Ich glaub, mich knutscht ein Elch: Die Riesen kehren nach Deutschland zurück
Seit Jahrhunderten waren Elche in Deutschland weitgehend ausgestorben. In letzter Zeit aber wandern zunehmend Tiere über die polnische Grenze ein.

Gegen ungewöhnliche Gesellschaft scheint Bert nichts zu haben. Niemand um ihn herum ist so groß oder hat so lange Beine wie er. Ganz zu schweigen von seinem bärtigen, geweihgekrönten Charakterkopf. Wie er da so mitten in einer Kuhherde steht, wirkt der ausgewachsene Elch schon ein bisschen fehl am Platz. Zumal seine Artgenossen eigentlich als ausgesprochene Einzelgänger gelten. Doch Bert interessiert das alles nicht. Seit Jahren zieht es ihn immer wieder zu den Kühen, die im Naturpark Nuthe-Nieplitz in Brandenburg weiden.
Was er dort will, ist nicht ganz klar. Möglicherweise sucht er die Nähe zu den Nutztieren, weil er so lange kein Weibchen seiner eigenen Art gesehen hat. Denn der 2016 geborene Bulle ist ein echter Pionier. Auf eigenen Hufen hat er die polnische Grenze überschritten, im Jahr 2018 ist er in dem brandenburgischen Schutzgebiet aufgetaucht.
Seither gilt er als einziger frei lebender Elch, der sich dauerhaft in Deutschland angesiedelt hat. Doch es könnte durchaus sein, dass er nicht allein bleiben wird. Denn in letzter Zeit kommen immer mehr Artgenossen aus Polen zumindest für eine kurze Stippvisite in die östlichen Bundesländer.
Derzeit streifen zwischen zehn und 15 Elche durch Deutschland
„Das liegt daran, dass sich die Elchbestände im Westen Polens in den letzten Jahren sehr gut erholt haben“, erklärt Leonie Weltgen von der Naturschutzorganisation WWF in Berlin. Vor allem von einem strikten Jagdverbot, das 2001 in Kraft getreten ist, haben die Tiere dort massiv profitiert. Etliche Tausend von ihnen sollen inzwischen wieder durch Polen streifen. Und je mehr es werden, umso häufiger überqueren einzelne von ihnen die Grenze nach Deutschland.
Wie viele dieser vierbeinigen Besucher jedes Jahr Oder und Neiße durchschwimmen oder auf dem Landweg einreisen, können auch Fachleute nur grob schätzen. Anhaltspunkte liefern aber Berichte über Zufallsbeobachtungen, die einzelne Behörden und Freiwillige auf Länderebene zusammentragen. „Diese Daten deuten darauf hin, dass derzeit zwischen zehn und 15 Elche pro Jahr durch Deutschland streifen“, schätzt Leonie Weltgen. Die meisten sind wohl in Brandenburg unterwegs.
Vor allem Elch-Männchen sind wanderlustig. Wenn sie sich auf die Suche nach Partnerinnen oder neuen Lebensräumen machen, können sie durchaus 60 bis 80 Kilometer am Tag zurücklegen. So mobil sind die Weibchen häufig nicht. Doch auch sie haben schon etliche Ausflüge nach Brandenburg unternommen.
Theoretisch bestehen also durchaus Chancen, dass sich geeignete Partner dort treffen und Nachwuchs in die Welt setzen. „Bisher gibt es dafür allerdings noch keinen Nachweis“, sagt Leonie Weltgen. Doch auch die bisherigen Entwicklungen hält sie schon für einen großen Erfolg. Denn die Reisenden aus Polen gehören eigentlich auch in Deutschland zur heimischen Fauna. Nur ist das ein wenig in Vergessenheit geraten. Denn der Mensch hatte den Europäischen Elch hierzulande schon vor Jahrhunderten weitgehend ausgerottet.
Vor allem im Norden und Nordosten könnten Regionen Elche anziehen
Nun aber halten es Fachleute durchaus für möglich, dass sich langfristig wieder eine stabile Population etablieren kann. Genug Lebensraum wäre jedenfalls da. Die größten lebenden Hirsche haben eine Vorliebe für mosaikartige Landschaften, in denen sich Wälder mit Wiesen, Sümpfen und Gewässern abwechseln. Und davon gibt es in Deutschland eine ganze Menge.
Welche davon als potenzielle Elch-Paradiese infrage kommen, hat der Biogeograf Hendrik Bluhm von der Humboldt-Universität (HU) zu Berlin mithilfe von Computermodellen analysiert. Eingeflossen sind dabei unter anderem die Topografie und Vegetation des jeweiligen Gebietes, aber auch menschliche Einflüsse wie das Straßennetz und die Siedlungsdichte.
Die Studie zeigt, dass es vor allem im Norden und Nordosten Deutschlands noch größere, störungsarme Landschaften gibt, in denen Elche gute Lebensbedingungen finden würden. Dazu gehören zum Beispiel die Schorfheide nördlich von Berlin, das südliche Brandenburg, die Müritz-Region in Mecklenburg-Vorpommern, das Oderhaff und die Elbtalaue.
