Im Alter sind uns Kindheit und Jugend plötzlich wieder ganz nah. Warum machen Erinnerungen melancholisch, warum vergisst man Peinliches nie und warum sagen ältere Menschen immer, dass früher alles besser war? Ein Gespräch: Erinnern ist wie Heimweh haben

Groningen in den Niederlanden ist eine Stadt, die Gelassenheit ausstrahlt: Kanäle mit Booten, die trutzigen Gebäude einer vierhundert Jahre alten Universität, und unglaublich viele Radfahrer, die sehr aufrecht auf hohen Holland-Rädern sitzen. Die Behaglichkeit setzt sich in Douwe Draaismas Wohnküche fort: Er bietet erstmal selbstgemachte Pilzsuppe und Apfelkuchen an.Herr Draaisma, werde ich mich in ein paar Jahrzehnten noch an unser Gespräch erinnern?Vielleicht an ein Detail, das jetzt gar nicht relevant scheint. Daran, dass ich eine Suppe gekocht habe, zum Beispiel.Sie sagen, dass man sich im Alter vor allem an Dinge erinnert, die passierten, bevor man etwa Mitte zwanzig wurde. Dann bin ich wohl zu alt, um mehr von diesem Tag zu behalten.Es ist natürlich nicht so, dass das Meiste weg ist, das später passiert. Aber ab einem Alter von etwa 70 Jahren kommen vor allem Erinnerungen aus der Kindheit, Jugend und dem jungen Erwachsenenalter mit neuer Intensität wieder. Dieses Phänomen ist in mehrerer Hinsicht ein Rätsel: Es passiert zu einem Zeitpunkt, an dem andere Fähigkeiten des Gedächtnisses nachlassen. Es sind gerade die am weitesten zurückliegenden Erlebnisse, die wiederkommen. Und es sind Erinnerungen, zu denen man in jüngeren Jahren oft noch keinen Zugang hat. Sie unterliegen einer Art Nachrichtensperre - bis eines Tages die Umschläge geöffnet werden.Man würde eher vermuten, dass man sich später an die Zeit mit 40, 50 bevorzugt erinnert: Man ist noch lange nicht alt, aber hat schon einiges geschafft, es gibt vielleicht Kinder, eine Karriere.Ja, und so wurde das Leben in unserer Kultur in den letzten Jahrhunderten auch gesehen. Im 17. Jahrhundert war das Motiv der Lebenstreppe beliebt, das Leben wurde als Treppe dargestellt, auf ihrem höchsten Punkt, in vollem Licht, stand ein etwa 50-jähriger Mann. Tatsächlich wird diese Zeit im Rückblick mehr eine Episode. Darin scheint eine Lektion zu liegen.Welche?Die Lektion könnte für die 40- bis 50-Jährigen lauten, dass sie vielleicht glauben, bedeutende Ereignisse zu durchleben, dass dies aber sehr wahrscheinlich nicht die Zeit sein wird, an die sie sich am intensivsten erinnern werden. Das Gedächtnis speichert nicht einfach, was man selbst im Moment vielleicht für wichtig hält, es setzt seine eigenen Prioritäten.Aber warum erinnert man sich vor allem an die Kindheit und Jugend?Es gibt zwei Erklärungsansätze, der eine ist eher biologisch, er besagt im Wesentlichen, dass die kognitiven Fähigkeiten in den frühen Jahren ihren Höhepunkt erreichen, dass also das, was man in diesem Zeitraum erlebt, eine viel bessere Chance hat, gespeichert zu werden. Dagegen spricht meiner Ansicht nach aber zum Beispiel, dass das Nachlassen des Gedächtnisses ganz allmählich verläuft, es ist nicht so, dass ein 40-Jähriger nur einen Bruchteil dessen speichern könnte, was sich ein 20-Jähriger merkt. Der andere Erklärungsversuch beschäftigt sich mehr mit der Art der Erinnerungen: In den ersten 25 Jahren treten viele Dinge ein, die man als denkwürdig, als entscheidend wahrnimmt. Die gewissermaßen den Kurs des Lebens steuern.Aber was manche grundlegende Erfahrungen betrifft, verschiebt sich in unserer Gesellschaft gerade etwas: Man wechselt oft die Arbeitsstelle, entscheidet sich erst spät oder gar nicht für einen endgültigen Partner, bekommt vielleicht erst mit Mitte 30 ein Kind. Könnte sich also die Zeit, die man später erinnert, nach hinten verlängern?Das kann sein. Wenn man einer biologischen Erklärung glaubt, an ein Arrangement zwischen Gehirn und Evolution, würde man das