Corona-Impfgeschädigte nach Lauterbach-Kehrtwende: „Warum keine Nothilfen für uns?“

Der Gesundheitsminister sagt, den Impfgeschädigten müsse nun mit einem Programm geholfen werden. Viele wundern sich ob der Kehrtwende. Wie reagieren Betroffene?

Felicia Binger ist eine der bekanntesten deutschen Impfgeschädigten. Trotzdem rechnet sie sich kaum Chancen beim Versorgungsamt aus. Zu viele Betroffene würden abgeschmettert. 
Felicia Binger ist eine der bekanntesten deutschen Impfgeschädigten. Trotzdem rechnet sie sich kaum Chancen beim Versorgungsamt aus. Zu viele Betroffene würden abgeschmettert. Foto: Privat

Seit der Kehrtwende des Gesundheitsministers am Sonntagabend im ZDF kocht die Diskussion um schwere Impfschäden wieder hoch. Lauterbach hatte im „heute-journal“ angekündigt, ein Programm für Corona-Impfgeschädigte aufzusetzen, denn den schwer betroffenen Patienten müsse dringend geholfen werden. Ihre Anzahl sei geringer als die von Patienten mit Long Covid, doch sie habe von Anfang an bei 1:10.000 gelegen. Das habe er immer gewusst.

Nun fragen sich die einen, wie Karl Lauterbach (SPD) jemals eine Impfpflicht hat verantworten können, wenn er von Anfang an von dieser Gefahr gewusst haben will, und sprechen von gezielter Täuschung und Gefährdung etwa derjenigen im Gesundheitswesen, die fast ein Jahr lang der Impfpflicht unterlagen.

Andere sind sauer, dass er überhaupt die Impfschäden so prominent anspricht, seine „katastrophale Kommunikation“ sorge dafür, dass sich nun kaum noch jemand impfen lasse, heißt es vor allem im Netz von medizinaffinen Accounts mit hohen Follower-Zahlen.

Wie viele Impfgeschädigte gibt es denn jetzt?

Wiederum andere zweifeln an den Zahlen. Und was bedeutet überhaupt 1:10.000? Impfungen oder Geimpfte? Ist die Zahl der schwer Impfgeschädigten also eigentlich 1:3000, weil die meisten sich dreimal haben impfen lassen? Oder 1:5000, wie die Regierung 2022 selbst verkündet hatte? Sind es also in Deutschland 20.000 oder 50.000 Betroffene, die sich beim Paul-Ehrlich-Institut (PEI) gemeldet haben? Jenes PEI, das selbst Studien bestätigt, die in Deutschland eine traditionelle Untererfassung von Nebenwirkungen sehen, von bis zu 95 Prozent? Sind die Zahlen zu Impfnebenwirkungen also eigentlich höher als Lauterbach nun zugibt? Man weiß es nicht genau, denn es gibt dazu keine ausreichend systematische Erfassung in Deutschland. Genauso wie es bisher keine Studien zur Erforschung von Post-Vac gibt. Womöglich könnten diese nun durch das Programm des Gesundheitsministeriums angestoßen und auch finanziert werden.

Aber wie geht es den Betroffenen? Dazu haben wir jene Impfgeschädigten gefragt, über die die Berliner Zeitung schon von einem Jahr berichtet hat. Was hat sich an ihrem Zustand geändert? Und wie reagieren sie auf Lauterbachs neueste Wende?

Felicia Binger ist mittlerweile 29 Jahre alt und kann nicht mehr als Schauspielerin arbeiten, in ihrem Traumberuf. Vor zwei Jahren wollte sie mit ihrer Karriere gerade durchstarten, sie war kerngesund, alles lief gut – bis sie zwei Tage nach der Corona-Impfung eine Nesselsucht am ganzen Körper bekam, also Ausschlag. Damit ging sie zur HNO-Ärztin, die sie befragte, ob sie kurz vor Ausbruch der Allergie irgendetwas anders gemacht hätte als sonst. Felicia Binger konnte sich an nichts erinnern, stöberte in ihrem Gedächtnis und sagte dann: „Ach so, ich bin geimpft worden.“ Das könne nicht miteinander in Zusammenhang stehen, habe die Ärztin sofort erwidert.

