Pandemie-Stress: Wie eine Zitrone helfen kann, den Kopf neu zu starten
Auch in der vierten Welle werden wir vielen belastenden Nachrichten ausgesetzt. Die Psychotherapeutin Christa Diegelmann gibt Tipps, wie man damit umgehen kann.

Berlin-Für die Bewältigung der Corona-Pandemie gibt es bisher keine allgemeinen Strategien, erklärt die Psychotherapeutin Christa Diegelmann. Aber die Krise könne helfen, künftige Herausforderungen besser zu bewältigen – posttraumatisches Wachstum nenne man das. Ein Gespräch über die Psyche in der vierten Welle – und wie wir lernen können, sie zu beeinflussen.
Frau Diegelmann, die Corona-Inzidenz ist nach wie vor hoch, die Impfquote dagegen viel zu niedrig. Viele Menschen wissen nicht, wie und ob sie ihr Weihnachtsfest feiern sollen. Dann gibt es noch Omikron – und der Winter ist noch lange nicht vorbei. Wie soll man da durch?
Es gibt viele Situationen im Leben, die man nicht haben will und schon gar nicht, wenn es um existenzielle Bedrohungen geht. Das ist in der Corona-Pandemie und besonders jetzt in der vierten Welle aber unser Alltag. Die Pandemie ist ein vollkommen neuer multidimensionaler Stressor für die psychische Gesundheit. Sie verändert tiefgreifend viele Bereiche in unserer Gesellschaft und trifft viele Menschen in ihren sozialen Beziehungen und in ihrem ganz persönlichen Leben. Aus der Traumaforschung weiß man, dass dauerhafter unkontrollierbarer Stress zu behandlungsbedürftigen psychischen Folgeerkrankungen führen kann. Die Traumatherapeutin Pauline Boss nutzt den Begriff Ambiguitätstoleranz, um zu betonen, dass es notwendig ist, zu lernen mit Ungewissheit, Zuständen von Mehrdeutigkeit und uneindeutigen Verlusten zu leben, um gesund zu bleiben. Boss sagt, resilient sein heißt lernen mit unbeantworteten Fragen zu leben. Man darf sich nicht an den früheren Status quo klammern, sondern sollte offen für einen Perspektivenwechsel sein.

1996 gründete sie zusammen mit Psychologin Margarete Isermann das ID Institut für Innovative Gesundheitskonzepte. Gemeinsam leiten sie das von der Deutschsprachigen Gesellschaft für Psychotraumatherapie (DeGPT) zertifizierte „Curriculum Psychotraumatherapie“ und das von der Deutschen Krebsgesellschaft (DKG) zertifizierte „Curriculum Psychoonkologie“ in Berlin und Kassel.
Diegelmann und Isermann haben auch das Buch „Kraft in der Krise – Ressourcen gegen die Angst“ veröffentlicht, welches u. a. das Krisen-ABC beinhaltet.
Wieso haben die Menschen das denn nicht gelernt? Krisen hat man ja auch vor der Pandemie gehabt, sei es privat oder gesellschaftlich.
Ein Grundwissen für den Umgang mit Krisen erwerben wir alle im Laufe des Lebens. Jede erfolgreich überstandene Krise, jede bewältigte traumatische Erfahrung erweitert unser Handlungsrepertoire. Für die Bewältigung der Corona-Krise gibt es bisher keine allgemeinen Strategien, sie entstehen in der Auseinandersetzung damit. Erst wenn das individuelle Bewältigungspotenzial nicht mehr als ausreichend empfunden wird, um Lösungswege entstehen zu lassen, können sich Krisen manifestieren. Das Bewältigungsverhalten prägt die Zukunft: konstruktiv oder destruktiv.
Und wie schafft man das?
Das ist nur möglich, wenn man sich auch existenziellen Situationen gegenüber öffnet. Das kann man erreichen, indem man den Betroffenen die Hoffnung gibt, dass sie ihre individuelle Resilienz, also psychische Widerstandskraft, bis zum Lebensende weiterentwickeln können.
Die letzte existenzielle Angst, die sicherlich in vielen aufgekommen ist, war die neue Omikron-Variante. Muss man sich damit auseinandersetzen oder eher versuchen, sich möglichst von schlechten Nachrichten fernzuhalten?
Konstruktiv auseinandersetzen. Die Grundbotschaft lautet: Die psychische Widerstandskraft ist jedem Menschen gegeben. Also die Fähigkeit, sich an existenzielle Lebensbedingungen positiv anzupassen und dabei das eigene Kohärenzgefühl aufrechtzuerhalten.
Was ist das?
