Selbstdiagnose: Warum ich mit den Klima-Klebern so mitfühle
Als er an einer Straßenblockade vorbeiradelt, kommen unserem Autor Erinnerungen an eine häusliche Bastelei und eine Idee gegen Finanznot. Die Hypochonder-Kolumne.

Es ist schon wieder passiert. Ich habe mir selbst eine Diagnose gestellt – Hyperempathie. Und das kam so: Ich begegnete einem halben Dutzend Klima-Klebern. Man kommt ja in Berlin nicht mehr an ihnen vorbei. Es sei denn, man ist mit dem Fahrrad unterwegs, befindet sich auf einem Fahrradweg zwei Meter vom Ort des Protests entfernt und schlängelt sich durch. So wie ich an diesem Morgen.
Ich bahnte mir den Weg durch ein Grüppchen entspannter Polizisten, die gerade die umstehenden Fußgänger ermunterten weiterzugehen, da fiel mein Blick auf eine Hand. Sie ruhte auf dem Asphalt und gehörte zu einer jungen Frau. Sie hatte einen roten Rand. Nicht die Frau, die Hand. Zumindest glaubte ich, eine Hautirritation zu bemerken. Ein Wort kam mir in den Sinn: Cyanacrylat.
Ich hatte mich mit dieser Substanz schon einmal befasst, als sich anlässlich einer häuslichen Bastelarbeit Daumen und Zeigefinger scheinbar unzertrennlich miteinander verbanden. Cyanacrylat gehört zu den Inhaltsstoffen von Sekundenkleber. Das fand ich im Internet heraus, und nun erinnerte ich mich daran, dass ich seinerzeit die feine, aber sehr unpraktische Handstellung zwar gelöst bekam. Danach jedoch brannten die Fingerkuppen, die Haut spannte, die Kleisterkruste ließ sich erst unter Gewalteinwirkung mithilfe einer Nagelbürste entfernen. Den Trick mit dem Speiseöl kannten in jenen Tagen vermutlich nur Eingeweihte einer Kleberszene, deren Fokus weniger auf der Klimakatastrophe als vielmehr auf dem Heimwerkertum lag.
Obwohl nicht ich es war, der jetzt dort auf der Kreuzung festhing, meinte ich während der Vorbeifahrt für einen Bruchteil von Sekunden dieses Gefühl von damals zu verspüren. Ein Déjà-vu oder besser Déjà-senti, ein Phantomschmerz, dem ich auf den Grund gehen musste. Schließlich verstehe ich bei eingebildeten Schmerzen keinen Spaß.

Schon bald stellte sich heraus, dass ich im Begriff war, ein Syndrom namens Hyperempathie zu entwickeln. Das erläuterte mir eine Internetseite namens Gefuehlskosmos.com oder Geisteswelt.org oder was weiß ich. Jedenfalls war es wohl so, dass ich mir erst dann richtig wertvoll vorkam, wenn ich aller Welt einen Gefallen tat. Deswegen fühlte ich pausenlos mit, um rechtzeitig festzustellen, wann ein solcher Gefallen zu tun sei. Ich hoffe, ich gebe das hier mit meinen eigenen Worten korrekt wieder.
Über diese völlig neue Seite an mir war ich sehr erstaunt. Ich musste mich entscheiden, ob eine affektive oder kognitive Empathie vorlag. Ob ich also wirklich das gleiche Brennen und Spannen fühlte wie die morgendliche Klima-Kleberin oder lediglich verstand, wie sie sich in diesem Augenblick fühlen musste.
840.000 Euro bis September? Warum nicht ein Sponsorenkleben?
Ich tendierte zur kognitiven Ausprägung und sah mich kurz darauf in meinem Befund bestärkt. Denn ohne jegliche Symptome nahm ich eine Nachricht auf, die Aktivisten über Social Media verbreiteten. Sie verwiesen darauf, dass sie viel Geld benötigten. Bis September schätzungsweise 840.000 Euro, um Plakate, Trainings sowie weitere Erfordernisse zu finanzieren. Und Sekundenkleber, aber das versteht sich ja von selbst. Kein erhöhter Puls meinerseits, keine Schnappatmung bei der Lektüre, keine Affektion.
Stattdessen reagierte ich kognitiv, mir kam eine Idee – zu einem Sponsorenlauf ohne laufen: mindestens ein Spender pro Kleber, ein Betrag nach Wahl pro Minute Handkontakt zur Fahrbahn. Ein Sponsorenkleben! Also ich weiß nicht, wie meine Hyperempathie darauf reagiert, aber ich persönlich habe dabei ein gutes Gefühl.