Mehr Corona-Opfer durch Lockdown als durch das Virus: In Afrika wurden Krisen massiv verschärft
Hunderttausende Opfer durch Malaria, HIV und Tuberkulose werden befürchtet. Viele Menschen leiden unter Armut und Hunger. Der Humangeograf Detlef Müller-Mahn blickt auf die Folgen von Corona in Afrika.

Berlin-Oft wird über die Schäden der Pandemie geredet, die nicht direkt vom Virus verursacht werden. Forscher sammeln derzeit Daten: über die Folgen der vermiedenen oder verzögerten Behandlung anderer Krankheiten, über psychologische und wirtschaftliche Auswirkungen. Auch solche Daten gehören zu einer umfassenden Corona-Bilanz. Für andere Regionen der Welt – vor allem Afrika – hat Bundesentwicklungsminister Gerd Müller (CSU) bereits jetzt dramatische Schätzungen vorgelegt, die wohl alles für Europa Erwartbare weit übertreffen.
„An den Folgen der Lockdowns werden weit mehr Menschen sterben als am Virus“, sagte Müller in einem „Handelsblatt“-Interview. Allein für den afrikanischen Kontinent rechne man mit zusätzlich 400.000 Opfern durch Malaria und HIV sowie einer halben Million zusätzlicher Tuberkulose-Toter. Die Pandemie habe auch eine der größten Armuts- und Hungerkrisen ausgelöst.
Dabei gab es doch gerade ermutigende Nachrichten. Offiziell werden aus ganz Afrika etwa 1,46 Millionen Sars-CoV-2-Infizierte und etwa 36.000 Tote gemeldet. Im Vergleich zu anderen Krankheiten auf dem Kontinent sind das recht niedrige Zahlen. Wenn man aber genauer hinschaue, so sagt der Geograf Detlef Müller-Mahn, dann sehe man, dass sich die gemeldeten Fälle auf wenige Länder wie Südafrika konzentrierten. Das sei nicht überraschend, denn hier werde am meisten getestet. Es sei aber schwer zu sagen, wie viele Menschen jenseits der offiziell gemeldeten Fälle tatsächlich an Covid-19 erkrankt sind und wie viele davon sterben. Die günstigen Zahlen könnten einen partiellen Erfolg der zum Teil sehr harten Lockdown-Maßnahmen widerspiegeln, sagt der Forscher. Für eine optimistische Einschätzung der Lage spreche auch der junge Altersaufbau in Afrika.
Detlef Müller-Mahn ist Professor für Humangeographie an der Universität Bonn und Sprecher des Sonderforschungsbereichs „Future Rural Africa“ der Universitäten Bonn und Köln, der sich mit der Zukunft des ländlichen Afrikas befasst. „Ich würde sehr vorsichtig sein mit Verallgemeinerungen, was Afrika betrifft“, sagt der Wissenschaftler. Wie auch im Rest der Welt herrsche „quer durch Afrika eine hochgradig heterogene Lage“.
Über unmittelbare Auswirkungen des harten Corona-Lockdowns kann der Geograf unter anderem aus dem östlichen Afrika berichten. „Was wir beobachten, ist eine massive Störung von Stadt-Land-Beziehungen als Folge des Lockdowns“, sagt Müller-Mahn. Die Händler seien nicht mehr auf die Dörfer gefahren, um Gemüse zu kaufen. In den Städten habe es daraufhin eine Verknappung der Nahrungsmittel und eine Explosion der Preise auf das Zwei- bis Dreifache gegeben. Ein großer Teil der Bevölkerung könne sich bestimmte Nahrungsmittel und auch Grundnahrungsmittel nicht mehr leisten. Der Lockdown sei auch genau zu jener Zeit passiert, als die Bauern dabei waren, die Felder für die nächste Aussaat vorzubereiten. Sie hätten dringend Dünger und Saatgut gebraucht, die nicht geliefert wurden. Neben den Nahrungssystemen seien also auch die Versorgungsketten unterbrochen worden. „Wir können noch gar nicht genau sagen, welche Konsequenzen das haben wird“, sagt Detlef Müller-Mahn. Er sieht potenziell langfristige Auswirkungen, etwa durch ein wachsendes Misstrauen der Landbevölkerung gegenüber dem Staat, den Städten und städtischen Händlern.