verneinen. Aber es gab Interviews mit Menschen, die mit Mitte 30 aus spanischsprachigen Ländern in die USA ausgewandert sind, und Jahrzehnte später stellte sich heraus, dass sich bei ihnen dieser sogenannte Reminiszenzhöcker nach hinten verschoben hatte, hin zu der Zeit, als sie die ganzen neuen Erfahrungen machten: neue Sprache, neue Arbeit, neue Wohnung. Bei einer Generation heute, die in ihren 30ern wichtige Erfahrungen macht, könnte das ebenso sein.Die Menschen, die heute in Deutschland 70, 80 Jahre alt sind, haben als Kinder und junge Leute den Krieg erlebt. Da ist also eine ganze Generation, die sich zunehmend mit oft traumatischen Erlebnissen wie Bombenangriffen und Flucht konfrontiert sieht.In der Tat, und das könnte zu einem Bedürfnis führen, darüber zu sprechen. Es ist eine Chance, dass diese Geschichten noch erzählt werden, bevor es zu spät ist. Das war den Deutschen ja lange nicht erlaubt. Diese Menschen sind die Letzten, die über den Krieg, über die Zeit des Nationalsozialismus aus eigener Erfahrung sprechen können. Es wäre klug, diese Erfahrung zu nutzen.In Deutschland hat Günter Grass' Autobiografie Aufsehen erregt, weil er darin zum ersten Mal einräumte, sich mit 15 freiwillig zur Wehrmacht gemeldet zu haben. Könnte das auch der Tatsache geschuldet sein, dass die Erinnerung daran mit neuer Eindringlichkeit da war?Ich denke, es hat ganz klar mit dem Alter zu tun, dass er das jetzt öffentlich gemacht hat. Er spricht das in seinem Vorwort sogar aus: Er sei jetzt fast 80 und spüre einen Drang, seine Erinnerungen mitzuteilen. Und es ist auch aufschlussreich, dass er in dem Buch nur die ersten dreißig Lebensjahre beschreibt. Das Buch selbst ist ein Reminiszenzhöcker: Er braucht 80 Seiten, um sein Leben mit 17, 18 Jahren zu beschreiben, und je 90 Seiten für 19, 20, und das steigert sich weiter, bis er 23 ist. Diese Zeit fällt weitgehend mit dem Krieg zusammen, aber auch mit wichtigen Jahren in seiner Entwicklung. Am Ende braucht er nur noch zwei Seiten, um ein Jahr abzuhaken, und mit 32 Jahren endet das Buch mit der Bemerkung, es fehle ihm die Lust, den Rest zu erzählen. Alles in allem verrät "Häuten der Zwiebel" den älteren Autor.Man hat also wirklich das Gefühl, seine wichtigsten Erfahrungen schon so früh gemacht zu haben?Das kann so weit gehen, dass das Alter mehr noch als der Ernst der Umstände zum selektierenden Faktor zu werden scheint. Dänische Wissenschaftler befragten Achtzig- und Hundertjährige nach wichtigen öffentlichen Ereignissen in ihrem Leben. Etwa die Hälfte der Achtzigjährigen erzählte von einer Erinnerung, die mit der deutschen Besatzung zusammenhing, aber keiner der Hundertjährigen. Für die Achtzigjährigen fiel der Krieg genau in die Zeit des Reminiszenzhöckers. Die Hundertjährigen waren damals schon vierzig. In ähnlicher Weise scheint es eine besonders empfindsame Periode zu geben für Literatur, für Kunst. 51 Schriftsteller wurden gefragt, wie alt sie waren, als sie das für sie wichtigste Buch lasen, und drei Viertel von ihnen hatten dieses Buch vor ihrem 23. Lebensjahr gelesen.Finden ältere Menschen deswegen so oft, dass früher alles besser war?Das ist der Grund. Wobei man sagen muss, dass das schon früher einsetzt. Ich bin 55, und ich bin überzeugt, dass die beste Popmusik Ende der 60er-, Anfang der 70er-Jahre gemacht wurde. Beatles, Rolling Stones, Bob Dylan, Led Zeppelin. Jemand, der 20 Jahre jünger ist, wird sagen, hör auf, die beste Popmusik wurde in den 80ern, 90ern geschrieben. Ich würde ihm antworten: Was für gute Musik, wovon redest du? Und das ist schlicht, was die Theorie vom Reminiszenzhöcker voraussagt. Man wird die Musik idealisieren, die man mit 17, 18 gehört hat. Und man hat den Eindruck, dass bald danach die Qualität rapide abnahm.Kann man seinem Gedächtnis trauen?Man kann es vielleicht so sagen: Erinnerungen