Felicia Binger, 29, kann nicht mehr arbeiten

In den folgenden Wochen kamen weitere Symptome hinzu, die sich niemand erklären konnte: Sie bekam starke Herzbeschwerden und so starke Kopfschmerzen, dass sie wochenlang nur mit einem Eimer neben sich auf der Couch gelegen habe. Auf Termine beim Kardiologen und Neurologen musste sie trotzdem monatelang warten. Dann begann sich ihre Kiefermuskulatur so zu verspannen, dass sie nicht mehr essen konnte. Schließlich versagte ihr die Sprache. „Ich konnte wochenlang einfach nicht sprechen, das ist in meinem Job natürlich der Horror“, erzählt die Frankfurterin. Ihr Fuß entzündete sich so stark, dass sie nicht mehr laufen konnte. Die Ärzte, die sie damit konsultierte, waren ratlos.

Im September 2021 wusste die junge Schauspielerin sich nicht mehr zu helfen und setzte einen Hilferuf auf Instagram ab. Sie wollte wissen, ob es noch andere Menschen gibt, denen es so geht wie ihr. Und ob es irgendjemanden da draußen gebe, der ihr helfen kann. An Arbeiten war nicht mehr zu denken. Sie konnte nur mit großer Mühe überhaupt ihren Alltag bewältigen. Ihr Körper versagte den Dienst.

Was dann allerdings geschah, damit habe sie nicht gerechnet, erzählt Felicia Binger heute. Die Resonanz auf ihren Hilferuf war enorm. Bis heute hätten sich allein 10.000 Betroffene bei ihr gemeldet, teils auch aus anderen Ländern. Sie war eine der ersten Patientinnen mit Impfschäden, die sich an die Öffentlichkeit gewandt hat, tauchte in mehreren TV-Beiträgen auf. Andere taten es ihr nach, schlossen sich zusammen und baten Medien und Politik darum, sie und ihre Beschwerden anzuerkennen und zu helfen. Doch über viele Monate bekamen sie vor allem aus der Politik einfach keine Antwort. Sie wurden abgeschmettert, wie auch bei vielen Ärzten.

Felicia Binger – als inzwischen prominentestes Gesicht der Impfgeschädigten in Deutschland – hat schon Morddrohungen erhalten für ihr Engagement. Vor allem im Netz unterstellen ihr Hater, sie sei eben Schauspielerin, sie würde alles nur spielen. „Der Hass kommt von allen Seiten“, erzählt sie, mal werde sie in die rechte Ecke geschoben, dann werde ihr unterstellt, sie würde für die Regierung arbeiten, wiederum andere schrieben: „Gönne ich dir! Hättest du dich halt nicht impfen lassen.“ Wüsste sie nicht so viele Betroffene hinter sich, die es weniger gewohnt seien, vor der Kamera zu sprechen, denen es nach wie vor übel gehe, „die ihre Kinder nicht mehr versorgen können, die den ganzen Tag nur noch im Bett liegen und lieber sterben wollen“, erzählt Binger, dann hätte sie schon längst ihr Engagement aufgegeben. Sie wisse auch von Betroffenen, die Suizid begangen hätten.

In den Mühlen der Ämter

Ihr selbst geht es inzwischen, fast zwei Jahre nach ihrer Impfung vom Mai 2021, besser. Die Herzprobleme sind geringer geworden, sie kann wieder laufen, sprechen und kauen, immerhin. Doch viele Symptome sind geblieben, auch nachdem sie in der Post-Vac-Ambulanz der Uniklinik Marburg in Behandlung war, der bisher einzig offiziellen Anlaufstelle für diese Patienten, wo weitere 6000 Betroffene noch auf der Warteliste stehen.

An regelmäßiges Arbeiten ist noch nicht zu denken, nicht nur wegen der anhaltenden gesundheitlichen Beschwerden wie Hormonstörungen, Nerven- und Gefäßschäden, dem Mastzellenaktivierungssyndrom oder ME/CFS. Sondern auch weil es in ihrer Branche nach wie vor Vorbehalte gegen die Erkrankung gebe. „Auch deshalb kann ich meinen Kritikern nur sagen, die denken, ich hätte mir das alles nur ausgedacht und wolle nur im Mittelpunkt stehen: Es gibt in meiner Branche nichts Schlimmeres, als krank zu sein.“ Zudem sei ein großes Problem, dass die Impfung und Impfschäden derart politisiert wurden und deshalb auch Kollegen aus ihrer Branche auf Abstand zu ihr gehen würden – zumindest öffentlich.

Zurzeit lebe sie von Spenden, auf die Bearbeitung ihres Antrages bei der Agentur für Arbeit warte sie seit Oktober 2022. Beim Versorgungsamt habe sie noch keinen Antrag auf Entschädigung gestellt, unter anderem weil sie nicht mit einer Bewilligung rechne.

