Nach der Wahl: Lebe ich in Berlin gesünder, wenn ich an Euthymie leide?

Hypochonder-Kolumne: Die Stadt bleibt unfähig, sich zu organisieren: Das Chaos ist Prinzip. Mit der passenden Diagnose lässt sich das aber gut ertragen.

Sitzecke auf einem Berliner Gehweg mit einem Zettel „Zu verschenken“: Schrott, mit gutem Gefühl entsorgt
Sitzecke auf einem Berliner Gehweg mit einem Zettel „Zu verschenken“: Schrott, mit gutem Gefühl entsorgtMüller-Stauffenberg/imago

Es ist schon wieder passiert. Ich habe mir selbst eine Diagnose gestellt – Euthymie. Und das kam so: Ich war krank. Ausnahmsweise ganz real, was an Sars-Cov-2 lag, an Corona. Nicht nur für mein Immunsystem würde das herausfordernd, glaubte ich, auch für meine Nerven. Schließlich musste ich zur Hausärztin vordringen, deren Praxis in jener Woche nur eingeschränkt öffnete. Ich sah mich am Telefon verzweifeln, überlegte, ob ich persönlich vorsprechen sollte. Als wandelnde Pestilenz war das natürlich ausgeschlossen.

Der erste Anruf ging ins Leere, ebenso der zweite, doch beim dritten hatte ich jemanden am Apparat und nachmittags einen Befund, als Code auf der Krankschreibung vermerkt. Tiefe Dankbarkeit erfüllte mich und das Gefühl, dass es mir schon viel besser ging. Die Energie reichte bald, um das Internet zu durchforsten. Irgendetwas konnte da ja nicht stimmen. Passte diese Episode zu meiner Stadt?

Ich erinnerte mich an Geschichten, die von einer Odyssee durchs Gesundheitssystem handelten. Mal nahmen sie ihren hoffnungslosen Anfang beim ärztlichen Bereitschaftsdienst. Mal spielten sie in einem Krankenwagen, der vergeblich eine überfüllte Rettungsstelle nach der anderen abklapperte. Ich selbst erlebte an einem solchen Ort lange vor der Pandemie Zustände, die an ein Lazarett erinnerten: ein Arzt, drei Pflegekräfte, geschätzt 40 Patienten, am späten Abend aufgebahrt in einem Gang. Oma jammert: „Ich will nach Hause!“ Pfleger ruft: „Nein, Frau Müller, das geht jetzt nicht!“ Oma jammert: „Ich glaube, ich sterbe!“ Pfleger ruft: „Nein, Frau Müller, das geht jetzt nicht!“

Nun wäre es unfair gewesen, mich bei der Ursachenforschung auf das Gesundheitssystem zu beschränken. Zweifellos handelte es sich um eine Art Erreger, der jeden befiel, sobald er die Stadt betrat. Ich wurde schnell fündig, auf einer Seite namens psycholex.com oder so: Dysexekutives Syndrom – die Unfähigkeit, sich zu organisieren.

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Berliner Zeitung/Paulus Ponizak
Hypochonder-Glosse
Christian Schwager ist Redakteur für Gesundheit und schreibt alle zwei Wochen an dieser Stelle über seine eingebildeten Krankheiten.

Zu den markantesten Berliner Symptomen zählen eine vergeigte Wahl 2021 und als Spätfolge nun der Versuch, eine Regierung zu bilden. Doch nicht nur die Politik, fast ausnahmslos alle Berliner dysexekutieren mit. Was zum Beispiel nicht mehr benötigt wird, fliegt auf die Straße, vom vollgerotzten Papiertaschentuch bis zur Sitzecke. In einer auf Nachhaltigkeit getrimmten Variante gibt es den Schrott „Zum Mitnehmen“, wobei dieser Trend bei Papiertaschentüchern noch nicht erkennbar ist.

Neulich stand auf einem Sims in meiner Straße ein durchgelatschtes Paar Laufschuhe, mit dem vermutlich Emil Zatopek 1948 in London zum Olympiasieg rannte. „Zu verschenken“, klar, vielen Dank, liebe Gönner! Apropos neulich: Selbst die Ratten halten es nicht mehr für nötig, ordnungsgemäß in der Kanalisation zu verrecken. Davon zeugte eine Leiche auf dem Gehweg, zwei, drei Tage lang, was vor allem die anatomische Neugier spielender Kinder weckte.

Euthymie: Wenn die tote Ratte auf dem Gehweg nicht mehr stört

Warum ich das alles hier ausbreite und nicht dem nächstbesten Hundehaufen vor meiner Haustür erzähle? Weil das Teil der Therapie ist! Ich wollte ja berichten, wie ich auf die Diagnose Euthymie gekommen bin. Euthymie steht für ein inneres Gleichgewicht. Man freut sich über etwas, obwohl es insgesamt bescheiden läuft. Über eine gut organisierte Hausarztpraxis etwa. Und irgendwann dann auch über ein vollgerotztes Taschentuch, das der Wind in den Rinnstein bläst. Soll die tote Ratte daneben ruhig still vor sich hin stinken.