Pflegeheim muss raus: „Reißerisches Aufwiegen von Senioren gegen Geflüchtete“
Das Kirchenstift wehrt sich gegen Vorwürfe, mit Geflüchteten mehr Geld als mit Alten machen zu wollen. Doch ein Video vom Areal heizt die Diskussion weiter an.

Die Immobilie ist ein großzügiges Anwesen mit einem hübschen Altbau-Komplex aus Backstein. Nach vorne raus, zur Straße, schmiegt sich der Sitz des Paul-Gerhard-Stifts direkt an die Müllerstraße im wilden Wedding, zwischen unzähligen kleineren und größeren Geschäften aus aller Welt, hier tobt das Leben. Nach innen erschließt sich, abgeschirmt durch die hohen Gemäuer, wie eine Ruheoase der Innenhof mit weiteren kleineren Gebäuden. Hier sind ein Stadtteilzentrum, ein Café, ein Kindergarten und viele Ärzte untergebracht. Lauschig könnte man es nennen, wenn man sich das Gebäude aus der Nähe anschaut.
Doch die Diskussion, die seit Beginn der Woche um dieses Anwesen tobt, ist alles andere als gemütlich. Am Montag vermeldete der Focus, hier müssten Pflegeheimbewohner aus ihrem Zuhause ausziehen, weil Geflüchtete einziehen sollen. Ein Politikum, zumal gerade erst ein ähnlicher Fall aus Lörrach für großen Unmut sorgte, wo alteingesessene Bewohner aus demselben Grund aus ihren Wohnungen verdrängt würden. Die Stimmung im Land ist eh schon aufgeheizt, nun sollen auch noch Vulnerable weichen, für die doch noch während der Pandemie so lautstark die Trommel der Solidarität gerührt worden war, und das mitten in der Hauptstadt?
Die Berliner Zeitung hat bereits zu Mittwoch alle Beteiligten befragt, gerührt hatte sich bis dahin nur die Johannesstift Diakonie (JSD), Mieterin des betreffenden Gebäudes. Das Heim selbst, „Wohnen und Pflege am Schillerpark“, hat sich bisher nicht zu der Causa geäußert. Doch nun regt sich das Paul-Gerhardt-Stift zu Berlin (PGS), Inhaber und Vermieter des Gebäudekomplexes, in dem sich auch der Neubau befindet, in dem das Pflegeheim untergebracht ist. Beide Einrichtungen, PGS und JSD, gehören zur evangelischen Diakonie.
„Das reißerische Aufwiegen von Seniorinnen und Senioren gegen Geflüchtete ist jetzt nicht zielführend“, lässt sich die Direktorin der Diakonie Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz, Ursula Schoen, zitieren. „Es verletzt auch Tausende Mitarbeitende, die sich Tag für Tag in den Mitgliedseinrichtungen der Diakonie für die Schwächsten unserer Gesellschaft einsetzen“, geht die Direktorin in den Gegenangriff über. „Wir brauchen jetzt einen nüchternen Blick auf die Situation, das heißt: das sehen, was ist, und nach vorne blicken.“
126 Geflüchtete sind schon im Februar ins Pflegeheim gezogen
Also probieren wir den nüchternen Blick auf die Situation am Ort und statten der Einrichtung einen Besuch ab. Um selber zu sehen, was ist. Doch das ist gar nicht so einfach. Üblicherweise kann man Pflegeheime einfach durch die Tür betreten, doch hier prangt ein Schild: „Tür defekt“. Man kommt nicht rein. Ein Pförtner ist nicht da. Mitarbeitende oder gar Pflegeheimbewohner sind nicht zu sehen an diesem sonnigen Nachmittag.
Das liegt wohl auch daran, dass ein großer Teil der Heimbewohner bereits ausziehen musste. Nur noch zwei von vier Etagen werden hier an Heimbewohner vermietet, in den oberen beiden Etagen sind schon jetzt Geflüchtete untergebracht. 126 an der Zahl, wie man erfährt, wenn man das Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten in Berlin befragt. Auf dieses hat das PGS in einer öffentlichen Stellungnahme verwiesen.
