Heute vor 25 Jahren besuchte Helmut Schmidt Güstrow. Er sah eine Stadt im Griff der Stasi: Eine Winterreise
Um kurz nach 17 Uhr steigt Erich Honecker vor dem Bahnhof von Güstrow in den Fond seines Citroen CX 2300 Prestige. Der Minister für Staatssicherheit Erich Mielke hat dort schon ein paar Minuten zuvor Platz genommen. Gemeinsam fahren sie durch das verschneite Mecklenburg zurück nach Berlin. Gemeinsam haben die beiden alternden Genossen noch einmal eine Schlacht geschlagen, der sie historische Bedeutung beimessen. Es ist der 13. Dezember 1981, und gerade hat der Staats- und Parteichef der DDR Erich Honecker den Bundeskanzler der Bundesrepublik Helmut Schmidt nach einem dreitägigen Besuch verabschiedet.Die Szene ist bis heute vielen Deutschen in West und Ost noch präsent, wie Honecker seinem Gast einen Bonbon in das geöffnete Zugfenster reicht. Eine Geste, die ganz zum Schluss noch ein versöhnliches Licht auf den Besuch wirft, der in jeder Hinsicht unter eisigen Bedingungen stattfand. Denn genau so bekannt wie das Foto mit dem Bonbon sind jene Bilder, die Güstrows Zentrum an jenem Sonntag vor 25 Jahren zeigen. Alle drei Meter ist an den Straßen ein uniformierter Volkspolizist stationiert, dahinter verbergen sich Mitarbeiter der Staatssicherheit in hoher Zahl. In jedem Türeingang stehen Sicherheitsposten, die Menschen dürfen ihre Häuser am Marktplatz und in der Domstraße nicht verlassen und die Fenster nicht öffnen.Die SED und die Stasi wurden vor dem Besuch Schmidts in Güstrow von einem Trauma verfolgt: Das des Besuchs von Willy Brandt in Erfurt elf Jahre zuvor. Die Menschenmenge, die vor dem Hotel Erfurter Hof mit Willy, Willy-Rufen den Kanzler ans Fenster zwang und ihn offen feierte, war eine unvergessene Niederlage von Staat und Partei im Kampf um das Bild vom besseren Deutschland."Noch nie hatte das MfS eine politisch so brisante Aufgabe. Noch nie war ein so hoher Einsatz erforderlich, wie jetzt und hier in Güstrow", heißt es in Mielkes Befehl Nr. 17/81 unter dem Einsatznamen "Dialog". Weil es so wichtig ist, begibt sich der Minister persönlich nach Güstrow und nimmt mit seinem Stab Quartier im Schloss. Auf der abendlichen Fahrt von Güstrow nach Berlin kann er Honecker dann erfolgreichen Vollzug melden. Und der sendet noch am Abend eine Dankesbotschaft an die Genossen der Staatssicherheit: "Es ist Euch gelungen, Güstrow nicht zu einem zweiten Erfurt werden zu lassen."In Güstrow wird heute der Ereignisse vor 25 Jahren gedacht. In der Fachhochschule hat der Filmemacher Michael Krull eine Ausstellung eingerichtet, die mit zum Teil noch nie veröffentlichten Bildern von Fotografen des "Stern" und der Stasi sowie einschlägigen Dokumenten die Erinnerungen an jenen Wintertag wachruft. Krull, Autor des preisgekrönten Dokumentarfilms "Drei Stunden Güstrow" hat bewusst diesen Ort ausgesucht. "Hier werden Polizisten ausgebildet. Die sollen sehen, wohin übersteigertes Sicherheits- und Überwachungsdenken führen kann."Mielkes Befehl ist so eindeutig wie seine Sprache holprig ist: "Es ist keine Situation zuzulassen, die von westlicher Seite, auch an die bekannten Vorgänge in Erfurt anknüpfend, als offene Sympathiekundgebung für die BRD, deren Politik bzw. für den Gast oder als gegen