ändern sich. Sie sind nicht nur von dem bestimmt, was in der Vergangenheit war, sondern auch von dem, was danach passiert ist. Es wäre falsch zu glauben, dass das Gedächtnis ein Archiv ist, aus dem man einzelne Akten jederzeit einfach so herausziehen kann. Es gab ein sehr interessantes Experiment: 13-jährige Jungen wurden über ihre Familie, Freunde und Schule befragt, und die gleichen Fragen stellte man ihnen nochmal im Alter von 48 Jahren. Die Abweichungen zwischen den Antworten waren immens. Die Frage etwa, ob sein Vater streng sei, bejahte nur einer von fünf Jungen. Aber die Hälfte der Männer sagte, sie hätten einen strengen Vater gehabt. Ich denke, das hat damit zu tun, dass diese Jungen in den Siebziger- und Achtzigerjahren selbst Väter wurden, zu einer Zeit, als sich die Vorstellungen über Erziehung änderten. Im Vergleich zu ihnen als Väter musste ihnen der eigene Vater streng vorkommen. Der 13-Jährige hatte aber keinen strengen Vater erlebt. Wer hat recht? Vielleicht beide.Das ist doch positiv, wenn man Abstand zu seinen Erlebnissen bekommt, sie anders einordnen und bewerten kann.Das stimmt, und wenn zum Beispiel die Eltern noch leben und man ihnen erklären kann, warum man als Jugendlicher auf eine bestimmte Weise reagiert hat, kann das wichtig sein. Aber manchmal sind die Eltern und andere Menschen, um die es geht, schon tot, und dann ist es zu spät.Deswegen geht Erinnern oft mit Melancholie einher.Ja, denn die Erinnerungen beziehen sich zunehmend auf Dinge, die in der Wirklichkeit keine Entsprechung mehr haben. Es gab hier in der Gegend vor ein paar Jahren ein Treffen von Friesen, die in den 40er-, 50er-Jahren nach Australien und Neuseeland ausgewandert waren. Sie mussten feststellen, dass es nichts mehr gab, was sich mit ihren Erinnerungen verbinden ließ. Die Schulen, in die sie gegangen waren, waren weg, das Elternhaus war verschwunden, an seiner Stelle stand jetzt vielleicht ein Supermarkt. Das Heimweh, das sie immer gefühlt hatten, konnte nicht geheilt werden, weil die Orte, auf die es sich bezog, gar nicht mehr existierten. Und auf gewisse Weise passiert das auch, wenn man nicht emigriert ist. Dieses Heimweh - das ist der Effekt, den die Zeit hat.Manchmal ist es aber auch enttäuschend, an einen Ort zurückzukehren, den es noch gibt, einen Urlaubsort der Kindheit zum Beispiel. Mit dem Ort der Erinnerung scheint er nicht viel zu tun zu haben.Da war man klein, alles war neu, inzwischen ist man gereist, hat andere Plätze gesehen, die schöner und exotischer waren. Und plötzlich wird der Ort, der früher aufregend war, langweilig, klein und unbedeutend.Wenn man der Erinnerung auf die Sprünge helfen will, kann es dann helfen, an solche Orte zurückzukehren?Nicht unbedingt. Das Haus etwa, in dem ich geboren wurde, gibt es noch, aber auch, wenn sich darin gar nichts geändert hätte, würde es sich jetzt völlig anders anfühlen, dort herumzulaufen. Weil ich dreimal so groß bin zum Beispiel. Die Welt des Dreijährigen ist verschwunden.Ist es überhaupt möglich, dem Gedächtnis bestimmte Erinnerungen geplant zu entlocken?Kaum. Manchmal riecht man etwas und das löst eine Erinnerung aus, aber diese Assoziationen sind sehr persönlich. Für den einen hat der Geschmack eines Kekses eine Bedeutung, für den anderen der Geruch von brennendem Holz. Es ist sehr schwer, mit Absicht eine Erfahrung zu evozieren.Wenn bestimmte Erinnerungen plötzlich wieder auftauchen, nur weil zufällig der richtige Auslöser da war, heißt das nicht, dass alles noch irgendwo ist? Man nur rankommen muss?Das könnte man vermuten, aber das ist nicht sehr wahrscheinlich. Erinnerungen sind im Gehirngewebe gespeichert, und das hat, wie jedes organische Gewebe, die Eigenschaft, sich zu verändern, abzusterben.Was vergessen wir?Dinge, bei denen man nicht aufmerksam war, die einen nicht