Aus der Community wisse sie von zahlreichen Betroffenen, die nach langem Papierkrieg entweder abgewiesen würden oder eine monatliche Rente von 100, 200 oder im Höchstfall 800 Euro erhalten. Und das auch nur, wenn konkret nachgewiesen werden könne, dass sofort nach der Impfung Krankenhausaufenthalte, Thrombosen und solche Beschwerden auftauchten, die bürokratisch zweifelsfrei auf die Impfung zurückgeführt werden können. „Was ist das für eine lächerliche Entschädigung für ein zerstörtes Leben?“, fragt sie. 

Deshalb findet sie es gut, dass Karl Lauterbach nun zumindest darauf hingewiesen hat, dass die Versorgung durch die Ämter unzureichend sei. Dennoch sei sie wütend darüber, dass der Gesundheitsminister nun so tue, als seien sowohl Vorhandensein als auch die Zahl der Impfgeschädigten immer schon bekannt gewesen. Denn sie weiß: „Es war ein langer Kampf über viele Monate, bis Medien überhaupt über uns berichtet haben – und die, die es getan haben, wurden auch schnell in die rechte Ecke gestellt.“

Tamara Retzlaff vor ihrer Erkrankung. Heute kann sie kaum noch alleine unterwegs sein, weil die Kraft oft nicht reicht.
Tamara Retzlaff vor ihrer Erkrankung. Heute kann sie kaum noch alleine unterwegs sein, weil die Kraft oft nicht reicht.Foto: Privat

Sie fordert den Gesundheitsminister daher auf, seit Mittwoch über eine Petition auf Social Media, seinen Worten Taten folgen zu lassen, um den Impfgeschädigten zu helfen. Konkret brauche es ein deutschlandweites Netz an Ambulanzen für Post-Vac sowie Reha- und Therapieangebote, eine Sozialstudie zu den Impf-Folgen und die medizinische Erforschung zur Ursache der Erkrankung, Sensibilisierung und Schulung von Ärzten und Gesundheitsangestellten zu Post-Vac und Long Covid, die Definition und Anerkennung von Post-Vac als Impfschaden, für den dann auch die Versorgungsanstalten aufkommen, eine rasche und einfache Kostenübernahme der medizinischen Leistungen bei Behandlungen von Impfnebenwirkungen sowie eine Anpassung der Impfempfehlung und angepasste Risiko-Nutzen-Bewertung unter Einbeziehung der Erkenntnisse von Experten zum Post-Vac-Syndrom.

Tamara Retzlaff, 29, ihr Antrag wurde gerade abgelehnt

Wie dringend nötig es ist, die Forschung zu Post-Vac zu beschleunigen, zu finanzieren und überhaupt erst mal die Fülle an Symptomen als Post-Vac offiziell anzuerkennen, davon kann Tamara Retzlaff ein Lied singen. Die 29-jährige Marketingexpertin aus Stuttgart konnte sich mittlerweile aus dem Rollstuhl wieder herauskämpfen, in dem sie zwischendurch saß, doch sie kann weiterhin nicht ohne Begleitung auch nur einkaufen gehen. „Zwischendurch ist dann einfach meine Energie weg und ich muss im Einkaufswagen nach Hause geschoben werden“, erzählt die junge Frau am Telefon. Seit einem Dreivierteljahr wartet sie auf die Bewilligung einer Reha. Auch sie war in Marburg, auch sie nimmt wie viele andere Patienten Sartane und Statine für die Blutgefäße, was unter anderem gegen die starken Pulsschwankungen helfe. Trotzdem ist sie weit davon entfernt, einen normalen Alltag zu bewältigen oder auch wieder arbeiten zu können. „Meine Energie reicht immer nur für eine Sache am Tag, heute ist es das Interview.“ Danach könne sie nur noch liegen. Also ist sie eigentlich ein Pflegefall?

Eigentlich ja, sagt Retzlaff, sie habe Glück, dass ihr Freund sich um sie kümmere, für sie koche und sie zu den Untersuchungen begleite. Alleine sei das alles nicht mehr möglich. Doch das Versorgungsamt habe just in dieser Woche ihren Antrag abgelehnt. Gutachter sei ein Arzt, der selbst in den Medien als Impfarzt aufgetreten sei. Zudem ist vor wenigen Tagen ihr Krankengeld abgelaufen. Wie die Zukunft aussieht, wie sie sich finanzieren soll, ist jetzt die große Frage. Tamara Retzlaff ist zutiefst erschüttert darüber, wie mit ihr und anderen Betroffenen umgegangen wird und wie wenig Hilfe und Unterstützung sie nach wie vor bekämen – trotz nachgewiesener körperlicher Schäden und hoher privater Kosten.