Darin schrieb das PGS: Die „Umnutzung des Pflegeheims“ sei keine wirtschaftliche Entscheidung gewesen, sondern „rührt aus den bestehenden Strukturen sowie den Bedarfen des Landesamts für Flüchtlingsangelegenheiten (LAF)“. Das LAF klingt nun ein wenig anders, wenn es schreibt:
„Das Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten arbeitet bereits seit einigen Jahren vertrauensvoll mit dem Paul-Gerhardt-Stift zusammen, das eine Unterkunft für uns betreibt. Das angesprochene Objekt wurde dem LAF vor einigen Wochen als leer stehende Unterkunft von unserem Kooperationspartner PGS angeboten.“ Das PGS habe also diesen Wohnraum angeboten und wurde nicht angefragt, erklärt die Behörde. Das allerdings erst vor wenigen Wochen.
Und die Geflüchteten seien auch bereits im Februar dort eingezogen, „bis zu 126 Geflüchtete aus der Ukraine“ laut LAF. Das habe für die umziehenden Schulkinder den Vorteil, dass sie aufgrund der räumlichen Nähe ihre gewohnten Klassen weiterhin besuchen können. Denn im benachbarten Bezirk Reinickendorf habe eine Containerunterkunft einem geplanten Sozialwohnungsbau-Vorhaben weichen müssen, deshalb habe das LAF diese Option wahrgenommen, erklärt das Amt.
Gerne hätte man mit Bewohnern oder Angehörigen oder auch Mitarbeitenden über diese Zustände gesprochen, und im Innenhof laufen auch viele gut gelaunte, vor allem junge Menschen und ein älteres Paar aus der Ukraine herum, doch keiner von ihnen spricht Deutsch oder Englisch.
Stattdessen geistert mittlerweile ein Video durchs Netz, das es in sich hat. Es stammt aus Julian Reichelts Team, dem ehemaligen Chefredakteur der Bild-Zeitung, der wegen Compliance-Vorwürfen gefeuert worden war und nun einen eigenen TV-Kanal mit bis zu 30 Mitarbeitenden führt, von denen viele das Boulevard-Handwerk beherrschen. Ihnen ist es offenbar gelungen, mit einer Mitarbeiterin am Ort zu sprechen.
Die Frau steht – eher unzureichend verpixelt – vor dem Pflegeheim und berichtet von dramatischen Szenen: Bewohner hätten sich am Fahrstuhl festgehalten, weil sie nicht aus ihrem Zuhause hätten ausziehen wollen. Viele hätten Angst gehabt. Einer habe die Pflegerin gefragt, ob er das überstehe. Der Mann sei inzwischen verstorben. Andere hätten bitterlich geweint, berichtet eine weitere Frau in dem Video. Offenbleibt, ob es eine Angehörige oder eine Mitarbeiterin ist, diese Frau ist nicht verpixelt.
Bewohner sollen große Angst gehabt haben
Die Pflegekraft berichtet weiterhin, ihr sei nicht bekannt, dass den Senioren dabei geholfen worden sei, eine andere Bleibe zu finden, einigen sei wohl einfach gekündigt worden. Und das teils mit einer Frist von nur drei Monaten, suggeriert das Video weiter. Auch die Pflegekräfte seien ratlos und es sei nur denen weitere Verwendung im Unternehmen angeboten worden, die früher gegangen wären. Die Pflegekraft sei schon seit 20 Jahren tätig und überlege nun, aus der Pflege auszusteigen, weil es immer nur heiße, dass sich alles bessere, aber nichts bessere sich. Sie klingt resigniert.
Das ist so ungefähr das Gegenteil von dem, was die offiziellen Stellungnahmen der Verantwortlichen aussagen. Die JSD hatte versichert, sowohl die Bewohner selbst als auch die Mitarbeitenden seien intensiv dabei begleitet worden, ein neues Zuhause beziehungsweise eine andere Anstellung zu finden.
