Schwerkranke sollen in Heime gezwungen werden

Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) will die Intensivpflege reformieren. Doch Pflegepersonal und Angehörige protestieren und wollen in letzter Minute die Gesetzesreform verhindern.

Berlin-Der kleine Junge aus Berlin ist fünf Jahre  alt und kann nicht dauerhaft alleine atmen. Er kam mit einer seltenen Hirnstörung auf die Welt, die sein Atemzentrum lähmt. Durch die Hilfe seiner Eltern und eines Intensivpflegedienstes hat er trotzdem überlebt. Wie alt er wird, weiß niemand, berichtet Pflegedienstleiterin Gabriela Richhardt-Pistor. Angst hat die Familie nun vor einem neuen Gesetzentwurf: Es könnte sein, dass das Kind demnächst in ein Heim muss und seiner Familie quasi entrissen wird. Aus Kostengründen.

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Denn Bundesgesundheitsminister Jens Spahn plant die Reform des Intensivpflegegesetzes (IPReG). Begründet wird das mit Berichten über kriminelle Pflegedienste.

Der Hintergrund: Intensivpflegedienste können pro Patient und Monat bis zu 25.000 Euro mit der Kasse abrechnen. Das liegt daran, dass eine 24-Stunden-Versorgung für einen schwerstkranken Patienten besonders viel und besonders gut geschultes Personal vorhalten muss. Doch wie in der regulären ambulanten Pflege häuften sich zuletzt kriminelle Machenschaften in Form von Abrechnungsbetrug. Da Intensivpatienten extrem vulnerabel sind und die Tricks der Pflegedienste hier außerdem finanziell stark zu Buche schlagen, erscheint ein Eingreifen der Politik eigentlich sinnvoll.

Jens Spahn aber verschärfte nicht etwa die Kontrollen, sondern gab das Problem an die Patienten weiter:  Wenn diese nicht angemessen zuhause versorgt werden könnten, müsse ihre Unterbringung stattdessen in Heimen erfolgen, wo besser kontrolliert werden könne. Das war 2019. Seitdem fragen sich die Pflegekräfte und mit ihren rund 19.000 Patienten, die zum allergrößten Teil beatmet werden müssen: Wie soll das funktionieren?

Ich glaube, einige meiner Patienten würden lieber sterben als in ein Heim zu müssen.

Gabriela Richhardt-Pistor

Denn es sind ja gerade die Heime, die händeringend nach Personal suchen. Wo Patienten aufgrund des Pflegenotstandes „stundenlang in ihren Ausscheidungen liegengelassen“ und die Menschenwürde „täglich tausendfach verletzt“ werde, wie etwa der junge Pfleger Alexander Jorde der Bundeskanzlerin höchstselbst 2017 in der ARD-Wahlarena vorhielt. Seitdem hat sich daran nichts geändert. Viele Heime sind überfordert, manche müssen Stationen schließen, verhängen Aufnahmestopps. In diese Einrichtungen sollen nun zusätzlich Patienten einziehen, die noch viel mehr Versorgung benötigen? Wer soll das leisten, und wie?

Sebastian Stegmaier betreibt einen Intensivpflegedienst in Dresden und sagt: „Jens Spahn hat den Einrichtungen 13.000 Pfleger versprochen. Irgendwo muss er die ja herbekommen.“ Der Pflegedienstleiter und Jurist vermutet, die Politik wolle die Gelegenheit nutzen, um die gut ausgebildeten Pfleger aus der häuslichen Pflege zusammen mit ihren Patienten in die Heime zu bewegen – damit sie dort mehr Patienten versorgen könnten. Eben um Kosten zu sparen.

Tatsächlich war der Gesundheitsminister mit seinem Versprechen von 2018 wenig erfolgreich. Weder Reisen in den Kosovo noch die Zusage für die Kostenübernahme haben etwas genutzt: Es gibt massiv zu wenig Pfleger in Deutschland. Das Problem verschärft sich aufgrund der alternden Bevölkerung – sogenannte Hochaltrigkeit wird zum Massenphänomen. Die Bezahlung, der Ruf und vor allem die Umstände im Job, die ebenfalls durch Personalmangel immer schlechter werden, tun ihr übriges. Und dann scheiterten die wenigen Willigen auch noch an der Bürokratie.

