Am Mittwoch wurde das neue Infektionsschutzgesetz vorgestellt, das ab Oktober gelten soll. Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) rechnet mit einer neuen harten Welle in Herbst und Winter. Deshalb soll bundesweit FFP2-Maskenpflicht in Fernzügen und Fliegern gelten, zudem Masken- und Testpflicht in Kliniken und Altenheimen, außerdem eine Maskenpflicht in öffentlichen Innenräumen, die durch eine Testpflicht ausgehebelt werden kann. Weitere Maßnahmen können die Bundesländer einzeln regeln. Der Virologe Jonas Schmidt-Chanasit hält davon wenig und erklärt im Interview, warum.
Berliner Zeitung: Was wird das Coronavirus im Herbst machen?
Jonas Schmidt-Chanasit: Wir haben durch die Omikron-Variante des Sars-CoV-2 in den letzten Monaten einen sehr hohen Infektionsdruck erlebt, der die sogenannte Sommerwelle hervorgerufen hat. Dies hat mit hoher Wahrscheinlichkeit dazu geführt, dass die Anzahl derer, die weder geimpft noch genesen sind, verschwindend gering geworden ist. Diese millionenfach durchgemachten Omikron-Infektionen bei Geimpften und Genesenen können einen kurzzeitigen Schutz vor Re-Infektion hervorrufen. Dies kann dazu führen, dass ein erneuter Anstieg der Infektionszahlen nicht im Herbst, sondern vielleicht erst im Winter stattfindet.
Wird das Virus dann wieder so gefährlich wie vor zwei Jahren?
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Das ist sehr unwahrscheinlich. Wir haben jahrzehntelange Erfahrungen mit Epidemien und Pandemien, die durch zoonotische Viren hervorgerufen wurden. Das sind Viren, die von einem Wirbeltier auf den Menschen übertragen werden. Wir können mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass innerhalb der verschiedenen zirkulierenden Sars-CoV-2-Varianten in absehbarer Zeit keine Variante dominant werden wird, die die Immunantwort vollständig umgeht und mit einer höheren Infektionssterblichkeit einhergeht.
Also keine „Killervariante“ am Horizont?
Bezeichnungen wie „Killervirus“ oder „Killervariante“ sind nicht wissenschaftlich. Grundsätzlich betrachtet, sind Viren auf Kontakte angewiesen – auf Kontakte innerhalb der Zellen, zum Beispiel zwischen verschiedenen Proteinen, aber auch zwischen Tier und Menschen oder zwischen Menschen. Um dominant zu werden, bräuchte die neue Variante einen Fitnessvorteil. Sie muss sich also gegen die aktuell zirkulierende Omikron- BA.5-Variante durchsetzen. Wir haben aufgrund der Impfungen und Infektionen eine hohe Grundimmunisierung in der Bevölkerung erreicht und daher ist es unwahrscheinlich, dass eine neue pandemische Variante entsteht, die diese breite Grundimmunität vollständig umgeht. Wahrscheinlicher ist hingegen, dass Varianten entstehen, die diese Immunität teilweise umgehen können.
Also kommen nur noch mildere Varianten?
Omikron ist im Vergleich zur Delta-Variante eine Variante, die mit milderen Krankheitsverläufen einhergeht – mit einer vergleichbaren Infektionssterblichkeit wie die saisonale Influenza.
Das heißt, wir können nun ganz normal mit dem Virus leben?
Ja, so wie das die Bevölkerung in allen anderen europäischen Ländern auch macht. Entscheidend ist das hohe Niveau der Grundimmunität in der Bevölkerung. Wir haben alles getan, um dies zu erreichen: Wir haben einen Großteil der Bevölkerung geimpft. Zusätzlich könnte jetzt jeder freiwillig Maske tragen und bestimmte Hygiene-Regeln einhalten, um das persönliche Risiko weiter zu reduzieren. Das gilt im Übrigen nicht nur mit Blick auf Sars-CoV-2 so, sondern auch für andere respiratorische Erreger, wie die Influenza.
Ist eine allgemeine Maskenpflicht sinnvoll, etwa in Innenräumen?
