Tödliche Klinik-Keime: Was wir von den Niederlanden lernen können

Prof. Alexander Friedrich, Universität Groningen: „Wir müssen erforschen, für welche Patienten welches System besser ist, und dann zusammenarbeiten.“

Operateure desinfizieren ihre Hände. Deutschland und die Niederlande gehen bei der Klinikhygiene verschiedene Wege. 
Operateure desinfizieren ihre Hände. Deutschland und die Niederlande gehen bei der Klinikhygiene verschiedene Wege. dpa/Angelika Warmuth

Berlin-Klinik-Keime töten. In Deutschland pro Jahr rund 20.000 Menschen. Die Niederlande gelten als vorbildlich im Kampf gegen Erreger. Was machen sie besser? Macht Deutschland etwas falsch? Wie hilft ein grenzüberschreitendes Projekt. Ein Gespräch mit Prof. Dr. Alexander Friedrich, Leiter der klinischen Mikrobiologie und Infektionsprävention an der Universität Groningen.

Herr Friedrich, wie sind die Niederlande bisher mit der Pandemie zurechtgekommen?

Schlechter als Deutschland. Bei Ihnen gibt es ein hochauflösendes Gesundheitssystem mit deutlich mehr Intensivbetten und Gesundheitsämter. Bei uns gibt es die in Bezug auf die Bevölkerung viel weniger. Öffentliche Infektionsbekämpfung hat es hier schwerer. Das sieht man auch daran, dass wir das letzte Land in der EU waren, das mit Impfungen begonnen hat. Auf der anderen Seite ist in den Versorgungseinrichtungen, wie Krankenhäusern und Pflegeheimen, die Infektionsprävention in den Niederlanden jedoch effizienter. Die Niederlande haben so viele Einwohner wie Nordrhein-Westfalen. In NRW gibt es rund 341 Akut-Krankenhäuser, bei uns 87. Davon haben rund 70 auch Abteilungen für klinische Mikrobiologie und Krankenhaushygiene mit eigenen Laboratorien.

Anzeige | Zum Weiterlesen scrollen

Und mit geschultem Personal?

Insgesamt rund 250 klinische Mikrobiologen. Ich vermute, für die rund 1700 deutschen Krankenhäuser gibt es keine 4700 klinischen Mikrobiologen und Krankenhaushygieniker. Außerdem gibt es bei uns keinen Unterschied in der Facharztbezeichnung zwischen klinischen Mikrobiologen, Virologen und Krankenhaushygienikern. Sie gehören zum selben Facharzt und arbeiten zusammen in einem Team. Und es gibt natürlich Hygienefachkräfte und Infektiologen. Und alle sind regional organisiert. Auch die Weiterbildung erfolgt regional abgestimmt.

Wer macht Hygiene denn nun besser, die Niederlande oder Deutschland?

Das ist die große Frage. Man könnte sich zum Beispiel anschauen, wie häufig Infektionen mit Erregern vorkommen, die Antibiotika-Resistenzen haben. Und zwar solche, die auch klinisch hochrelevant sind: MRSA, VRE, 4MRGN. In den Niederlanden haben solche Erreger kaum Chancen, sich zu verbreiten. Vor der Pandemie hatte ich hier in der Versorgungsregion in einem Jahr einen oder zwei Patienten mit einem 4MRGN. Bei 1,7 Millionen Einwohnern. MRSA haben wir zwar, aber zum Beispiel an unserem Uniklinikum finden wir nur rund 30 Fälle im Jahr, selten mal mit einer echten Infektion. Bei einem Uniklinikum unserer Größe in Deutschland würde ich von etwa 300 bis 500 ausgehen.

Also läuft es schlechter in Deutschland?

