Hausbesetzer und eine Ziegengruppe haben in der Danckelmannstraße eine eigene Kultur entwickelt: Das Milljöh

Zuerst glaubt man an eine Sinnestäuschung. Wieso riecht es hier, mitten in der großen Stadt, nach Stall? Wer jetzt einfach weitergeht, kopfschüttelnd vielleicht, der wird es nie erfahren. Wer aber den Geruch als Fährte nimmt, und ihm nachgeht, durch die Einfahrt des Hauses Danckelmannstraße Nummer 16, der steht plötzlich in einer Art riesigem Hinterhof, in dem es Pappeln, Akazien und Weiden gibt und in die Erde eingelassene Badewannen, in denen Sträucher wachsen. Baumstümpfe bieten sich als Sitzgelegenheiten an, und in einer Ecke befindet sich ein Tiergehege, durch dessen Gitter ein zotteliges Tier mit langen Hörnen erwartungsvoll seine Schnauze streckt. Das ist der Ziegenhof mitten in Charlottenburg.Man könnte diese Anlage als Wahrzeichen der Danckelmannstraße sehen. Um zu verstehen, warum das so ist, muss man die Vergangenheit befragen. Es ist fast 30 Jahre her, da sollte der Kiez um die Danckelmannstraße entkernt und saniert werden. So hieß das damals, wenn in dicht bebauten Altbauquartieren viel Altes abgerissen und manches Neue gebaut werden sollte. Damals ist fast die Hälfte der Kiezbewohner umgesetzt worden, meistens in Neubauten irgendwo am Stadtrand. Die damalige Wohnungsbaugesellschaft hieß "Neue Heimat" und wie an vielen Orten in Berlin wohnten auch in der Danckelmannstraße Menschen, die sich gegen diese Entkernung und die dazu notwendige Entmietung zur Wehr setzten. Erst gründete sich die Mieterinitiative, es kamen die Hausbesetzer, später die Blockinitiative. Von ihrem Einsatz profitiert der Kiez bis heute.Dort, wo sich heute der riesige Hinterhof mit den Ziegen befindet, standen damals Quergebäude und Hinterhäuser, die nacheinander gesprengt oder abgerissen wurden. Ein Neubauriegel an dieser Stelle war schon geplant, doch Anwohner aus der Blockinitiative besetzten die Freifläche. Aus dieser Zeit stammen die Badewannen, ein Teil der Bäume und auch die Vorfahren der Ziegen. Der Neubauriegel ist bis heute nicht gebaut worden. Aber das Engagement für die Nachbarschaft, das Verantwortungsgefühl für den Kiez sind geblieben. Sie machen bis heute einen Teil des Lebensgefühls an der Danckelmannstraße aus.Von Klaus Ehlers Wohnung im Hinterhaus hat man einen schönen Blick in den Hof hinunter. Das Haus stünde nicht mehr, hätte es die Blockinitiative nicht gegeben. Ehlers wohnt seit 1984 hier, seine dünnen Haare hat er zu einem Knoten zusammengebunden, auf dem abgewetzten Dielenboden geht er mit selbst gestrickten Wollsocken umher. Die Bücherregale in seinem Arbeitszimmer reichen bis unter die Decke. Plötzlich kommt eine Nachbarin mit ihrer Tochter herein. "Ich wollte fragen, ob du mir nachher einen Deckenhaken reindrehen kannst", sagt sie. Die Hausgemeinschaft funktioniert, genauso wie die Ziegengruppe, der Klaus Ehlers angehört. Sonntagvormittags kann man dem Sprachwissenschaftler auf dem Ziegenhof beim Füttern zusehen oder beim Ausmisten der kleinen, selbstgebauten Holzställe. Seit fast 20 Jahren versorgen Anwohner die Ziegen, sechs Tiere sind es derzeit. Morgens vor der Arbeit, abends nach der Arbeit und am Wochenende, wenn