rund die Hälfte der Hausärzte älter als 60 Jahre, somit von der Rente nicht mehr weit entfernt. KVBB und Krankenkassen gewähren Medizinern einen Zuschuss von bis zu 55.000 Euro, wenn sie sich in einer unterversorgten Region niederlassen. Solche finanziellen Anreize bietet Brandenburg seit 2007. Das Problem besteht jedoch nach wie vor.

Telemedizin als Lösung? Corona hat die Idee befördert

Abhilfe könnte die sogenannte Telemedizin schaffen, teilweise zumindest. Der Arzt kommt über eine digitale Verbindung zum Patienten. Das ist schon jetzt möglich und setzt sich seit der Corona-Pandemie immer stärker durch; Dermatologen zum Beispiel lassen sich vom Patienten mittels Tablet oder Smartphone Muttermale, Hautrötungen, Pusteln zeigen. Viele Diagnosen in anderen Fachrichtungen aber sind auf diese Art bisher nur schwer zu stellen.

„Ein Arzt ist darin ausgebildet, Daten zu messen und Daten getrieben Entscheidungen zu treffen“, sagt Benjamin Gutermann. „Am Bildschirm bleibt ihm jedoch vielfach nichts anderes übrig, als zu raten.“ Mit möglicherweise schlimmen Folgen. Wenn ein Befund zu spät kommt, ein Rezept nicht ausgestellt wird, die Überweisung zu einem Facharzt ausbleibt. Schmerzlich bewusst wurde das Gutermann und Koch, als ihre Großmutter medizinische Hilfe benötigte. Sie lebte auf dem Land, zwei Autostunden von Gutermanns Praxis entfernt. Die Strecke musste der Arzt dann auch immer wieder zurücklegen, konnte das allerdings nicht so oft, wie es nötig gewesen wäre.

Ein niedergelassener Mediziner fehlte in der Region der Großmutter, ihr Zustand verschlechterte sich. Gutermann und Koch überlegten, wie dem Mangel zu begegnen, wie der Oma und künftig anderen Patienten zu helfen sei. Naheliegend erschien, ihre jeweiligen Kompetenzen in einem Konzept zu bündeln: Gutermann, der nach abgeschlossener Ausbildung als Krankenpfleger Medizin studierte, verschiedene Fachrichtungen durchlief, seinen Doktor in Biosensorik machte: dem Bestimmen von Werten, die Auskunft über das Befinden eines Menschen geben. Und dazu Koch, der studierte Wirtschaftsinformatiker, der bei VW Autos digital vernetzte, später für die Unternehmensberatung McKinsey Start-ups beriet, die Dinge digital miteinander verbinden wollten.

„Ich habe gesehen, wie wenig mein Bruder von den Instrumenten bei Hausbesuchen wirklich benötigt hat, die wir also technisch anbinden mussten“, erzählt Koch. Gutermann sagt: „Ich wollte die beste Sensorik, aber mein Bruder kam mit seinem McKinsey-Denken und einer Strichliste von den Sachen, die am nötigsten digitalisiert werden sollten.“

Ein EKG per Knopfdruck

Übrig blieb der Inhalt des mattsilbernen Kästchens, mit schwarzem Schaumstoff ausgeschlagen. Eines davon steht auf einem Konferenztisch im Berliner Büro. „Jetzt nehmen Sie mal das kleine Gerät mit dem Display heraus“, sagt Gutermann vom anderen Raum aus. Der Mini-Computer, eine Taste mit Haussymbol schaltet ihn an. „Schieben sie den Zeigefinger unter die kleine Klappe oben rechts.“ Pulsoxymetrie, die Sauerstoffsättigung erscheint auf der Anzeige. „Und nun nehmen Sie bitte das Stethoskop.“ Linke Brustseite, etwas höher, weiter nach rechts, der Arzt dirigiert: „Perfekt.“ Herzschlag und Atmung klingen normal. Letzte Übung: Den rechten Daumen auf eine Metallplatte am Mini-Computer hier, den rechten Zeigefinger auf eine Metallplatte dort, links die andere Hand auf einen weiteren Sensor am Gerät – ein EKG entsteht.

„Mein Team und ich investieren viel Zeit, um herauszufinden, wie man vor der Kamera einen Patienten optimal untersucht“, sagt Gutermann, der parallel zum Start-up seine Praxis in Hannoversch Münden weiter betreibt. „Ich habe mit Experten verschiedener Universitäten gesprochen, um herauszufinden, wie man zum Beispiel am besten eine Schulter untersucht, ohne sie zu berühren.“ Der Patient arbeitet mit, das muss er bei einer analogen Untersuchung ja auch. Wobei er dabei nicht mit einem Display hantiert.

Ein Druck aufs Display, ein Bluetooth-Symbol, und die gesammelten Daten sind freigegeben, landen im Nebenraum bei Doktor Gutermann. „Datenschutz“, sagt der Arzt auf dem Tablet-Bildschirm, „ist in Deutschland sehr wichtig.“ Doch auch diese Hürde haben sie genommen. „Wir haben mehr in Anwälte investieren müssen als in alles andere“, sagt Dorian Koch. Rund 600 Seiten umfassten die eingereichten Unterlagen, um als medizinisches Unternehmen zugelassen zu werden. „In Europa“, sagt Koch, „ist unser Konzept jetzt einzigartig.“

Der Druck auf den Bluetooth-Button ist eine juristische Formalie, doch er kann den Weg ebnen zu einer Strategie, die ebenfalls den Ärztemangel lindern hilft. Im Durchschnitt leisten niedergelassene Ärzte rund 14 Stunden pro Woche Arbeit, die nicht direkt mit Patienten zu tun haben. Die Dokumentation von erhobenen Werten und ermittelten Befunden beanspruchen einen großen Teil. „Bis zu 50 Prozent der Zeit gehen dafür drauf“, sagt Koch. Seine Entwicklung legt die gemessenen Werte in den digitalen Akten der Patienten ab.