Das kann man so nicht sagen. In Deutschland wird sehr viel mehr Wert auf die versorgende Medizin gelegt, nicht so sehr auf die präventive. Ein klinischer Mikrobiologe, ein Hygieniker, ein Labor kosten ja Geld. Nur 10 Prozent der Krankenhäuser in Deutschland haben diese Fachärzte mit einem eigenen Labor. Deutschland hat die Labor-Diagnostik vor rund 20 Jahren ausgelagert. Damit hat man einen Markt geschaffen, mit dem Ziel, den Preis der Diagnostik zu senken. Jeder Abstrich, den ich nun aber zu einem Labor schicke, kostet mich dann Geld. Also verzichte ich schnell auf präventive Untersuchungen.

Wie ist es in den Niederlanden?

Mikrobiologen und ihr Labor sind fast überall Teil des Krankenhauses und damit eigentlich schon bezahlt. Für die klinischen Kollegen wären es also nachteilig, wenn sie nicht besonders viel Diagnostik anfragen würden. Dadurch fallen Infektionsprobleme und antibiotikaresistente Erreger frühzeitig auf. Da in Deutschland solche Experten eher selten sind, werden die nur gefragt, wenn es sein muss. In Deutschland hat man es mit sehr viel mehr Playern im System zu tun – in Krankenhäusern, aber auch bei den niedergelassenen Fachärzten zum Beispiel.

Infobox image
Universität Groningen
Zur Person
Professor Alexander W. Friedrich, 50, geboren in Nürnberg, ist Spezialist für klinische Mikrobiologie, Virologie und Epidemiologie. Seit 2011 hat er an der Universität Groningen den Lehrstuhl für klinische Mikrobiologie und Infektionsprävention inne. Friedrich gehört zum Vorstand des Cross-Border Institute of Healthcare Systems and Prevention in Groningen und Oldenburg. 

Gibt es die in den Niederlanden nicht?

Bei uns gibt es ambulant eigentlich nur Hausärzte. Wenn ein Patient einen Facharzt sehen möchte, muss er vom Hausarzt in eine Klinik überwiesen werden. Da die Hausärzte das aber nur wenn dringend erforderlich tun, geht der Patient logischerweise nicht in die Klinik. Er steckt sich damit auch nicht mit einem Krankenhauskeim an und bekommt weniger Antibiotika.

Aber er sieht auch keinen Facharzt.

Was für die Infektionsprävention gut ist, muss für die Versorgungsrealität nicht gut sein. Bei uns kann es sein, dass Menschen, die spezielle Antibiotika bräuchten, diese zu spät bekommen. Beide Systeme haben ihre Stärken und Schwächen. Deshalb sollte man nicht die Frage stellen: Wer macht es besser? Sondern: Was können wir voneinander lernen?

Warum lernen sie dann nicht voneinander?

Das machen wir ja. Wir versorgen elf Krankenhäuser entlang der Grenze mit, kleinere Häuser zwischen 200 und 500 Betten. Drei klinische Mikrobiologen gehen jeden Tag im Wechsel dahin. Im Klinikum in Leer – direkt hinter der Grenze in Ostfriesland – haben wir sogar ein spezielles Labor eingerichtet, um wichtige Laborbefunde schneller generieren zu können.

Bringt das etwas?

Ja. Als wir das Labor eröffnet haben, haben einige gesagt: „Das lohnt sich doch gar nicht.“ Es lohnt sich tatsächlich nicht, ein riesiges Labor zu betreiben, aber wir brauchen nur ein Teillabor für die Diagnostik, die unser klinischer Mikrobiologe vor Ort sofort benötigt. Zum Beispiel: Ein Patient liegt im Klinikum mit hohem Fieber. Wir untersuchen sein Blut, um zu erfahren, welcher Erreger die Ursache ist und welches Antibiotikum wir am besten verabreichen. Wir haben sofort ein Ergebnis aus dem eigenen Haus. Wir nennen das: diagnostic stewardship. Das kostet nicht viel und ist vor allem schnell. Und schneller ist in diesen Fällen besser für den Patienten.

Könnte das jedes deutsche Krankenhaus haben?