Auch die Diakonie-Direktorin sieht die Sache ganz anders als im Video dargestellt: „Es wird eine Stimmung geschürt, die wir gerade jetzt nicht gebrauchen können. Die ehrenamtlichen und hauptamtlichen Mitarbeitenden in 1600 diakonischen Mitgliedseinrichtungen setzen sich in Berlin und Brandenburg gleichermaßen für alle Schutz- und Hilfesuchenden ein. In diesen Tagen gilt es, den sozialen Zusammenhalt zu befördern – nicht zu spalten“, schreibt Ursula Schoen.
Es sei „bedauerlich“, dass die Senioren und Mitarbeitenden ihre gewohnte Umgebung zurücklassen müssten, so Schoen. „Umso mehr schätzen wir die hohe Professionalität und große Empathie, mit der die Mitarbeitenden der Johannesstift Diakonie ein neues Zuhause für die Bewohnenden finden und diese seit Monaten auf den Umzug vorbereiten.“
Dem PGS war – unter anderem in dem Focus-Artikel – vorgeworfen worden, sich an dem Umzug insofern zu bereichern, als es für Geflüchtete deutlich lukrativere Zuschüsse gebe als für die Unterbringung von Pflegeheimbewohnern. Dazu schreibt Schoene: „Diakonisches Engagement in der Geflüchtetenarbeit kann nie von Profitdenken geprägt sein.“ Mehr als 30 Mitgliedseinrichtungen der Diakonie würden in Berlin und Brandenburg über 5000 Geflüchteten eine sichere und qualitativ wertige Unterkunft und soziale Betreuung bieten. Diese Arbeit sei „alles andere als eine Goldgrube“. Vielmehr müsse sich der Landesverband immer wieder für eine auskömmliche Finanzierung einsetzen. Die Finanzierungsstrukturen seien hochkomplex. „Neben den direkt finanzierten Unkosten entstehen auch in der Arbeit mit Geflüchteten hohe Neben- und Investitionskosten, die häufig durch die Trägereinrichtung aufgebracht werden müssen. Eine einfache Aufrechnung – wie sie der aktuellen Berichterstattung zu ‚Pflege und Wohnen am Schillerpark‘ als Grundlage dient – wird der Situation nicht gerecht“, so Schone.
Wird aber der Situation gerecht, dass man immer noch nicht weiß, was denn nun zu der ursprünglichen Beendigung des Mietverhältnisses geführt hat?
Starke medizinische Versorgung auf dem Areal
Die JSD formuliert es so, dass es in 2021 vonseiten des PGS plötzlich zu unterschiedlichen Vorstellungen über die Pachtzinserhöhungen gekommen sei und man sich deshalb nach intensiven Verhandlungen einig geworden sei, das Pflegeheim im Jahr 2025 zu schließen, anstatt die bis mindestens 2031 vereinbarte Pachtdauer einzuhalten. Ab Mitte 2024 sei für die JSD eine monatliche Kündigungsfrist vereinbart worden. Das Heim sei aber zuletzt nicht mehr neu belegt worden, weil sich die meisten Bewohner und Angehörige längere Wohnaussichten wünschen würden. Warum nun schon zum Dezember 2022 einem großen Teil der Bewohner offenbar kurzfristiger gekündigt wurde und der Rest bis Ende 2023 ausziehen soll, bleibt unklar.
Das PSG äußert sich inzwischen ebenfalls: „Wir bedauern den Eindruck, dass Senioren zugunsten Geflüchteter aus dem Pflegeheim ausziehen mussten. Diese Darstellung entspricht nicht den Tatsachen. Erst nachdem klar wurde, dass es zu einer Beendigung des Mietvertrags kommt, musste sich das Paul-Gerhardt-Stift mit dem absehbaren Leerstand befassen. Daher wurde entschieden, dass die Räumlichkeiten für besonders schutzbedürftige Flüchtlinge genutzt werden.“ Es sei keine Kündigung gegenüber der Betreiberin des Pflegeheims ausgesprochen worden.
