Misshandlung in der Kindheit: Mütter „vererben“ eigene Traumata an ihre  Kinder

Eine Studie zeigt: Kinder, deren Mütter einst Misshandlungen erfuhren, haben ein höheres Risiko für Krankheiten wie Asthma, Autismus oder Depressionen.

Die Folgen schlimmer Erfahrungen können sich von Generation zu Generation „weitervererben“. Auf welche Weise dies geschieht, wollen Wissenschaftler herausfinden.
Die Folgen schlimmer Erfahrungen können sich von Generation zu Generation „weitervererben“. Auf welche Weise dies geschieht, wollen Wissenschaftler herausfinden.Westend61/imago

Misshandlungen in der Kindheit können weitreichende Folgen haben – sogar für den eigenen Nachwuchs. Kinder von Müttern, die als Kinder Misshandlungen erfuhren, hätten ein höheres Risiko für Krankheiten wie Asthma, Autismus oder Depressionen. Dies berichten Forscher der Charité-Universitätsmedizin Berlin in der Fachzeitschrift Lancet Public Health. Es sei wichtig, betroffene Mütter frühzeitig zu unterstützen, so die Wissenschaftler.

Für die Untersuchung analysierte ein internationales Team die Daten von 4337 amerikanischen Müttern aus 21 sogenannten Langzeitkohorten-Studien. In diesen Studien berichteten Mütter über die Erfahrungen, die sie in ihrer Kindheit machten. „Zudem wurden Diagnosen ihrer biologischen Kinder bis zum Alter von 18 Jahren angegeben oder bei Studienterminen festgestellt“, heißt es in einer Mitteilung der Charité. Die Daten stammten aus einem internationalen Forschungsprogramm namens „Environmental influences on Child Health Outcomes (ECHO)“, übersetzt: Einflüsse der Umwelt auf die Gesundheit von Kindern.

Die Professorin Claudia Buß vom Institut für Medizinische Psychologie der Charité hat die Studie geleitet. Sie führt eine Forschungsgruppe im ECHO-Konsortium. Bei den untersuchten Erfahrungen geht es um „körperliche, emotionale und sexuelle Misshandlungen oder Vernachlässigung durch einen Elternteil oder eine Betreuungsperson, die zu einer körperlichen oder emotionalen Schädigung beziehungsweise einer drohenden Schädigung eines Kindes führen“.

Je schlimmer die Erfahrungen der Mutter, desto größer das Risiko fürs Kind

Wie die Studie ergab, hätten Kinder von Müttern, die über solche Erfahrungen berichten, „ein höheres Risiko, an Asthma, Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) und Autismus zu erkranken“. Sie wiesen auch häufiger Symptome und Verhaltensweisen auf, die mit Depressionen und Angststörungen in Verbindung stünden. Außerdem hätten Töchter dieser Mütter ein höheres Risiko für Fettleibigkeit als deren Söhne.

„All diese Zusammenhänge sind unabhängig davon, ob die Mutter dieselbe jeweilige Diagnose erhalten hat“, sagt Claudia Buß, die leitende Autorin der Studie. „Das spricht gegen eine genetische Übertragung des jeweiligen Krankheitsrisikos.“ Die betroffenen Kinder entwickelten „mit einer größeren Wahrscheinlichkeit mehrere körperliche und psychische Leiden“, so die Charité. Auch sei das Risiko umso höher, je schwerwiegender die mütterlichen Erfahrungen in der Kindheit waren.

„Unseres Wissens nach ist dies die erste Studie, bei der mehrere Krankheiten gleichzeitig in Bezug auf frühe Traumata der Mutter in einer großen soziodemografischen und ethnisch vielfältigen Stichprobe untersucht wurden“, sagt Nora Moog von der Charité, Erstautorin der Publikation. Bislang sei das vor allem für einzelne Erkrankungen geschehen. Gleichzeitig betont die Charité-Professorin Claudia Buß, dass die Ergebnisse nicht bedeuteten, „dass alle Kinder von Müttern mit negativen Kindheitserfahrungen automatisch gesundheitliche Probleme bekommen“. Es bestehe aber ein höheres Risiko.

Körperliche und psychische Probleme von Kindern können Folge der Kindheitserfahrungen ihrer Mütter sein.
Körperliche und psychische Probleme von Kindern können Folge der Kindheitserfahrungen ihrer Mütter sein.Westend61/imago

Stresshormone können Entwicklung des Fötus beeinflussen

Die genauen Mechanismen der „Weitergabe“ kennt man noch nicht. „Es gibt Hinweise darauf, dass negative Erfahrungen in der Kindheit die mütterliche Biologie während der Schwangerschaft beeinflussen können, zum Beispiel durch Stresshormone“, heißt es aus der Charité. „Das kann sich auf die Entwicklung des Fötus auswirken.“ Solche biologischen Veränderungen seien stärker ausgeprägt, wenn die Mutter infolge der traumatischen Erfahrungen eine psychische Erkrankung entwickelt habe, etwa eine Depression. So etwas könne sich auch nach der Geburt auf den Umgang mit dem Kind auswirken.