Ja. Man braucht halt einen Arzt und Mikrobiologen dazu.

Muss man dafür finanzielle Anreize schaffen?

Das geht. Ein Antibiotikum kostet jetzt, meinetwegen, 100 Euro. Stellen Sie sich vor, man würde sagen: Es kostet künftig 150 Euro. Darin enthalten ist dann ab jetzt auch die Diagnostik, die angibt, ob das Antibiotikum auch das richtige ist. Die bisherige Sparsamkeit als Grund für einen Verzicht für sinnvolle Diagnostik entfällt. Viele sagen dann, dass der Befund doch zu spät kommt, aber das stimmt nicht. Erstens ist der Nachweis auch wichtig für die Behandlung anderer Patienten, weil ich die lokale Situation zu Antibiotikaresistenzen damit erkenne, und zweitens kann ich meine Antibiotikatherapie nach Erhalt meines Befundes jederzeit anpassen. Nach Leitlinien behandeln ist gut, aber niemals besser als unter Diagnostik zu behandeln.

Was rechnet sich besser, Prävention oder Behandlung?

In Deutschland ist der makroökonomische Kostenrahmen für stationäre Behandlungen auch festgelegt. Nur können sich die Player im System die Fische gegenseitig wegfangen. Bei uns sprechen wir mit den Krankenkassen von vornherein ab, wie viel elektive Patienten jeder im nächsten Jahr behandeln wird. Dann wird das gesamte Jahr durchgeplant, soweit die Patienten schon bekannt sind.

Und wenn Sie mehr machen?

Verdienen wir erst mal nicht mehr. Das hat für Patienten möglicherweise keinen Vorteil. Denn es reißt sich in so einem System niemand darum, immer mehr Patienten zu behandeln. Hier wird sehr genau unter Fachärzten abgestimmt, ob eine Behandlung nötig ist. 40 Prozent der Betten werden stets freigehalten für Notaufnahmen, isolierte Pflege bei bestimmten Infektionserregern. Das ist momentan wegen der Pandemie natürlich anders. Wir haben in Bezug auf die Patienten sehr viel Personal: Auf Intensivstationen behandelt eine Pflegekraft normalerweise einen Patienten, manchmal 1,5. Wir wissen genau, wie viele Operationen in den kommenden drei Monaten geplant sind. Ein deutscher Kollege würde, wenn er ihre Anzahl kennte, aufschreien und sagen: „In der Zeit können wir viermal so viele Operationen durchführen!“

Und was sagt ein niederländischer Kollege dazu?

„Das wissen wir, aber das ist nicht gut.“ Dann kommt aus Deutschland: „Aber wenn wir die Patienten nicht rechtzeitig operieren, dann sterben die vielleicht.“ Dann sagt der Niederländer: „Ja, aber wenn wir husch, husch machen, sterben die Patienten möglicherweise an Komplikationen.“

Und wer hat am Ende die Lösung?

Da gibt es keine Lösung. Für manche Patienten ist das deutsche, für andere das niederländische System besser. Wir müssen durch vergleichende Systemforschung herausfinden, für welche Patienten welches System besser ist, und dann zusammenarbeiten und auch Patienten im Rahmen der europäischen Möglichkeiten gemeinsam behandeln.

Aber welches System ist denn nun preiswerter?

Makroökonomisch gesehen ist das niederländische System ein wenig preisgünstiger. In Deutschland betrugen die Gesundheitsausgaben zuletzt rund 14 Prozent vom Bruttoinlandsprodukt, in den Niederlanden rund 11. Das war vor ein paar Jahren noch nicht so.

Und was kostet die Diagnostik?

Es ist immer schwierig zu sagen, was alles unter den Posten Labor fällt, aber bei uns betrugen die gesamten Laborkosten vor ein paar Jahren 1,1 Milliarden Euro, in Deutschland 7,8 Milliarden Euro. Deutschland ist aber nur 4,8-mal so groß. Obwohl jeder einzelne Laborbefund günstiger ist, ist in Deutschland das System insgesamt anscheinend teurer.