die DDR gerichtet gewertet werden kann." Dafür sei zu gewährleisten, "dass alle feindlich-negativen Kräfte und potenzielle Sympathisanten erkannt und durch geeignete Maßnahmen aus den Handlungsräumen entfernt und unter Kontrolle gehalten werden."Der Aufwand, den die Staatssicherheit treibt, den Auftrag zu erfüllen, ist kaum vorstellbar. An jenem Sonntag sind in Güstrow, einer Stadt mit damals 38 000 Einwohnern, 5 103 Bedienstete der Sicherheitsorgane im Einsatz, wie aus der in der Ausstellung gezeigten Tabelle des "Kräfteeinsatzes" hervorgeht. Darunter sind allein 4 518 zivile Stasi-Leute und 252 Angehörige des Berliner Wachregiments Feliks Dzierzynski. Die Stasi stellt nach eigenen Angaben 11 000 verdächtige Personen in der ganzen Republik unter besondere Kontrolle, 4 500 von ihnen dürfen an diesem Wochenende ihre Wohnorte nicht verlassen. Es werden 6 000 "vorbeugende Gespräche" geführt und 4 500 Wohnungen durchsucht. Wie weit die Stasi geht, zeigt der von Krull gefundene Vermerk über die "Zuführung" der Schülerin einer 10. Klasse in Berlin-Köpenick am 13. Dezember. Ihr wird ein Gedicht zum Verhängnis, das sie am Vortag auf einen Tisch in ihrem Klassenzimmer gekritzelt hat:"Die Partei hat immer recht ha,ha,Stephan Heym - Collin, lieber stehend sterben als knieend leben,ihr seid zu feige, eurer Wut Platz zu machen, ich wollte lieben und lernte hassen.Helmut Schmidt, nimm uns mit."Die Untersuchung ergibt eine "negative Beeinflussungen durch ihre Eltern," die bereits wegen politischer Vergehen belangt worden waren.Am Ärgsten aber trifft es die Güstrower. Viele hatten sich auf den Besuch gefreut. Zum Teil aus politischen Gründen, zum Teil aus Lokalpatriotismus - ihre Stadt kam in die Weltpresse! - zum Teil aus nahliegenden Überlegungen: Solche Besuche waren in der DDR stets mit Verbesserungen der Infrastruktur verbunden, mit plötzlichen Renovierungsarbeiten und mit einem üppigeren Angebot in den Geschäften. Manches davon traf auch ein.Vor allem aber wird ein striktes Regime über die Stadt gelegt. "Ab 11.30 Uhr ruht der gesamte Stadtverkehr", heißt es in einer Anordnung der Volkspolizei. Von diesem Zeitpunkt an dürfen sich in den Straßen um Dom und Rathaus nur noch Menschen mit Sonderausweisen bewegen - "progressive Kräfte", wie es im Jargon der SED hieß. Es handelt sich um von der Partei ausgesuchte zuverlässige Genossen und Mitbürger, die vor allem auf dem Weihnachtsmarkt vor dem Rathaus den Besuchern aus dem Westen - darunter viele Journalisten - ein zufriedenes, von ihrem Staat überzeugtes Publikum bieten sollen. "Zum Verhalten der Zuschauer wird orientiert, dass das Klatschen erlaubt ist und ein Winken auch angebracht sein wird", heißt es in einem Befehl. Doch die Täuschung gelingt kaum. "Der Eindruck drängt sich auf, dass die Stadt fast vollständig von den Angehörigen des Staatssicherheitsdienstes besetzt ist", notiert der FAZ-Korrespondent.Ganz eigene Erinnerungen an diesen Tag hat Heiko Lietz. Der ehemalige Pfarrer und kritische Zeitgenosse, der sich mit seiner Kirche überworfen hat und mit seinem Staat zumal, pflegt offen Kontakte mit Westjournalisten. Deshalb hat die Stasi auf ihn auch ein besonderes Augenmerk, er wird seit längerem unter dem Decknamen "Zersetzer" ausspioniert. Erstmals kann Lietz nun in der Ausstellung nachlesen, was die Einsatzzentrale angeordnet hatte: "Die Person ist unter strenger Kontrolle zu halten. Sein Haus ist am 13. 