andere ausschlafen, tun sie Dienst im Stall. Nur das Melken und Käsemachen haben sie irgendwann aufgegeben, weil es ihnen zu aufwändig war.Funktionierende NachbarschaftIn der Sprache der Soziologen ist so etwas wie die Ziegengruppe ein Beispiel für Beteiligungskultur. In den ehemaligen Berliner Sanierungsgebieten ist diese Art von Mittun und Identifikation mit dem Kiez keine Seltenheit. Gemeinsame Probleme schmieden Menschen zusammen. Außergewöhnlich sei es aber, dass Anwohner 20 Jahre lang an einer Initiative festhalten, sagt der Stadtsoziologe Hartmut Häußermann. Klaus Ehlers ist sich der Besonderheit dieser funktionierenden Nachbarschaft bewusst. "Es ist hier wie auf einem Dorf", sagt er. Alles was man braucht, ist in der Nähe, der Ökobäcker, der Biofleischer, die Apotheke, die sich auf Naturheilmittel spezialisiert hat. Draußen auf der Straße kommt Klaus Ehlers aus dem Grüßen nicht heraus. Die Danckelmannstraße ist noch in anderer Hinsicht außergewöhnlich. Oberflächlich besehen, scheint sie sich kaum von der Umgebung zu unterscheiden mit ihren Häusern aus der Jahrhundertwende, den hohen Platanen und dem gediegenen Weinladen nahe am Kaiserdamm, der ständig frische Austern im Angebot hat. Doch bei der letzten Abgeordnetenhauswahl 2001 hat die PDS hier 16 Prozent errungen. Auch der Ausländeranteil hier ist mit über 30 Prozent höher als in der feinen Umgebung. Vor 20 Jahren sind vor allem türkische Gastarbeiter in die Altbauten mit den billigen Mieten gezogen. Das Zusammenleben beschränkt sich im Wesentlichen auf ein Nebeneinanderher, das man auch in Kreuzberg oder Neukölln kennt. In der Ziegengruppe etwa war nie eine türkische Familie. Manche Anwohner erzählen aber auch von einer Türkengang, die Einbrüche verübe, deutsche Jugendliche bedrohe oder von den Dealern, die vor einem türkischen Sportvereinslokal ihre Geschäfte treiben würden.Eine großbürgerliche Wohngegend ist die Danckelmannstraße auch in der Vergangenheit nicht gewesen. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstanden hier Wohnungen vor allem für Handwerker, kleine Angestellte und Arbeiter. In der Sophie-Charlotte-Straße 88, die parallel zur Danckelmannstraße verläuft, hat Heinrich Zille bis zu seinem Tod gewohnt. Zilles Milljöh, das war nicht allein das ärmliche Scheunenviertel in Mitte, das waren auch die Hinterhöfe und Kneipen in seiner Wohngegend. Aus Zilles Zeit stammt auch das ehemalige Ledigenheim. Das Klinkergebäude stellte eine Alternative zu dem Schlafgängerwesen dar. Ledige Arbeiter oder Angestellte mieteten damals stundenweise einen Platz in einem Bett, weil sie nicht genug Geld für ein Zimmer hatten. Der Tatsache, dass sie außerhalb der Bettzeit immer noch Zeit herumbringen mussten, verdanken die zahlreichen Berliner Eckkneipen ihre Existenz. In der Danckelmannstraße gibt es aber keine Eckkneipen mehr. Es gibt auch keine Szenekneipen, die Touristen anlocken könnten. Das gastronomische Angebot besteht aus ein paar unspektakulären Kneipen und Restaurants wie dem "Dicken Wirt", dem Italiener "Feedora" oder dem arabischen "Palmyra". Wenn man am Nachmittag im Café Knobelsdorff-/Ecke Danckelmannstraße sitzt, sieht man Eltern mit kleinen Kindern vorbeigehen, die