Vera Rieder, 32, hatte Glück mit einer Kardiologin

„Dass Lauterbach jetzt als Retter dasteht, ausgerechnet der Gesundheitsminister, der uns zwei Jahre lang geleugnet hat“, das macht auch die 32-jährige Vera Rieder wütend. „Wir stehen da mit unseren Erkrankungen, mit den selbst zu tragenden Rechnungen, viele von uns können nicht mehr arbeiten. Und trotzdem mussten wir noch selbst dafür sorgen, dass wir überhaupt in die Öffentlichkeit kommen. Das war nicht die Politik oder die Wissenschaft, die uns dabei geholfen hat, das mussten wir selbst als Betroffene tun!“

Vera Rieder, vor ihrer Erkrankung: immer unterwegs. 
Vera Rieder, vor ihrer Erkrankung: immer unterwegs. Foto: Privat

Die Lehrerin aus NRW kann mittlerweile wieder arbeiten, sie habe großes Glück gehabt, frühzeitig an eine kompetente Kardiologin zu geraten, die ihr geglaubt, sich informiert und dann gegen die massiven Herzprobleme zwei Monate lang Kortison gegeben habe. Inzwischen geht es Vera Rieder deutlich besser, dennoch bei weitem nicht so gut wie vor der Impfung. Weiterhin sind ihre Autoiummunwerte erhöht, weiterhin hat sie nicht die Kontrolle über ihren Körper nach Anstrengungen, geblieben ist ihr auch die „Krallenhand“: ein kleiner Finger steht quer von der Hand ab und lässt sich kaum noch bewegen. Geblieben ist ihr außerdem ein „gesellschaftliches Misstrauen“, denn: „Ich bin Lehrerin geworden, weil ich an unsere Demokratie geglaubt habe, dass wir solidarisch sind und Menschen helfen, die in Not sind. Das habe ich jetzt aber ganz anders erlebt.“

Wenn ein neuartiger Impfstoff auf den Markt komme und Nebenwirkungen auftauchen, „dann könnte man erwarten, dass sich die Gesellschaft dafür interessiert. Stattdessen hat es jetzt zwei Jahre gedauert, bis wir nicht mehr nur verunglimpft werden und unser Problem kleingeredet wird“, ärgert sie sich. Trotzdem reiche sie Karl Lauterbach nun gerne die Hand, sich mit den Betroffenen auszutauschen, um gemeinsam endlich eine passende Versorgung voranzubringen.

Lilith Korn, 39, seit dem Booster dauerkrank

„2020 gab es Corona-Nothilfen für alle möglichen Betroffenen“, erinnert sich Lilith Korn aus Berlin an den Beginn der Pandemie. „Warum gibt es solche Nothilfen jetzt nicht für uns?“, fragt die 39-jährige Mutter einer zweijährigen Tochter. Seit ihrer dritten Impfung gegen Corona im Februar 2022 habe sie erst mit einem Strauß von Symptomen zu kämpfen gehabt, unter anderem monatelangen starken Kopfschmerzen, extrem schwankendem Blutdruck und Puls, Tinnitus und tauben Zehen, insgesamt war sie deshalb bei zwölf Haus- und Fachärzten in Berlin. Doch die meisten hätten keine Untersuchungen anstellen wollen und hätten alles auf Stress geschoben, obwohl sie – bis auf die Erkrankung – gar keine besonderen Belastungen hatte.

Lilith Korn aus Köpenick geht es inzwischen besser, aber nur mit bestimmten Medikamenten.
Lilith Korn aus Köpenick geht es inzwischen besser, aber nur mit bestimmten Medikamenten.Foto: Privat

Die Autorin lebt in Köpenick und hat erst nach fünf Monaten durch andere Betroffene einen Arzt gefunden, der ihr geholfen habe – etwa indem sie histaminarm lebt, wodurch sich ihr inzwischen diagnostiziertes Mastzellenaktivierungssyndrom gebessert habe. Auch Kortison habe sie erhalten, seitdem gehe alles wieder etwas besser. Doch bis heute ist sie dauererkältet: „Ich war seit dem Booster ganze acht Tage am Stück nicht krank.“