12. zu blockieren, Journalisten ist Zutritt zu gewähren."Das ist ein Hinweis, auf welch schmalem Grat die Stasi wandelt. Der Schmidt-Besuch sollte unter keinen Umständen durch offensichtlich skandalöse Begleitumstände verdunkelt werden, wie es ein Eklat mit Westjournalisten zweifellos gewesen wäre. Deshalb wird für die drei Tage auch der Schießbefehl an der Grenze ausgesetzt, was ein Flüchtling in Thüringen erfolgreich nutzen kann.Heiko Lietz stellt schon am Vormittag, Stunden vor dem Eintreffen des Kanzlers, fest, dass er unter Hausarrest steht. Mehrere Herren in Zivil hindern ihn daran, sein Haus zu verlassen. Er macht sich im Laufe des Tages einen Spaß daraus, die Stasi für sich arbeiten zu lassen. "Ich konnte auch nicht zu den Mülleimern, wo ich die Asche aus meinen Öfen auskippen wollte, und ich konnte nicht zu meinem Kohlenschuppen, um Nachschub zu holen", erzählt er heute. "Also habe ich denen die Eimer in die Hand gedrückt und gesagt: Jetzt seid ihr dran. Und die haben das auch gemacht." Aber das Ganze ist auch eine schockierende Erfahrung: "Im eigenen Haus unter Arrest, das war wie ein Angriff auf mein Privatissimum." So, wie der Brandt-Besuch in Erfurt ein Trauma für den Staat war, so wird der Schmidt-Besuch zu einem Trauma für viele Güstrower. "Es lag wie Blei auf der Seele dieser Stadt", sagt Heiko Lietz.Er gehört zu jenen Mecklenburgern, die die heute herrschenden demokratischen Spielräume schätzen und nutzen, im Zusammenhang mit dem Besuch des US-Präsidenten Bush im vergangenen Sommer aber auch beklemmende Parallelen zu den damaligen Zuständen entdecken. Die vollständige Absperrung Stralsunds, die Zulassung nur ausgewählter Claqueure beim Auftritt des Präsidenten, der Ausschluss einer Mahnwache von zehn überprüften Kirchenleuten - "das war das selbe Strickmuster. Damals stand ich unter Arrest, dieses Mal wurde ich ausgesperrt."Im Februar 1990 ist Helmut Schmidt noch einmal nach Güstrow gekommen, diesmal als SPD-Wahlkämpfer für die erste freie Volkskammerwahl. 10 000 Menschen versammeln sich auf dem Marktplatz, manche halten Plakate: "Hemut in Güstrow - das zweite Mal hier, zum ersten Mal bei uns."Heute schaut Helmut Schmidt fast milde in jene Zeit zurück. "Honecker war keine besonders große Figur. Er war jemand, für den man in gewisser Weise Mitleid, gemischt mit Sympathie haben konnte", sagte er gerade im Tagesspiegel. "Die Begegnung mit ihm ist ohne historische Bedeutung." Das mag aus heutiger Sicht stimmen. Damals war sie Schmidt so wichtig, dass er seinen Besuch entgegen den Forderungen der Opposition nicht abbrach, obwohl an demselben Sonntag in Polen das Kriegsrecht verhängt wurde.------------------------------"Es ist gelungen, Güstrow nicht zu einem zweiten Erfurt werden zu lassen." Erich Honecker------------------------------"Zum Verhalten der Zuschauer wird orientiert, dass das Klatschen erlaubt ist." MfS-Befehl------------------------------Foto: "Herr Schmidt, ich habe noch einen Bonbon" - mit diesen Worten verabschiedet Erich Honecker den Bundeskanzler am 13. Dezember 1981.