Mobbing, Planlosigkeit und Faxgeräte: Das Gesundheitswesen ist nicht für den Ernstfall gewappnet

Experten haben festgestellt, dass Deutschland auf die Krisen der Zukunft schlecht vorbereitet ist. Ach wirklich, wer hätte das geahnt? 

Letztendlich sind es die Ärzte, das Pflegepersonal und die Patienten, die unter den schlechten Bedingung unseres Gesundheitswesens leiden. 
Letztendlich sind es die Ärzte, das Pflegepersonal und die Patienten, die unter den schlechten Bedingung unseres Gesundheitswesens leiden. Florian Bachmeier/imago

Abwarten und Tee trinken, das hat sich unsere Regierung anscheinend als Motto auf die Fahne geschrieben – anders kann ich mir ihr träges Verhalten nicht erklären, wenn es um die Bewältigung wichtiger Probleme geht. Erst kürzlich hatte ich ein Déjà-vu-Erlebnis: Experten haben plötzlich festgestellt, dass unser Gesundheitswesen für zukünftige Krisen wie Pandemien und die Folgen des Klimawandels schlecht gewappnet sei. Ach wirklich, wer hätte das geahnt? Ich weiß nicht, wie oft ich in den letzten drei Jahren ähnliche Aussagen gehört oder gelesen habe.

Offensichtlich hat sich seitdem nicht viel geändert, denn die Schwachstellen, die vorher schon problematisch waren und die uns Corona noch einmal eindrücklich um die Ohren gehauen hat, wurden bis heute nicht mit ausreichender Entschlossenheit angegangen. Man erinnere sich an die Kontaktverfolgung durch die Gesundheitsämter, welche damals personell und technisch schnell an ihre Grenzen kamen und mitunter heute noch auf museale Faxgeräte zurückgreifen. Diese Zettelwirtschaft setzt sich in vielen Kliniken und Pflegeeinrichtungen fort, in denen immer noch Bleistift und Kugelschreiber gezückt werden, um auf Patientenakten aus Papier zu dokumentieren. Von Digitalisierung keine Spur.

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Berliner Zeitung/Markus Wächter
Zur Person
Ricardo Lange, 41, wuchs in Berlin-Hellersdorf auf. Um sich gegen Übergriffe behaupten zu können, betrieb er Kampfsport und Bodybuilding. Er arbeitete als Fitnesstrainer und bei der Polizei, bevor er sich zum Intensivpfleger ausbilden ließ und in diesem Beruf seine Berufung fand.

Für eine Zeitarbeitsfirma
springt Lange in Berliner Krankenhäusern ein, in denen die Personalnot am größten ist. Im Januar hat er ein Buch über den Pflegenotstand veröffentlicht: „Intensiv: Wenn der Ausnahmezustand Alltag ist – Ein Notruf“ (dtv). Er ist Kolumnist der Berliner Zeitung.

Unbegreiflich, dass wir das nicht in den Griff bekommen

Jetzt mal im Ernst: Wir leben im 21. Jahrhundert, und so gut wie jeder von uns hat ein Hochleistungssmartphone in der Tasche. Wir schreiben damit E-Mails von unterwegs, drehen 4K-Videos und lassen uns quer durch die Stadt navigieren. Eigentlich unbegreiflich, dass wir das nicht in den Griff bekommen.

Wer für zukünftige Krisen gewappnet sein will, muss zuallererst im normalen Alltag gut aufgestellt sein – und das sind wir nicht: Medikamentenmangel, fehlende Intensivbetten, verschobene Operationen und andere Versorgungsengpässe machen das mehr als deutlich. Wie immer wird der Panikknopf erst dann gedrückt, wenn die Kacke bereits am Dampfen ist.

Der größte Schwachpunkt in unserem Gesundheitssystem ist und bleibt der Fachkräftemangel. Die Personalflucht im Gesundheitswesen ist aber nicht nur auf das alleinige Versagen der Politik zurückzuführen, sondern häufig auch hausgemacht.

Vielen in Leitungspositionen mangelt es an Sozialkompetenz

„Was ihr Pflegekräfte leistet, kann man jedem dressierten Affen beibringen!“ Diese beispielhafte Aussage meiner damaligen Pflegedienstleistung ist nicht nur abwertend, sondern macht auch deutlich, dass unsere Branche ein Führungsproblem hat. Viele Leitungskräfte sind zwar sehr gut ausgebildet, häufig mangelt es ihnen aber an der nötigen Sozialkompetenz.

Statt auf die Hilferufe der Mitarbeiter einzugehen und in Extremsituationen hinter ihnen zu stehen, wird die Überlastung des Personals und die einhergehende Gefährdung der Patienten oftmals nicht ernst genug genommen oder sogar heruntergespielt. Überlastungs- und Gefährdungsanzeigen landen daher nicht selten im Papierkorb.

Mitarbeiter, die sich für ihre Rechte einsetzen und auch den Weg zum Betriebsrat nicht scheuen, bekommen das gerne mal mit einer unfairen Gestaltung ihres Dienstplans quittiert. Schade, denn gerade dieser ist, wenn er individuell und flexibel zugeschnitten wird, ein wirkungsvolles Instrument, um Mitarbeiter langfristig zu halten. Einige Stationen nutzen diesen Vorteil bereits und ermöglichen ihren Mitarbeitern, ihre Dienste selbst zu planen – so können beispielsweise auch spätere Schichtbeginne für alleinerziehende Elternteile realisiert werden.

Was Fehlverhalten anbelangt, müssen sich die Kollegen vor Ort ebenfalls an die eigene Nase fassen

Ziellose, planlose und widersprüchliche Anweisungen von der Leitungsebene – auch das ist oft die Realität und lässt die Mitarbeiter im Regen stehen.

Menschen in Führungspositionen müssen lernen, ihre Mitarbeiter wertzuschätzen, fair mit ihnen umzugehen und individuellen Lebensumständen mehr Gehör zu schenken, wenn wir die Personallücke langfristig schließen wollen.

Aber die Medaille hat auch hier zwei Seiten: Was Fehlverhalten anbelangt, müssen sich die Kollegen vor Ort ebenfalls an die eigene Nase fassen. Die Mobbing-Rate ist in der Pflege überdurchschnittlich hoch, wie eine Studie belegt.

Lästereien hinter dem Rücken, Besserwisserei und Fokussierung auf Fehler sind leider oft an der Tagesordnung. Viele Kollegen verlassen daher das Team oder steigen komplett aus dem Beruf aus. Das betrifft nicht nur die „alten Hasen“ der Station, sondern auch Pflegeschüler, die schon in der Ausbildung als Vollzeitkräfte überbeansprucht werden. Nicht umsonst gilt die Abbrecherquote in der Pflegeausbildung branchenübergreifend als eine der höchsten.

Es gibt sie, und wir brauchen mehr davon: Stationen, wo der Zusammenhalt und das Miteinander im gesamten Team unschlagbar sind. Es könnte so einfach sein, würden alle an einem Strang ziehen!

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