Ein Gefühl von Vertrauen zu sich selbst. Das man zum einen versteht, was los ist, und darin auch einen Sinn erkennt. Und zum anderen glaubt, dass man Herausforderungen handhaben oder bewältigen kann. Bei Omikron ist die Frage: Wie kann ich mich wieder mit dieser neuen Lage arrangieren, dass ich trotzdem in Kontakt mit mir bleibe? Allgemein glaube ich, dass die vierte Welle eine Chance sein kann, mal zu überprüfen, was man in den vielen Monaten alles schon gelernt hat, was hilfreich und auch was weniger hilfreich war – alles Dinge, die man womöglich persönlich vor zwei Jahren noch nicht wusste.
Sie sagen, dass jeder und jede eine psychische Widerstandskraft in sich trägt. Wirklich ausnahmslos?
Unser Gehirn ändert sich nutzungsabhängig und wir ändern das Gehirn über unsere Erfahrungen. Als ich noch studiert habe, das war vor 30, 40 Jahren, hat man geglaubt, dass man entweder ein gewisses Resilienz-Potenzial oder eine Krisen-Kompetenz hat – oder nicht. Vor allem alte Menschen wurden nicht als therapiewürdig angesehen. Inzwischen weiß man, dass gravierende Veränderungsprozesse auch bis ins hohe Lebensalter möglich sind. Sie können aktiv lernen, eine andere Haltung zu finden, zu den schlimmen Ereignissen, die sie womöglich schon erlebt haben und aktuell erleben. Je jünger man ist, umso leichter wird es einem gelingen, daran psychisch zu wachsen, weil man da noch nicht so festgefahrene neuronale Netzwerke hat, aber prinzipiell ist es möglich bis zum Lebensende resilienter zu werden.
Und in Kontakt mit sich selbst bleiben, wie genau kann das gelingen?
Meine Kollegin Margarete Isermann und ich haben in unserem Buch „Kraft in der Krise – Ressourcen gegen die Angst“ ein sogenanntes Krisen-ABC entwickelt. Das hilft, um wieder Zugang zu eigenen Ressourcen zu finden, um handlungs- und entscheidungsfähig zu bleiben oder zu werden.
Können Sie ein Beispiel nennen?
K steht für Keep cool. Da geht es darum, das Stresssystem herunterzufahren, um das Gehirn in einen „arbeitsfähigen“ Zustand zu versetzen. Das gelingt durch kleine Übungen. Zur Erklärung der Wirkung der Gedanken auf den Körper benutze ich oft die Zitronenimagination: Stellen Sie sich eine gelbe, aufgeschnittene Zitrone vor. Was nehmen Sie wahr, wenn Sie in diese reinbeißen?
Säure. Der Mund wird wässrig. Alles zieht sich zusammen.
Genau, der Körper reagiert, obwohl Sie sich die Zitrone nur bildhaft vorstellen. Je nachdem, womit unser Hirn beschäftigt ist, werden körperliche und emotionale Prozesse ausgelöst. Es ist wichtig darauf zu achten, womit wir unser Gehirn beschäftigen, besonders wenn im Kontext von Corona viele belastende Bilder auf uns einwirken, geht es darum, ein Gegengewicht über andere Erfahrungen zu schaffen. Es geht nicht um „positiv denken“, sondern hier geht es darum, unser gesamtes Erfahrungswissen nutzen zu können und nicht emotional und gedanklich von Angst überflutet zu sein.
Gibt es denn auch Strategien, wie man sich wappnen kann für das, was vielleicht noch kommen wird?
Es gibt kleine Übungen, zum Beispiel jeden Tag mit einem Innehalten zu beginnen oder abzuschließen und mal darüber nachzudenken: Worüber habe ich mich heute gefreut? Jon Kabat-Zinn, der die Achtsamkeitsbasierte Stressreduktion entwickelt hat, sagt: „You can’t stop the waves, but you can learn to surf“. Im übertragenen Sinne, auf die Pandemie bezogen: Es hilft nicht darauf zu hoffen, dass die nächste Welle nicht kommt, sondern es geht darum, aus jeder Welle zu lernen, besser damit umzugehen. Ein guter Weg: Der Gegenwart mehr Aufmerksamkeit schenken, im Sinne von „Immer ist jetzt die beste Stunde“, beispielsweise mal alle Sinne bewusst einbeziehen und spüren: Welche Bilder, Gerüche, Geräusche, Körperempfindungen tun mir gerade gut? Solche kleinen Übungen helfen, die Resilienz zu stärken und sich für neue Herausforderungen zu wappnen.
Ressourcen: Welche Kraftquellen kenne ich?
Entspannung: Welche Möglichkeiten der Entspannung kenne ich und nutze ich?
Soziale Kontakte: Wer oder was fällt mir dazu ein?
Imagination: Welche stärkenden inneren Bilder fallen mir ein?
Liebe/Selbstliebe: Mit wem oder mit was fühle ich mich liebevoll verbunden? Was mag ich an mir?