Stattdessen sei es eine Herausforderung für das PGS gewesen, die frei werdende Immobilie „weiterhin sinnvoll und nahtlos zu nutzen. Als diakonisches Unternehmen arbeiten wir ohne Gewinnerzielungsabsicht unter den Regeln der Gemeinnützigkeit. Die Unterbringung von Geflüchteten auf unserem Gelände ist bereits seit 1989 eine Säule unseres Wirkens. Die Ausweitung war nur schlüssig, aufgrund der jahrzehntelangen Expertise im Bereich der Geflüchtetenarbeit.“
Wurden hier die richtigen Entscheidungen getroffen?
Auf dem gesamten Gelände des Paul-Gerhardt-Stifts würden somit nun knapp 300 Geflüchtete leben, 170 davon bereits seit vielen Jahren. Der Bedarf an Flüchtlingsunterkünften sei in Berlin unverändert hoch. „Wir sind froh, dass wir hier unseren Anteil leisten können“, schreibt das PGS.
Wenn man sich auf dem Gelände umsieht, stellt man sich allerdings die Frage, ob hier wirklich die richtigen Entscheidungen getroffen wurden. Das Areal beherbergt so viele Ärzte unterschiedlichster Fachrichtungen, dass es – rein strukturell gesehen – geradezu ein Paradies für Alten- und Pflegeheimbewohner ist. Wer die Versorgung älterer Menschen in Deutschland schon länger verfolgt, der weiß, dass es zunehmend schwieriger wird, in Heimen überhaupt eine Hausarztversorgung aufrechtzuerhalten – und hier gibt es darüber hinaus sogar zahlreiche Fachärzte unterschiedlichster Couleur. Zumal in Laufnähe beziehungsweise mit ebenerdigen Praxen, also rollstuhlgerecht. Es gibt in ganz Deutschland nicht viele Pflegeheime, die eine solch wohnortnahe Versorgung mit den gerade für alte und kranke Bewohner wichtigen Einrichtungen überhaupt anbieten können.
Das Areal hat so viele soziale, psychosoziale und medizinische Einrichtungen im Angebot, dass es eine Schautafel am Eingang braucht – aufgeführt sind unter anderem ein Dentallabor, Physio- und Ergotherapie, Logopädie, Kieferorthopädie, Orthopädie, Schmerztherapie, Psychotherapie, Nuklearmedizin, ein Friseur, eine Apotheke, eine psychiatrische Tagesklinik, Augenarzt, Seelsorge, ein Steuerbüro und ein „Bewegungsraum“.
Teile dieses Angebots sind wohl auch für Geflüchtete – oder einfach für weitere Anwohner rund um das Areal – attraktiv, doch bei weitem nicht so, wie sie teils für Pflegeheimbewohner unverzichtbar sind. Der große Unterschied: Viele Alte und Kranke sind nicht mehr mobil und daher, im Gegensatz zu allen anderen Bevölkerungsgruppen, auf Laufnähe beziehungsweise Möglichkeiten des Transports angewiesen. Statt aber weiterhin auf eine solche wohnortnahe Versorgung zu setzen, werden in vielen Pflegeheimen teure, zeitintensive und für Kranke oft beschwerliche Krankentransporte angeordnet.
Auf dem PGS-Areal finden sich nun Angebote wie „Mutter und Kind lernen Deutsch“, „Stop Racism – Mobile Anlaufstelle für diskriminierende Vorfälle“ oder „Streetdance“. Von einer Strategie für das Zusammenführen der Generationen, wie es sich viele ältere Heimbewohner, die schon länger keinen Besuch mehr bekommen haben, vielleicht wünschen würden, ist hier nichts zu sehen. Die letzten Heimbewohner sollen Ende des Jahres ausziehen. Wohin, darüber gibt es keine Auskunft.
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