Lehren aus zwei Jahren Corona: Was Mediziner jetzt wissen sollten

Wirkt die Impfung nur kurz, warum werden kaum Therapien eingesetzt und kommt im Herbst wirklich die Killer-Variante? Ein Ärztekongress soll aufklären.

Wohin weisen die Medizin und die Forschung nach über zwei Jahren Corona-Pandemie? Es gibt neue und alte Erkenntnisse.
Wohin weisen die Medizin und die Forschung nach über zwei Jahren Corona-Pandemie? Es gibt neue und alte Erkenntnisse.dpa

Der Gesundheitsminister warnt. Diese spätestens seit Lauterbach, wenn nicht täglich, dann doch mindestens wöchentlich verkündete Botschaft endet meist mit spektakulären Aufrufen zur Impfung, zum Masketragen, zur allgemeinen Vorsicht im Umgang mit Corona. Allein im vergangenen Monat warnte Karl Lauterbach (SPD) mehrfach vor Sorglosigkeit, vor der Rückkehr der Delta-Variante, vor der Sommer-Welle – und von seiner umstrittenen Warnung vor einer sogenannten Killer-Variante will er auch noch nicht ganz ablassen.

Dabei sehen das Experten, die täglich Corona-Patienten versorgen und zugleich in der Forschung tätig sind, ziemlich anders. Sogar wenn sie selbst eine Nähe zur Pharmaindustrie offenlegen, wie etwa der Mediziner Christoph Spinner, Oberarzt und Infektiologe am Klinikum rechts der Isar in München, dies bei einem Kongress der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin (DGIM) diese Woche getan hat.

Fast 1000 Ärzte, medizinisches Personal und Medizinjournalisten interessierten sich bei dem DGIM-Talk unter der Überschrift „Lehren aus Corona“ für die Rückblenden von Forschung und Medizin nach zwei Jahren Pandemie, aber auch für realistische Ausblicke auf den Herbst und ganz konkret für Handlungsempfehlungen etwa zu Therapiemöglichkeiten für vulnerable Patienten mit Covid-Infektion unter der neu vorpreschenden Variante BA5.

Killer-Variante höchst unwahrscheinlich

Spinner legte im Vorfeld zu seinem Beitrag offen, dass er unter anderem Berater für diverse Impfhersteller ist und in seiner Forschung zahlreiche Verbindungen ��in die Industrie“ pflege, sein Vortrag aber „neutral gehalten“ sei. Er persönlich glaube nicht an die „politisch zuletzt propagierte“ Killer-Variante, denn: „Das Virus kann sich nur bedingt verändern, ohne seine Grundeigenschaften zu verlieren.“

Auch der Leiter des Instituts für Virologie an der Uniklinik Düsseldorf, Jörg Timm, nahm dem Publikum die Sorge vor einer Virusmutation à la Deltacron oder gar Schlimmerem: „Viren verändern sich so, dass sie möglichst gut verbreitet werden“, erklärte der Virologe den Medizinern. Ob auch die Erkrankungsschwere wie nun bei Omikron beobachtet gegenüber vorherigen Virusmutationen immer niedriger werde, sei noch nicht klar. Um aber eine Rekombination etwa aus der stark ansteckenden Omikron- und der tödlicheren Delta- oder anderen gefährlicheren Varianten zu erhalten, müssten die Infektion mit beiden Virusvarianten gleichzeitig in einem Patienten aktiv sein. Und das sei doch sehr unwahrscheinlich. Wenngleich nicht absolut unmöglich.

Was nun stattdessen für ein Virus im Herbst auf uns zukomme, sei nicht vorherzusagen. Gesichert sei nur: Omikron werde sich weiterentwickeln. Da sei Corona nichts Besonderes: „Alle Viren machen im Grunde Evolution im Zeitraffer“, so der Professor, weshalb mit immer neuen Varianten zu rechnen sei. Derzeit sei die immer weiter verbesserte Ansteckungsfähigkeit des Virus zu beobachten – vor allem im Vergleich zum Wildtyp.