Eine weitere Folge des Lockdowns: „Durch den fast kompletten Zusammenbruch des Tourismus haben viele Länder in Afrika eine wichtige Einnahmequelle verloren“, sagt Müller-Mahn. Für Länder wie Namibia zum Beispiel sei das ein Desaster. Zumal das Land durch fortgesetzte Dürren ohnehin schon massive Probleme gehabt habe. Die Viehproduktion liege am Boden. Und an jedem Beschäftigten des Tourismus hingen zehn Familienangehörige, die von ihm leben. „Wir können das Ausmaß des wirtschaftlichen Einbruchs noch nicht genau bestimmen. Aber er wird wohl verheerend sein, in ganz Afrika.“
Allein 25 afrikanische Staaten stünden vor dem Staatsbankrott, sagte Bundesentwicklungsminister Gerd Müller. Die Versorgung mit Lebensmitteln und Medikamenten breche auch deshalb zusammen, weil Hilfsprogramme des Westens nicht mehr ausreichend finanziert seien. Die Industrieländer schauten vor allem auf sich selbst. „Es werden keine Masernimpfungen durchgeführt, keine Mückennetze mehr verteilt, HIV-Behandlungen bleiben aus, Medikamente werden nicht ausgegeben", sagte Microsoft-Gründer und Stifter Bill Gates zur medizinischen Situation, die viele „indirekte“ Covid-19-Opfer fordere. Erst Anfang September kritisierte der Hallenser Humangeograf Jonathan Everts in der Berliner Zeitung die weltweite Strategie der nationalen Abschottung durch Lockdown, Schließung von Ländergrenzen und Einstellung von Flügen. Die WHO habe Flugzeuge chartern müssen, um wichtige Medizin in Gebiete Afrikas zu bringen, die bisher über normale Flugverbindungen zu erreichen waren.
„Corona ist eine Art Krisenverschärfer. Strukturelle Probleme, die es ohnehin schon gibt in Afrika, werden sichtbarer und massiv verschärft“, fasst Detlef Müller-Mahn seine Einschätzung zusammen. Dazu gehörten nicht nur die rein ökonomischen Krisen, sondern generell die Krise des Staates. Der Staat sei in den meisten Ländern relativ schwach institutionalisiert und kaum in der Lage, in der Krise seine Aufgaben in entlegenen Landesteilen wahrzunehmen.
Europa müsse sich fragen, inwiefern es dazu beigetragen habe, „dass in den letzten Jahren und Jahrzehnten Abhängigkeiten entstanden sind, die sich jetzt als ausgesprochen heikel erweisen“, sagt der Forscher. Er gibt ein Beispiel: Viele der Schnittblumen, darunter Rosen, die man in Deutschland in Supermärkten zu kaufen bekomme, stammten aus einem kleinen Anbaugebiet in Kenia. Dort würden sie seit gut zwei Jahrzehnten produziert, weil die Lohnkosten erheblich günstiger seien als in Europa. Durch den Zusammenbruch des Flugverkehrs sei jedoch der Warenhandel vorübergehend abgerissen. Tonnenweise Blumen konnten nicht verkauft werden. Existenzen seien akut bedroht. Das zeige Abhängigkeiten, die in der aktuellen Krise problematisch würden.
„Diese gebetsmühlenartige Wiederholung von Afrika als Katastrophenkontinent verstärkt letzten Endes die alten Abhängigkeiten und Verwundbarkeiten“, sagt der Forscher Müller-Mahn. Stattdessen müsse man darüber nachdenken, wie man die Widerstandsfähigkeit stärken und eigenständige – auch wissenschaftliche – Lösungen aus Afrika heraus ermöglichen könne. „Man sollte auch schauen, wie Staaten robuster gemacht werden können, nicht nur aktuell gegen Covid-19, sondern auch gegen die folgenden Pandemien. Denn das wird mit Sicherheit nicht die letzte sein.“
Eines der Projekte des Bonn-Kölner Sonderforschungsbereichs befasst sich mit der Entstehung von Viruspandemien über die Verschiebung biokultureller Grenzen. „Wir beobachten momentan eine massive und extrem rapide Verschiebung von Grenzen zwischen verschiedenen Formen der Landnutzung“, sagt Müller-Mahn. Unter anderem breiteten sich invasive Pflanzenarten aus, die es bestimmten Moskitoarten als Wirtspflanzen ermöglichen, in Gebiete zu wandern, wo es sie vorher nicht gegeben habe. Dort könnten sie Krankheiten übertragen. Über sogenannte Zoonosen – also Übertragungen von Infektionserregern zwischen Tier und Mensch – entstünden neue Gefährdungspotenziale, sagt Detlef Müller-Mahn. „Und damit steigt das Risiko, dass solche Phänomene wie Covid-19 oder Ebola – als anderes Beispiel – sich in Zukunft häufiger ereignen werden, mit Auswirkungen, die wir noch nicht absehen können.“