Für verpflichtende Maßnahmen auf Bevölkerungsebene besteht, wie in fast allen anderen europäischen Ländern, keine Notwendigkeit mehr. Wir müssen zielgerichteter vorgehen, also uns insbesondere viel besser um den Schutz der vulnerablen Gruppen kümmern. Das betrifft vor allem die Basishygiene in Pflegeheimen und Krankenhäusern. Auch hier ist wichtig, dass wir nicht nur auf Sars-CoV-2 schauen. Wir haben viele andere Probleme im Gesundheitswesen, wie etwa den Personalmangel. Auch multiresistente Erreger sind ein großes Problem. Wir müssen uns fragen, ob es sinnvoll ist, einen großen Teil unserer Ressourcen im Gesundheitswesen für Sars-CoV-2 einzusetzen. Die einseitige Fokussierung auf Sars-CoV-2 hat zu vielen Gesundheitsproblemen geführt.
Zu welchen?
Wir haben eine drastische Zunahme der Fettleibigkeit bei Kindern und Jugendlichen. Wir haben enorme Defizite in der Bildung. Das muss alles zusammen betrachtet werden, denn die Gesundheitsdefinition der Weltgesundheitsorganisation (WHO) schließt auch das geistige und soziale Wohlergehen ein und nicht nur die körperlichen Gebrechen.
Soll man sich jetzt noch jedes Quartal impfen lassen?
Nein, das entspricht nicht den Empfehlungen der Ständigen Impfkommission (Stiko). Ich orientiere mich als Arzt natürlich an diesen Empfehlungen, wobei es jedem Arzt überlassen ist, im Einzelfall auch anders zu entscheiden. Die Stiko empfiehlt eine vierte Impfung nur für über 60-Jährige und Menschen mit schweren Vorerkrankungen. Wichtig ist jetzt, dass sich diese Menschen ein viertes Mal impfen lassen, da sie die vulnerabelste Gruppe sind. Ein 50-Jähriger, der zweifach geimpft und einmal genesen ist, braucht sich nicht ein viertes Mal impfen zu lassen. Er hat eine sogenannte hybride Immunität. Durch die Infektion hat er auch Antikörper in den Schleimhäuten gebildet und ist dadurch sogar für einen gewissen Zeitraum vor Ansteckung geschützt.
Soll sich ein Ungeimpfter impfen lassen, der mehrfach infiziert war?
Ein dreifach Genesener braucht keine Impfung mehr. Jeder Antigen-Kontakt zählt, egal ob durch Impfung oder Infektion. Mehrfach Genesene sind immunologisch gesehen also den mehrfach Geimpften gleichgestellt.
Sollte man also einen Antikörper-Test machen?
Das ist sicher nicht für die gesamte Bevölkerung nötig, aber für besonders gefährdete Menschen kann das sinnvoll sein. Man kann diese Untersuchung mittlerweile auch bei vielen Hausärzten durchführen lassen. Wichtig ist, dass wir in der Zukunft zu einer individuellen Impfempfehlung kommen, die sich noch stärker am Erkrankungsrisiko der Menschen orientiert.
Sie sprachen vorhin die Ressourcen an: Müsste man nicht auch viel mehr für Long-Covid- und Post-Vac-Syndrom-Patienten machen?
Natürlich! Vor allen Dingen müssen die Betroffenen in spezialisierten Zentren kompetente Ansprechpartner haben und klinische Studien müssen in Deutschland intensiver gefördert werden, um Therapie-Optionen zu eröffnen.
Was halten Sie von Tests in Schulen, wie Brandenburg das jetzt macht?
Anlasslose Massentests sind nicht mehr sinnvoll. Es ergeben sich daraus auch keine therapeutischen Konsequenzen, noch wird dadurch das Infektionsgeschehen signifikant beeinflusst, wie aktuelle Studien eindeutig nachgewiesen haben. Die meisten Infektionen finden sowieso im familiären Umfeld statt und eben nicht in den Schulen.
Soll es Isolierungen geben, also die ominöse Quarantäne?