Omikron gilt immer noch als unvorhergesehener Glücksfall

„Omikron ist ein Glücksfall“, betonte Timm einmal mehr, „weil die Erkrankungsschwere damit zurückgegangen ist und sich das Virus vorwiegend in den höheren Atemwegen aufhält“. Das heiße aber nicht, dass das so bleibe bei kommenden Varianten. Die könnten sich auch wieder wie bei Delta verhalten. Die Eigenschaften von Omikron (starke Verbreitung) und Delta (höhere Krankheitslast) zu kombinieren, sei für das Virus und sein Überleben aber eher schlecht und somit insgesamt eine unwahrscheinliche Variante.

Im Unterschied zur Virusvariante Delta, die 2021 aktiv war, haben wir jetzt eine viel größere Immunität in der Gesamtbevölkerung, erklärt Timm.

Warum aber haben manche auch vielfach geimpfte Patienten selbst unter Omikron noch deutlich schwerere Verläufe als etwa manche Ungeimpfte oder bereits infizierte Patienten? Es handele sich wohl um einen Mix aus genetischen Faktoren, der Infektionsdosis, der Grundkonstitution und Vorerkrankungen, und sei damit eine Frage der individuellen Immunantwort. „Das gibt es auch bei der Grippe“, so Timm, „auch da haben wir eine sehr hohe Bandbreite der Erkrankungsschwere, vom leichten Schnupfen bis zum beatmungspflichtigen Lungenversagen auf der Intensivstation“.

Auch die eigene Blutgruppe könne zwar einen Hinweis darauf geben, wie ein Patient voraussichtlich eine Infektion durchlebe, sei aber keinesfalls in Stein gemeißelt. Blutgruppe 0 gilt inzwischen auch bei ernst zu nehmenden Medizinern als ein Hinweis auf eine womöglich bessere Immunantwort auf Sars-Cov-2 als etwa Blutgruppe B – doch es gibt auch Gegenbeispiele und es sei „mechanistisch nicht gut aufgeklärt“, berichtet Timm.

Es droht die Rückkehr der Influenza

Was man nun für den Herbst befürchtet, ist deshalb gar nicht unbedingt eine schwere Corona-Welle, wohl aber die Rückkehr der Influenza, also der Grippe. Das sei „in der Tat eine Sorge, die man haben muss, da wir in den letzten zwei Jahren kaum Influenza-Fälle im Winter hatten“, so Timm. „Es ist durchaus davon auszugehen, dass die Influenza-Welle sehr heftig ausfallen wird. Das wäre die Erwartungshaltung, wenn die Kontaktbeschränkungen nicht wie im letzten Winter sein sollten“, so der Professor. Ähnliches wurde im vergangenen Jahr schon bei Kindern mit dem RS-Virus beobachtet (Respiratorische Synzytial-Virus). Doch für die Grippe etwa gebe es ja Impfungen, wenn auch nicht mit 90-prozentigem Schutz.

Aber was ist in Bezug auf Corona aus der angestrebten Herdenimmunität geworden? Sind nicht inzwischen genügend Deutsche geimpft oder war dieses Ziel in Bezug auf Corona eh nie eine besonders gute Idee?

Dazu referierte Professor Tobias Böttler als Leiter der Forschungsgruppe Immunologie der Uniklinik Freiburg. Mit einem Satz: „Eine Herdenimmunität wird es für Deutschland nicht geben“, sagte Böttler, denn: „Die Voraussetzung für eine Herdenimmunität ist ein stabiler viraler Typ.“ Corona aber entwickelt sich beständig weiter. Deshalb sei eine Herdenimmunität „kein realistisches Ziel mehr“.

Herdenimmunität ist out, hybride Immunität ist in

Angestrebt werde nun stattdessen die „hybride Immunität“ – eine Kombination aus natürlicher Immunität und Impfimmunität. Also: durch Ansteckung und Impfung gleichermaßen.

Die Analyse zu Antikörper-Titer und T-Zellen habe ergeben, dass die Kombination aus Impfung und Ansteckung zur größten Immunität führe. Eine neuere Studie aus München habe gezeigt, dass Patienten mit drei Expositionen (also näheren Kontakten mit dem Virus) am besten geschützt seien – vor allem wenn es zwei Impfungen und eine Infektion waren. Eine dreimalige Impfung plus Infektion biete einen „hundertprozentigen Schutz vor schweren Verläufen“.