Innehalten: Welche Momente oder Rituale schenken mir im Alltag kleine Auszeiten?
Enthusiasmus: Was begeistert mich? Wofür engagiere ich mich mit Freude?
Natur: Welche schönen Naturerfahrungen fallen mir ein?
Zeit: Wofür nehme ich mir Zeit? Welche stärkenden Lebenszeiten fallen mir ein?
Was gibt es noch für Strategien?
Das von mir entwickelte TRUST-Konzept (Anm. d. Red.: Techniken ressourcenfokussierter und symbolhafter Traumabearbeitung) steht für die bewusste Fokussierung auf Ressourcen zur Bewältigung von existenziellen Herausforderungen. Es geht darum, mit Stress und Angst anders umzugehen, das können auch kleinste Übungen sein. Beispielsweise das „ABC des Wohlbefindens“: Wenn man das Gehirn „zwingt“ bestimmte Suchprozesse auszuführen, kann es nicht gleichzeitig ein hohes Angst- oder Stressniveau aufrechterhalten. Man sucht zu jedem Buchstaben angenehme Begriffe, etwa zu M: Musik, malen, Meer. Vielen Menschen fällt erst mal gar nichts ein und sie müssen lange nachdenken, und das ist gerade der Trick dabei. Es hilft aus dem Angst-Stress-Teufelskreis herauszukommen. Man kann solche Suchprozesse auch auf Orte, Songs oder andere Inhalte beziehen.
Und wie schafft man es, achtsamer zu werden?
Es gibt da viele Möglichkeiten. Ein Trick: Die Augen schließen oder die Hände vor die Augen halten. Bis drei zählen – und die Augen wieder öffnen. Man merkt, dass man viel wacher für den Augenblick ist. Das kann man mehrmals am Tag machen. Auch mit den Ohren. Achtsamkeit kann auch bedeuten, sich minutenlang den Schnee draußen anzusehen oder ohne Bewertung das Geschirr abzuwaschen.
Mit der Angst und Ungewissheit, von der Sie anfangs sprachen, sind ja vor allem Ärzte und Pflegekräfte betroffen. Was würden Sie ihnen raten?
Sie sind den schlimmen Bildern und Erfahrungen besonders ausgesetzt, daher ist ein aktiver Perspektivenwechsel wichtig. Zur Burnoutprophylaxe ist es am besten, zuallererst achtsam und wertschätzend mit sich selbst umzugehen. So gelingt es besser, mit der negativen Realität in Kontakt zu sein, also mitfühlend, aber nicht mitleidend zu sein. Eine besondere Bedeutung in diesen Zeiten haben neben der Selbstfürsorge die sozialen Kontakte, auch der Zusammenhalt im Kollegenkreis. Im Kontakt zu sterbenden oder auch schwerkranken Menschen kann es helfen, sich vorzustellen, dass dieser Mensch auch kostbare Augenblicke hinterlässt, worüber andere auch dankbar sind.
Ein Perspektivenwechsel. Und damit wären wir wieder bei der Ambiguitätstoleranz.
Jeder Mensch hat eine eigene Lebensgeschichte, eigene Rahmenbedingungen und damit einen individuellen Erfahrungshorizont. Dies prägt auch den Umgang mit einem multidimensionalen Stressor wie der Pandemie. Und wir wissen ja, dass die Corona-Krise das Auftreten von psychischen Problemen verstärkt hat. Die Pandemie kann aber auch dazu beitragen, für das eigene Leben und kostbare Augenblicke dankbarer zu werden, neue Sichtweisen zu erlangen und auch eine Post-Covid-Resilienz zu entwickeln. Die Erfahrungen mit der Corona-Pandemie können auch helfen zukünftige Probleme besser zu bewältigen, in der Traumatherapie nennt man das „posttraumatisches Wachstum“. Es gibt auch viele Phänomene, auf die wir noch gar keine richtigen Antworten haben, wie Long Covid oder altersspezifische Auswirkungen. Wir alle sollten uns klarmachen, dass Corona uns und die Welt verändert hat und wir noch im Prozess des Lernens sind. In meiner psychotherapeutischen Arbeit mit Krebserkrankten nutze ich manchmal folgendes Bild: Wenn ich das Gefühl habe, auf eine Insel zuzuschwimmen, dann weckt es Hoffnung. Selbst wenn ich untergehen sollte, ist es tröstlicher, mit der Hoffnung, irgendwo anzukommen, unterzugehen, als sich mutterseelenallein und ausgeliefert im Meer zu fühlen. Dies ist auch ein Plädoyer für die stärkende Kraft der inneren Bilder. Denn Angst engt die Wahrnehmung ein, und wir brauchen alle einen freien Blick auf das, was jeder neue Tag an Herausforderungen und auch an Glücksmomenten und hilfreichen Zufällen zu bieten hat.