Elche fallen ihrer Sturheit im Straßenverkehr zum Opfer
Um den Tieren die Rückkehr in solche Regionen zu erleichtern, fördert das EU-Kooperationsprogramm Interreg seit 2019 ein deutsch-polnisches Projekt namens „ŁośBonasus – Crossing!“ („Elch und Wisent – queren!“). Unter Federführung des Leibniz-Zentrums für Agrarlandschaftsforschung (ZALF) in Müncheberg haben sich darin Fachleute der HU Berlin, der Hochschule für nachhaltige Entwicklung Eberswalde, der polnischen Naturschutzorganisation Westpommersche Naturgesellschaft und des WWF zusammengeschlossen. Gemeinsam mit Behörden, Landnutzern und anderen Interessierten arbeiten sie an Strategien für ein erfolgreiches Comeback der beiden großen Pflanzenfresser.
„Wichtig ist es dabei, mögliche Konflikte schon im Vorfeld zu erkennen und pragmatische Lösungen dafür zu entwickeln“, betont Leonie Weltgen. Was den Elchen vor allem zum Verhängnis werden könnte, ist ihre ungesunde Sturheit im Straßenverkehr.
Statt entgegenkommenden Fahrzeugen auszuweichen, bleiben sie oft mitten auf der Straße stehen. Und das kann sowohl für die Tiere als auch für die Autofahrer lebensgefährlich werden. In den Elch-Hochburgen Schwedens gibt es jedes Jahr mehrere Tausend solcher Unfälle im Straßen- und Bahnverkehr. Und auch hierzulande sind schon Elche überfahren worden.

In Berts Stammgebiet im Naturpark Nuthe-Nieplitz steht bereits ein Verkehrsschild, das Autofahrer vor möglichen Begegnungen warnt. Wenn mehr von seinen Artgenossen kommen, könnten nach Einschätzung des Projektteams auch noch weitere Vorsichtsmaßnahmen nötig sein. Neben Geschwindigkeitsbeschränkungen an besonders riskanten Stellen kommt beispielsweise auch das Errichten oder Erhöhen von Zäunen an Autobahnen infrage. Grünbrücken können zudem auch anderen Wildtieren das Überqueren großer Verkehrswege erleichtern. Und auch das Mähen von Randstreifen an unübersichtlichen Straßen kann helfen, einen Elch auf Kollisionskurs rechtzeitig zu entdecken.
Ein mögliches Problem für die Land- und Forstwirtschaft
Außer im Straßenverkehr sind Konflikte mit den Rückkehrern auf vier Hufen am ehesten in der Land- und Forstwirtschaft zu erwarten. Immerhin erreichen Elchbullen eine Länge von bis zu drei Metern, eine Schulterhöhe bis zu 2,30 Metern und ein durchschnittliches Gewicht zwischen 350 und 500 Kilogramm. Die Riesen unter den Hirschen haben einen gewaltigen Appetit.
Im Sommer fressen ausgewachsene Tiere zwischen 30 und 50 Kilogramm Pflanzenmaterial am Tag, im Winter um die 10 Kilogramm. Dabei konzentrieren sie sich vor allem auf leicht verdauliche, eiweißreiche Kost. Junge Triebe und Knospen, Blätter und Rinde von Weichholz und Kräutern sowie Wasserpflanzen stehen auf ihrem Speiseplan ganz oben. Das Problem ist, dass die knabbernden Mäuler an jungen Bäumen einigen Schaden anrichten können. Und auch vor landwirtschaftlichen Kulturen machen sie nicht halt.
„Für solche Fälle brauchen wir schnelle und unbürokratische Ausgleichzahlungen“, betont Leonie Weltgen. Denn ihrer Einschätzung nach wird die erfolgreiche Rückkehr der Riesen mit dem Schaufelgeweih vor allem von der Akzeptanz der Menschen in den jeweiligen Regionen abhängen. In dieser Hinsicht sieht es für Bert und seine Artgenossen derzeit recht gut aus. Und es gibt noch eine vielversprechende Nachricht für den einsamen Bullen mit dem Faible für Kuhherden: Im Oktober sollen in Brandenburg gleich zwei Elch-Weibchen gesichtet worden sein.
Bei Begegnungen möglichst Abstand halten und nicht füttern
Und was macht man, wenn man solch einem Riesen persönlich begegnet? Normalerweise sind Elche friedlich und fliehen eher vor Menschen, als sie zu attackieren. Doch wenn sie Junge haben oder sich bedrängt fühlen, kann es durchaus zu Drohgebärden und gefährlichen Konfrontationen kommen.
Ähnlich wie bei anderen großen Säugetieren empfehlen Fachleute daher, mehrere Hundert Meter Abstand zu Elchen zu halten und sich gegebenenfalls hinter einem Baum zu verstecken. Wer im Auto sitzt, sollte erst einmal anhalten und das Geschehen vom Fahrzeug aus beobachten. Um die Gesundheit der Tiere zu schützen und sie nicht unnötig in die Nähe von Menschen zu locken, gilt zudem die Devise: nicht füttern!