Es gebe auch neuere Erkenntnisse zur Dauer des Impfschutzes, obwohl „wir im Moment noch sehr viel lernen“, so Böttler. Omikron verursache weniger schwere Krankheitsverläufe, aber die Delta-Welle sei „wahrscheinlich verantwortlich für die hohe Hintergrundimmunität“ in der Bevölkerung. Die große Mehrheit der Deutschen verfügt über eine breite Immunität, auch das trägt zu reduzierter Krankheitsschwere bei.

Auch neuere Analysen zur Wirksamkeit der Impfungen liegen vor. „Wir wissen aus den Zulassungsstudien, dass schon nach der ersten Impfdosis an Tag elf und zwölf die Infektionszahlen und die Krankheitsschwere runtergehen. Da gibt es einen schnellen protektiven Effekt trotz weniger neutralisierender Antikörper. Die T-Zellen sind dann schon präsent, das bedeutet einen frühen Schutz vor schweren Verläufen“, so der Professor. Nach der ersten und zweiten Impfung, die meist schnell aufeinanderfolgen, bilde sich dann erst mal ein stabiles T-Zell-Gedächtnis, doch mit dem Booster, also der dritten Impfung, gehe die Anzahl der T-Zellen schon nach 30 Tagen wieder runter. Bedeutet: „Der Boost-Effekt der einzelnen Impfungen ist nicht so langlebig“, so der Experte. Heißt das, dass die Impfungen nur 30 Tage lang wirksam sind? Nein, so Böttler, denn es gebe eine „gute Hintergrundimmunität“.

Für die Empfehlung der Impfdosen und Abstände bleibe deshalb eine individuelle Risikoabschätzung notwendig. Das Immungeschehen bleibe von Fall zu Fall eine hochindividuelle Angelegenheit, auch die T-Zellen-Konzentrationen änderten sich teils vom einen auf den anderen Tag und die Analyse sei hochkomplex. Viele Ärzte wollten wissen, ob sie ihre Patienten schon im Sommer oder erst im Herbst zum dritten oder vierten Mal impfen sollten. Dazu müsse man auf die Empfehlungen warten, das sei jetzt noch nicht absehbar, ließen die Experten verlauten. Fragen zu vulnerablen und chronisch kranken Patienten hingegen konnte der Infektiologe Spinner beantworten.

Doppelte Impfung? Zum Teil schon wieder egal

Er verwendet mit seinem Team in München teils Kombinationen aus Therapien. Die Antikörper-Therapie etwa habe sich bei Omikron als nicht mehr besonders wirksam erwiesen. Dagegen sei es unverständlich, warum in Deutschland zugelassene Mittel zur Therapie nach Ansteckung nicht öfter rechtzeitig gegeben werden.

Spinner stellte dem Publikum eine Frage im Stil des medizinischen Multiple-Choice-Studiums:

Sie haben einen 71-jährigen Hypertonie-Patienten mit Corona-Infektion im Juni 2022. Er ist nicht geboostert, wurde aber im Juli 2021 doppelt geimpft. Seit zwei Tagen hat er Fieber nach der Infektion. Die aktuelle Virusvariantenzirkulation liegt bei etwa 30 Prozent BA5. Was tun Sie? Sie behandeln ihn a) alleinig symptomatisch, b) mit Molnupiravir für fünf Tage, c) mit Nirmatrelvir für fünf Tage, d) mit Sotrovimab, einmalig  500 Gramm.

Im Publikum wählen die meisten Mediziner Antwort a. Doch Spinner sagt: „Es gibt zwei Risikofaktoren, das Alter und den Bluthochdruck. Und er ist nicht geimpft.“ Bedeutet: In der Praxis wird die Doppelimpfung im Zweifel gar nicht mehr als Impfung angesehen, weil zu lange her. „Und wir wissen nichts über seinen Immunstatus“, sagt Spinner. „Wir haben mehrfach solche Patienten auf der Intensivstation verloren, gerade wenn die Antikörper unklar waren. Deshalb muss ich heute klar sagen: Wir würden diesen Patienten heute mit den Therapeutika behandeln. Deshalb zeige ich Ihnen diesen Fall.“

Eine Therapieempfehlung für diese und weitere vulnerable Personengruppen finde sich auf der Homepage des Robert-Koch-Institutes, diese sei frisch an die neuesten Erkenntnisse angepasst und auch interaktiv anwendbar. Der Privatdozent forderte die Mediziner auf: „Nutzen Sie dieses Tool!“