Immer weniger Frauen stillen ihre Säuglinge. Die Folgen können gravierend sein

Studie: Muttermilchersatz ist weltweit auf dem Vormarsch. Die Industrie macht mit Formula-Produkten Milliarden-Umsätze. Das sollten Mütter wissen.

Eine Frau stillt ihr Baby.
Eine Frau stillt ihr Baby.Paul Zinken/dpa

Immer weniger Frauen weltweit stillen ihre Säuglinge. Das berichtet das Portal Science Media Center (SMC) unter Berufung auf eine Artikelserie in der Fachzeitschrift The Lancet. Die darin zitierten Wissenschaftler sehen in diesem Zusammenhang die Rolle der Industrie kritisch. Deren Umsatz durch Muttermilchersatz, sogenannte Formula-Produkte, sei auf rund 55 Milliarden US-Dollar gestiegen, ebenfalls weltweit, heißt es.

Die dreiteilige Review-Serie hält fest, dass noch nie so viele Babys mittels Formula ernährt wurden. Die Industrie, so lautet der Vorwurf, trage dazu aktiv bei. Sie stelle typische Verhaltensweisen von Säuglingen wie Weinen, Unruhe und schlechten Nachtschlaf als pathologisch dar und biete Formula als nebenwirkungsfreie Alternative zur Muttermilch an. Viele dieser kindlichen Reaktionen entsprächen in Wirklichkeit jedoch der normalen Entwicklung, heißt es in den Reviews. Empfänglich für eine solche Werbung seien vor allem Mütter, die nicht stillen möchten oder die unsicher sind, ob sie stillen können.

Die Autoren der Studie fordern daher, dass alle Informationen an die Familien über Säuglingsnahrung aus unabhängigen Quellen stammen müssen, ohne dass Verbindungen zu den Formula-Herstellern bestünden. Dies sei bisher nicht überall so. Die Review-Serie rügt insbesondere auch das digitale Marketing über von der Industrie bezahlte Influencer, die über die Schwierigkeiten des Stillens berichteten, Produktplatzierungen ermöglichten, kostenlose Proben anböten und dadurch den Online-Verkauf förderten.

„Auch in Deutschland sehen wir seit Längerem, dass zu wenige Mütter stillen“, sagt Regina Ensenauer vom Bundesinstitut für Ernährung und Lebensmittel in Karlsruhe dem SMC. „Die WHO empfiehlt, in den ersten sechs Monaten ausschließlich zu stillen. Also kein Wasser oder Tee zusätzlich, keine Formula-Milch und keine Beikost. Wasser und Tee begleitend zum Stillen zu geben, scheint keine ungünstigen Effekte zu haben“, so die Vorsitzende der Nationalen Stillkommission.

Grundsätzlich anders sei es, wenn gar nicht gestillt werde. „Da sehen wir an verschiedenen gesundheitlichen Endpunkten negative Auswirkungen. In Deutschland stillen bis Ende des sechsten Monats lediglich 13 Prozent der Frauen ausschließlich. Am Ende des vierten Monats sind es 40 Prozent. Dabei haben bei der Geburt 90 Prozent der Frauen eigentlich die Absicht zu stillen. Wir haben also ein Problem.“

Expertin: Muttermilch prägt den Geschmackssinn

„Bei der Formula-Milch wird immer wieder versucht, die natürlichen Komponenten der Muttermilch nachzuahmen – mit mäßigem Erfolg. Die Muttermilch ist einfach einzigartig“, sagt die Professorin. Hinlänglich bekannt sei, dass Muttermilch maßgeblich die Immunstärkung und den Aufbau des Immunsystems des Kindes positiv beeinflusse. „Weniger bekannt ist dagegen, dass Muttermilch offenbar auch für die Prägung des Geschmackssinns verantwortlich zu sein scheint. Das beginnt natürlich schon im Mutterleib, wird aber nach der Geburt über das Stillen gefestigt.“

„Im deutschsprachigen Raum verlassen etwa 85 bis 90 Prozent der Mütter die Geburtsklinik stillend“, erläutert Daniela Karall von der Universitätsklinik Innsbruck. Mit drei Monaten seien es noch etwa 50 Prozent, die stillen, mit sechs Monaten lediglich rund zehn Prozent. „Dieser Trend hat sich in den letzten 20 Jahren kaum geändert.“

Die stellvertretende Leiterin des Departments für Kinder- und Jugendheilkunde verweist auf eine Studie für Österreich. Darin heißt es, dass die ausschließliche Stillrate 55,5 Prozent in der ersten Lebenswoche beträgt, 38,7 Prozent der Kinder werden zum Teil gestillt. Im Alter von vier Monaten werden 30,5 Prozent der Kinder ausschließlich gestillt und 43,2 Prozent teilgestillt. Mitte des sechsten Lebensmonats werden neun Prozent der Kinder ausschließlich gestillt, gegen Ende des sechsten Monats sinkt dieser Anteil auf 1,9 Prozent.

Stillen hat nicht nur Vorteile für das Kind. Darauf verweist Jule Heike Michel vom Deutschen Hebammen-Verband. Je nach Dauer profitiere auch die stillende Mutter. „Sie verliert weniger Blut nach der Geburt und hat ein deutlich vermindertes Risiko, an Brust-, Eierstock- und Gebärmutterschleimhautkrebs zu erkranken.“

Stillen reduziere außerdem die Gefahr, an Diabetes Typ 2 und Bluthochdruck zu erkranken oder einen Herzinfarkt zu erleiden. „Aber auch auf die psychische Gesundheit wirkt sich Stillen positiv aus: Stillende Mütter zeigen ein sensibleres Reaktionsverhalten gegenüber ihren Säuglingen, fördern dadurch sichere Bindungen und sind seltener psychisch so überfordert, dass sie ihre Kinder misshandeln oder vernachlässigen.“