Woran liegt das?

Das kann daran liegen, dass in Deutschland sehr viel preiswerte, aber möglicherweise unnötige Diagnostik gemacht wird. Hier bei uns wird aufgrund des diagnostic stewardships weniger Diagnostik für mehr Geld gemacht. In den höheren Kosten der Diagnostik sind auch die vielen Experten vor Ort miteinberechnet.

Was kostet zum Beispiel ein MRSA-Test hier wie dort?

Den bekommt man in Deutschland durchschnittlich für zehn Euro. Bei uns kostet er durchschnittlich 25 Euro. In meinem Klinikum 45 Euro.

Warum?

Der Preis enthält bei uns die Kosten für die vielen Hygienefachkräfte sowie der verantwortlichen Fachärzte. Aus unserer Sicht lohnt sich das. Aber ich würde nicht auf die Kosten schauen bei zwei so superreichen Ländern.

Worauf dann?

Darauf, was wir voneinander lernen können. Wir haben deshalb ein grenzüberschreitendes Forschungsprojekt vor zwei Jahren gestartet: Das Cross-Border Institute of Healthcare Systems and Prevention in Groningen und Oldenburg. Dafür haben wir von Niedersachsen auch fünf Millionen Euro bekommen.

Was wird untersucht?

Wir haben zum Beispiel den Einsatz von Antibiotika bei Kindern untersucht. Ergebnis: Auf deutscher Seite bekommen 40 bis 50 Prozent aller Kinder einmal im Jahr Antibiotika. Bei uns 30 bis 35 Prozent. Je näher man an die Grenze kommt, desto mehr Kinder bekommen Antibiotika.

Warum?

Auf unserer Seite wird auch bei Kindern mikrobiologische Diagnostik durchgeführt, auf deutscher Seite eigentlich eher selten. Aber man kommt langsam auf ganz andere Fragen. Zum Beispiel: Auf welcher Seite werden mehr Tonsillen herausoperiert. Oder: Wie viele Kinder werden per Kaiserschnitt geboren, bei dem dann der Mutter und dadurch möglicherweise auch dem Kind Antibiotika verabreicht werden? Die Quote bei Kaiserschnitten in den Niederlanden ist die niedrigste in der EU, nämlich 13 Prozent. In Deutschland: 30 Prozent.

Woran liegt das?

An genetischen Unterschieden wohl kaum. Es muss an der Indikationsstellung und an der Sicherheitskultur liegen. Bei uns ist die Risikoakzeptanz größer: Muss ich auch die letzten 3 Prozent Risiko vermeiden? Nein! Kann aber auch so sein, dass auf deutscher Seite die Frauen einen Kaiserschnitt bevorzugen.

Klingt spannend. Was haben Sie noch herausgefunden?

Wir haben in einer ersten Voruntersuchung festgestellt, dass Arbeitnehmer mehr Antibiotika auf deutscher Seite bekommen als auf niederländischer Seite. Wir untersuchen das aktuell. Aber es hat anscheinend damit zu tun, dass ein deutscher Arbeitnehmer, wenn er krank zu Hause bleiben muss, innerhalb von 48 Stunden eine Krankschreibung einzureichen hat. Bei uns reicht eine E-Mail an den Vorgesetzten. Damit wird kein Arztkontakt erzwungen. Bei einem erzwungenen Arztkontakt muss ich fragen: Was macht denn dann der Arzt? Möglicherweise verschreibt er etwas. Das werden wir im Rahmen des Cross-Border Instituts in den kommenden Jahren genauer untersuchen.

Sagt das auch die Statistik?

In Deutschland werden im Verhältnis zur Bevölkerung doppelt so viele Medikamente verschrieben. Es gibt ja auch doppelt so viele Arztkontakte. Manchmal ist aber so ein Arztkontakt dann eben sehr wichtig. Das hatten wir ja schon.