Der Testlauf im Berliner Büro ist fast abgeschlossen. Im richtigen Praxisleben müsste noch die Abrechnung erledigt werden. Die Gesundheitskarte würde über das Tablet abgelichtet. Die AOK und die übrigen Partner von MedKitDoc akzeptieren dieses Vorgehen. Ähnlich kooperativ zeigen sich die beteiligten Apotheken, wobei sie am Ende dann doch ein per Post übermitteltes Rezept benötigen, ganz analog. Die Vorschriften wollen es so.

Der Staat treibt die Digitalisierung des Gesundheitswesens nur langsam voran. Auch unter Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) ist das nicht anders. Innovationen wie das E-Rezept, die seit langem alltäglich sein sollten und die es in anderen Ländern längst sind, halten im Kriechtempo Einzug in den medizinischen Alltag. Start-ups sind bei ihren Innovationen jedoch vom Willen und der Fähigkeit der Politik zur Modernisierung abhängig, denn sie schafft die Rahmenbedingungen. Dennoch engagieren sich schon jetzt viele junge Unternehmen auf dem Gebiet. Berlin gilt dabei als Hauptstadt der Neugründungen.

Dorian Koch (l.) und Benjamin Gutermann im Berliner Büro ihres Start-ups MedKitDoc.
Dorian Koch (l.) und Benjamin Gutermann im Berliner Büro ihres Start-ups MedKitDoc.Gerd Engelsmann

Der Markt gilt als lukrativ. Mehr als eine Milliarde Euro wird im Gesundheitswesen umgesetzt – pro Tag. Die Bereitschaft ist groß, eine Idee mithilfe von Risikokapital umzusetzen, mit Venture Capital und darauf spezialisierten Investmentfirmen, die hoffen, dass irgendwann aus einer mutigen Vision Rendite wird.

Eine dieser Visionen ist der Arzt im Homeoffice. Sie könnte eine weitere Antwort auf die Herausforderungen des modernen Berufslebens niedergelassener Mediziner sein. Derzeit gibt es insgesamt rund 416.000 Ärzte, die in Deutschland ambulant und stationär tätig sind, mehr als je zuvor. Dennoch herrscht Mangel. Viele junge Vertreter der Zunft lehnen nämlich einen Vollzeitjob ab. Im Durchschnitt arbeitet ein Allgemeinmediziner 50, ein selbstständiger Kardiologe sogar 57 Stunden pro Woche. Das ist das Ergebnis des ZI-Praxis-Panels. Berufsanfänger mag diese Perspektive abschrecken. Für etliche unter ihnen sieht eine angemessene Balance zwischen Beruf und Freizeit anders aus.

Start-ups machen daraus ein Geschäftsmodell. Das Unternehmen Avi Medical zum Beispiel. Es will Hausärzte entlasten, damit sie sich auf ihr Kerngeschäft konzentrieren, mehr Patienten behandeln, nah am Menschen arbeiten können. Knapp 200 Mitarbeiter hat das Unternehmen, davon rund 70 festangestellte Mediziner, die meisten in Teilzeit. Sie kümmern sich um insgesamt mehr als 50.000 Patienten. Der niedergelassene Arzt als Arbeitnehmer mit geregeltem Stundenplan, auch das ist ein Trend. Der Arzt im Homeoffice könnte einer werden.

MedKitDoc: Ärzte schalten sich zu, wenn sie Zeit haben

MedKitDoc sieht die Zukunft darin, dass Hausärzte einen Teil ihrer Arbeit zu Hause verrichten, auch dafür bietet das Start-up sein technisches Knowhow an. „Jeder Arzt bleibt autark“, erklärt Gründer Koch. Die bislang rund 30 Mediziner in dem Netzwerk betreuen weiter ihre Patienten in Pflegeheimen, bei Bedarf nun aber aus der Distanz. Deshalb können sie häufiger nach ihnen sehen, auch von zu Hause aus. „Ein Arzt schaltet sich zu, wenn er Zeit hat. Er hat jederzeit Zugriff auf die Akte des jeweiligen Patienten“, sagt Koch. „Unser Ziel ist es, Behandler und zu Behandelnde zusammenzubringen.“ Irgendwann sollen Patienten rund um die Uhr auf einen der Ärzte zurückgreifen können. Nicht nur in Heimen. „Damit das Realität werden kann, müssen aber die Krankenkassen mitspielen“, sagt Dorian Koch.

„So“, sagt Benjamin Gutermann auf dem Tablet-Bildschirm: „Ich denke, den Rest der Untersuchungen können wir uns sparen.“ Den Blutdruck bestimmen zum Beispiel. Der Proband ist einverstanden. Den Wert weiß er auswendig, denn er misst ihn zu Hause regelmäßig selbst.