Das Problem der Einrichtungen ist lange bekannt; neu ist das Tempo, mit dem Spahn die Gesetzesreform vorantreibt. Gegen den ersten Entwurf im August 2019 formierte sich ungewöhnlich scharfer Protest. Patienten und Pfleger gingen auf die Straße, machten im Netz mobil, versammelten sich vor dem Ministerium und fragten wütend: Was ist mit unserer Selbstbestimmung? Nach ihrer Meinung untergräbt die Reform das Grundgesetz. Nur weil jemand krank ist, kann er nicht automatisch das Recht verlieren, seinen Lebensort zu bestimmen.

Protest vor dem Gesundheitsausschuss

Spahn musste nachbessern. Ein neuer Entwurf sah vor, dass diejenigen Intensivpatienten zuhause bleiben dürfen, die jetzt schon dort gepflegt werden. Damit hätte Gabriela Richhardt-Pistor mit ihrem Berliner Pflegedienst leben können, der auch den fünfjährigen Jungen mit Atemproblemen betreut. Doch im Februar wurde der sogenannte Bestandsschutz aus dem Entwurf wieder entfernt. Nun heißt es: Die Krankenkassen sollen entscheiden, ob die Pflege zuhause angemessen funktioniere. Wenn nicht, müsse die Pflege im Heim sichergestellt werden. Für Sebastian Stegmaier ist das absurd: „Die Kassen sind aber die Kostenträger und haben damit ein Eigeninteresse an einer für sie günstigeren Versorgung.“

Was das bedeuten würde, kann Richhardt-Pistor nur erahnen: „Ich glaube, einige meiner Patienten würden lieber sterben als in ein Heim zu müssen.“ Die Frage bleibt also, was die Reform bewirken soll – außer verschärften Problemen und Angst. Die Hoffnung, dass die Pflegenden künftig in Einrichtungen arbeiten, wird kaum aufgehen: „Die meisten von ihnen sind doch aus den Krankenhäusern geflohen, weil durch die Privatisierungen dort der Druck immer stärker wächst“, sagt die Pflegedienstleiterin. 

Auch die Berliner Krankenschwester Yvonne Falckner, die in der häuslichen Intensivpflege arbeitet, schließt diesen Schritt aus: „Viele werden lieber im Supermarkt arbeiten als im Heim oder Krankenhaus.“ Sie selbst betreut eine ALS-Patientin zuhause und sagt: „In der außerklinischen Intensivpflege kann man derzeit noch gut arbeiten. Aber in einer Einrichtung, wo eine ganze Helferschar abwechselnd für den Pflegeprozess da ist, würde ich nicht die Verantwortung für die Pflege übernehmen.“ Mit dieser Reform würden jahrzehntelang erkämpfte Patientenrechte ad acta gelegt.

Und was ist eigentlich mit Corona? Die anteilig meisten Covid-Toten gab es in Heimen. Dürfen die schwächsten unter den Kranken nun auch noch diesem Risiko ausgesetzt werden? Geht es nach Sebastian Stegmaier, könnte gerade das Virus der Reformwut Einhalt gebieten. Denn die Opposition könnte, wie er hofft, einen sogenannten Entschließungsantrag stellen. Damit könnte der IPReG-Beschließungsprozess ausgesetzt werden, bis ein Impfstoff gefunden wurde.

Am heutigen Mittwoch sind wieder Proteste in Berlin geplant, denn der Gesundheitsausschuss tagt zum Intensivpflegegesetz. Eine der letzten Gelegenheiten, die Reform abzumildern, bevor sie vielleicht schon im Juli durch die zweite und dritte und damit letzte Lesung im Bundestag geht. Bis auf die CDU, die mit aller Macht daran festhalte, seien aber alle Parteien dagegen, betont Stegmaier. „Sogar die AfD“.