diese gerade aus einem der vielen Kinderläden abgeholt haben. Mitte der 90er-Jahre litt auch die Danckelmannstraße unter der Abwanderung junger Familien, die viele Innenstadtbezirke betraf. Aber seit etwa einem Jahr zieht die Gegend, eingeklemmt zwischen Lietzenseepark und Schlosspark, wieder Familien an. Das stellt jedenfalls Klaus Betz fest, der Vorsitzende des Kiezbündnisses, das sich 1999 gegründet hat. Das Bündnis gibt das Kiezblatt heraus, organisiert den alljährlichen Frühjahrsputz und Kulturveranstaltungen. Aus ihm ist auch der Mieterbeirat hervorgegangen. Dieser Beirat beteiligt sich bei der Wohnungsbaugesellschaft "Wir", der Nachfolgerin der "Neuen Heimat", an der Auswahl der Wohnungsinteressenten, was auch eine ziemlich einzigartige Einrichtung in Berlin sein dürfte. Klaus Betz kann an den Bewerbungen sehen, dass die Danckelmannstraße wieder an Anziehungskraft gewonnen hat. Musikabende gegen die RäumungKlaus Betz selbst würde ohnehin nie woanders wohnen wollen. Seine Verbindung zur Danckelmannstraße reicht in die Hausbesetzerzeit Anfang der 80er-Jahre zurück. Er, der damals gewerkschaftlich organisiert war, übernahm mit einigen anderen Gewerkschaftsmitgliedern die Patenschaft über ein besetztes Haus. Man veranstaltete Musikabende, und wenn die Räumung drohte, dann blieben Betz und die anderen über Nacht. Das Haus wurde dann eben tagsüber geräumt. Aber Betz hatte die Danckelmannstraße lieben gelernt und zog mit ein paar anderen Familien in ein leer stehendes Haus. Die Hausgemeinschaft besteht bis heute.So ähnlich ist es auch in der Danckelmannstraße 15, dem ersten Haus, in dem sich Mieter zu einer Genossenschaft zusammengeschlossen haben und es 1996 der "Wir" abkauften. Viele wohnen seit Jahrzehnten hier, so wie Bettina Weber, die 1976 gekommen ist, eine Schauspielerin mit ihrer Katze Mozart und zwei Pflegekindern. 60 Mark Miete hat sie damals für eineinhalb Zimmer bezahlt, die Toilette war eine halbe Treppe tiefer. Bettina Weber kann einem die Weide zeigen, die sie draußen vor dem Ziegengehege gepflanzt hat. Sie ist heute ein großer Baum mit tiefen Wurzeln. Es scheint unmöglich sie zu verpflanzen. Und das ist etwas, was sie mit vielen Bewohnern in der Danckelmannstraße verbindet.Die Texte dieser Serie gibt es bald auch in Buchform: Am 25. März kommt das Buch "Berliner Straßen neu entdeckt - 33 Streifzüge durch die Hauptstadt" in den Handel. Es erscheint im Jaron-Verlag und kostet zehn Euro.Vom Erzieher zum Minister // Die Danckelmannstraße ist fast einen Kilometer lang, sie verläuft zwischen Klausenerplatz und Kaiserdamm im Bezirk Charlottenburg-Wilmersdorf.Seit 1885 trägt die Danckelmannstraße ihren Namen. Sie wurde nach Eberhard Christoph Balthasar Reichsgraf von Danckelmann (1643-1722) benannt. Er war zunächst Erzieher des späteren Kurfürsten Friedrich III. und dann unter ihm leitender Minister.Denkmalgeschützt ist das ehemalige Ledigenheim an der Danckelmannstraße 46-47, das von 1906 bis 1908 von Rudolf Walter erbaut wurde. Heute ist es ein Studentenwohnheim.BERLINER ZEITUNG/MAX LAUTENSCHLÄGER Nebeneinander in der Danckelmannstraße: Die Gründerzeithäuser stehen noch, weil Hausbesetzer den Abriss in den 80er-Jahren verhinderten.