Seit einiger Zeit befasst sich eine ganze Disziplin innerhalb der Genetik mit dem Phänomen der Übertragung bestimmter Risiken von Generation zu Generation: die Epigenetik. Dabei geht es nicht um sogenannte Erbkrankheiten, die dadurch ausgelöst werden können, dass zum Beispiel genetische Defekte von Eltern an die Kinder weitergegeben werden. Es geht um die Aktivität der Gene, die durch Umwelteinflüsse moduliert werden kann, und zwar über bestimmte chemische Prozesse.

So gibt es zum Beispiel Untersuchungen darüber, dass Kriegskinder des Zweiten Weltkriegs und Holocaust-Überlebende ihr unverarbeitetes Trauma an ihre eigenen Kinder „weitervererbt“ haben. „Wenn wir uns beispielsweise die dritte Generation von Holocaust-Überlebenden ansehen oder die Enkelkinder von Soldaten aus dem Zweiten Weltkrieg, sehen wir noch immer epigenetische Spuren der Traumata. Diese führen schließlich dazu, dass diese Menschen ängstlicher oder anfälliger für stressbedingte Krankheiten sind“, sagte vor einiger Zeit der israelische Neurowissenschaftler Alon Chen, Präsident des Weizmann Institute of Science und auswärtiges Mitglied des Max-Planck-Instituts für Psychiatrie in München, in einem Interview mit der Deutschen Welle.

Komplexe Vorgänge hinter der Weitergabe von Generation zu Generation

Psychotraumatologen sprechen von „transgenerationaler Traumatisierung“. Dahinter stecken überaus komplexe Vorgänge. Es gibt unterschiedliche Meinungen darüber, wie dabei die genetische Veranlagung und die Umwelt zusammenwirken – was angeboren und was erworben ist –, zum Beispiel durch die Erziehung, das familiäre Klima und die Muster, auf mögliche Gefahren zu reagieren. Einen Automatismus gebe es nicht, sagen Forscher. Aber epigenetische Faktoren werden immer stärker diskutiert.

Der Neurowissenschaftler Alon Chen sprach von „chemischen Veränderungen, welche beeinflussen, in was die DNA letzten Endes übersetzt wird“. Durch diesen Prozess entstünden „die Proteine in unserem Körper, einschließlich unseres Gehirns“. Und diese Proteine bestimmten „zum Beispiel, welche Nervenzellen mehr oder weniger aktiv sind, und das beeinflusst schließlich unser Verhalten“.

Selbst wenn man als Embryo im Bauch der Mutter Stress ausgesetzt sei, verändere das die epigenetischen Merkmale. Das Kind könne trotzdem ganz normal aufwachsen und merke nichts davon, so Chen. „Aber in der Minute, in der es einem Trauma ausgesetzt wird, wird die epigenetische Signatur ausschlaggebend: Sein Risiko zu erkranken ist dann erheblich höher.“

Charité will Mechanismen der Übertragung besser verstehen

Erst vor zwei Jahren zeigte eine Studie von US-Wissenschaftlern aus New York und Atlanta, wie Kindheitserfahrungen der Mütter die Gehirne der Kinder prägen. Untersucht worden waren 48 Mütter mit ihren Babys. Nach Aussagen der Forscher stellte sich heraus, dass Babys, deren Mütter in ihrer Kindheit emotional vernachlässigt worden waren, „stärkere funktionelle Verbindungen“ zwischen drei Hirnregionen zeigten, die eine Schlüsselrolle bei der Regulierung von Gefühlen, unter anderem Angst, spielen. Bei früheren körperlichen Misshandlungen der Mütter hätten sich diese Veränderungen dagegen nicht gezeigt. Hier gebe es möglicherweise andere neuronale Effekte, die bislang noch nicht erforscht worden seien, hieß es.

Das Forscherteam der Charité arbeitet derzeit daran, besser zu verstehen, wie genau das höhere Krankheitsrisiko von Müttern, die einst Misshandlungen erfuhren, auf die nachfolgende Generation übertragen wird. Daraus sollen therapeutische Maßnahmen entwickelt werden.

Auch Kindheitserfahrungen der Väter sollen mehr Beachtung finden

In weiteren Studien geht es laut Charité auch um die Frage, warum bestimmte Kinder keine Folgen über eine Generation hinweg erleiden. Was zeichnet sie und ihre Mütter sowie ihr soziales Umfeld aus? „Darüber hinaus finden bislang die Kindheitserfahrungen des Vaters verhältnismäßig wenig Beachtung“, heißt es aus der Charité. „Es gibt jedoch Hinweise darauf, dass diese ebenfalls an die nächste Generation weitergegeben werden können.“

Aktuell geht es der Charité darum, belastete Mütter angemessen zu unterstützen. „Dafür ist es sehr wichtig, dass wir betroffene Mütter und Kinder frühzeitig identifizieren“, sagt die Charité-Professorin Claudia Buß. So könnten Ärzte im Rahmen von pränatalen oder kinderärztlichen Vorsorgeuntersuchungen auch die Kindheitserfahrungen der Eltern thematisieren und Kontakt zu Beratungsstellen und Anbietern bestimmter Therapieprogramme herstellen. Von einer frühen Hilfe würden dann gegebenenfalls zwei Generationen profitieren: die Eltern und die Kinder, bei denen möglicherweise Krankheiten verhindert werden könnten.