Es gibt einen alten Spruch, der gilt unverändert: Wer krank ist, soll zu Hause bleiben, bis er wieder gesund ist.
FFP2-Masken in Altersheimen und anderen öffentlichen Räumen?
Diese Regel gibt es in fast keinem anderen Land der Welt außer in Deutschland. Entscheidend ist nämlich die korrekte Verwendung von FFP2 Masken und diese hängt maßgeblich von der richtigen Anpassung der FFP2 Maske an das Gesicht des Trägers ab. Die Ausfallquoten von FFP2-Masken liegen zwischen 60 Prozent und 90 Prozent, insbesondere bei längerer Anwendung über eine Stunde und bei Bartträgern. Meine Einschätzung ist deshalb, dass eine FFP2-Maskenpflicht in öffentlichen Räumen für die Allgemeinbevölkerung nicht wissenschaftlich begründet werden kann.
Man trifft auch heute immer noch Leute im Wald mit FFP2-Masken …
Das zeigt die große Verunsicherung in der Bevölkerung. Wir müssen noch besser erklären, was sinnvoll ist und was nicht.
Neben der Maskenfrage ist eine weitere Maßnahme zum Teil kontrovers diskutiert worden, das Lüften von Innenräumen. Insbesondere in Schulen verlangen viele Lehrer und besorgte Eltern die Aufstellung von mobilen Luftreinigungsgeräten. Wo sehen Sie einen Handlungsbedarf?
Die Luft in Innenräumen kann nur verbessert werden, wenn für eine ausreichende Frischluftzufuhr gesorgt ist. Als Maß dient die Messung der CO2-Konzentration, die mit einem Messgerät erfasst werden kann. Mobile Luftreinigungsgeräte filtern nur die vorhandene Luft und können keinen Beitrag zur Frischluftzufuhr leisten, das heißt, sie ersetzen weder das Lüften noch haben sie einen Effekt auf die Virusübertragungen im Nahbereich. Mobile Luftreinigungsgeräte sind eine Fehlinvestition, die weder nachhaltig noch effektiv ist. Bislang fehlt jeglicher wissenschaftliche Nachweis, dass es durch diese Geräte zu einer Reduktion von Infektionen gekommen ist. Allgemein lässt sich auch noch einmal festhalten, dass in einer aktuellen Studie in Sächsischen Schulen im Mai 2022 festgestellt wurde, dass 92,9 Prozent aller Teilnehmer Antikörper gegen Sars-CoV-2 hatten – ohne signifikante Unterschiede zwischen Lehrern (95,1 Prozent) und Schülern (92 Prozent). Diese Daten beweisen, dass trotz der Fokussierung einer Vielzahl von Pandemiemaßnahmen auf Schüler – wie anlasslose Testungen, Lüften, Maskenpflicht im Unterricht, Einschränkung von Sport- und Freizeitangeboten – die überwiegend natürliche Immunisierung dieser Population nicht beeinflusst werden konnte. Die Maßnahmen wiederum haben eine Vielzahl von unerwünschten negativen Effekten auf diese Altersgruppe, deren langfristige Folgen aktuell nur eingeschränkt abgeschätzt werden können.
Was halten Sie von der Masken-Debatte um Scholz und Habeck?
Jenseits der juristischen Fragen, die sich daraus ergeben haben und aktuell intensiv diskutiert werden, ist es natürlich ein fatales Signal im Hinblick auf die Vorbildfunktion der Repräsentanten unseres Staates. Ich kann nachvollziehen, dass sich jetzt viele Bürgerinnen und Bürger fragen, warum sie noch Masken tragen müssen. Das dabei verloren gegangene Vertrauen konterkariert einen der wichtigsten Grundsätze der Weltgesundheitsorganisation, wonach eine tätige Mitarbeit der Bevölkerung für die Verbesserung der Gesundheit, gerade in Bezug auf übertragbare Krankheiten, von höchster Wichtigkeit ist.
Jonas Schmidt-Chanasit ist seit 2018 Inhaber des Lehrstuhls für Arbovirologie an der Universität Hamburg.
(Das Interview führte Michael Maier)