interessieren. Man kann am Abend mit seinem Bruder oder seiner Schwester telefonieren und am nächsten Morgen erinnert jeder von dem Gespräch etwas ganz anderes. Das liegt nicht daran, dass einer der beiden ein schlechtes Gedächtnis hätte, sondern daran, dass es sich um unterschiedliche Personen handelt, mit unterschiedlichen Interessen, Stimmungen, Problemen.Erinnern wir uns an schöne Dinge genauso wie an unangenehme?Am zuverlässigsten erinnern wir uns an peinliche Situationen. Wenn man unangenehm berührt war oder selbst ins Fettnäpfchen getreten ist, das sind Dinge, die bleiben.Manchmal nimmt man sich vor, einen bestimmten Moment im Gedächtnis zu behalten, und es gelingt nicht. Warum?Das Gedächtnis ist ein ungehorsamer Diener. Es ist sehr schwer, es zu manipulieren. Das finde ich persönlich auch so spannend: Unser Gedächtnis ist einerseits etwas sehr Intimes, gleichzeitig ist es wie ein Fremder, der macht, was er will. Es wäre falsch zu sagen, wir sind unser Gedächtnis, denn dann könnten wir nicht davon überrascht werden. Aber genau das passiert oft: Warum, um Himmels willen, denke ich nun genau an diesen Moment? Oder: Wie konnte ich das vergessen, das war doch so wichtig?Und wenn man doch Einfluss nehmen möchte auf sein Gedächtnis, was kann man tun? Fotos machen?Fotos sind zwiespältig, Sie haben die Eigenschaft, sich vor die Erinnerung zu schieben. Wenn man ältere Kinder hat und man denkt an die Zeit, als sie klein waren, bin ich mir ganz sicher, dass es Fotos sind, an die man sich erinnert. Sonst wären da nur vage Impressionen. Die Gefahr bei Fotos ist also, dass sie die Erinnerung ersetzen. Andererseits können sie aber auch die Art Detail konservieren, die man gar nicht bemerkt, wenn man das Bild macht. Aha, wir hatten damals also diese Vorhänge und diese Tischdecke. Manchmal sind die Sachen, die aus Versehen drauf sind, am aufschlussreichsten.Wenn man sich auch in späteren Lebensjahrzehnten bleibende Erinnerungen schaffen will, was kann man dann tun?Routine vermeiden. Wenn man immer am gleichen Ort Ferien macht, verschwimmen alle diese Erinnerungen und werden zu einer generellen Idee von Ferien. Aber wenn man verschiedene Orte, verschiedene Länder besucht, neue Menschen kennenlernt, hat man einmalige Erinnerungen, die leichter zu archivieren und zu reproduzieren sind.Warum erinnern wir uns überhaupt?Um die Zukunft zu bewältigen. Manchmal wollen Menschen wissen, gibt es eine Technik, Erinnerungen aus dem Gedächtnis zu löschen? Wenn man sie fragt, welche Erinnerungen denn, sagen sie, die unangenehmen, schmerzhaften Sachen, die wäre ich gerne los. Aber wenn man das täte, wäre die Wahrscheinlichkeit groß, dass man seine Fehler wiederholt. Genau darum geht es in dem Film "Vergiss mein nicht" mit Kate Winslet und Jim Carrey. Sie haben diese stürmische Affäre, dann trennen sie sich und die Frau will diese Erinnerung aus ihrem Gedächtnis löschen. Sie geht zu dieser Firma, die darauf spezialisiert ist, und die erledigen das. Er macht anschließend das Gleiche, dann begegnen sie sich erneut und verlieben sich wieder. Ihr Gedächtnis kann sie nicht warnen, dass diese Beziehung keine gute Idee ist.Nützlich sind dann vor allem schlechte Erinnerungen?Das Gedächtnis soll einem schon auch dabei helfen, angenehme Erlebnisse zu haben. Evolutionär gesprochen, soll es zum Beispiel zeigen, wo man Essen findet.Und hat es eine Funktion, dass gegen Ende des Lebens ausgerechnet die frühen Erinnerungen zurückkommen?An einen Nutzen im evolutionären Sinn glaube ich nicht. Das passiert, weil wir älter und älter werden, und vielleicht werden wir sogar älter, als wir jemals werden sollten. Jemand, der 70 Jahre alt ist, hat alle möglichen Fähigkeiten, die keine Funktion haben.Der Sinn könnte sein, seine Erfahrungen an die Kinder und Enkel weiterzugeben.Das ist nicht sehr wahrscheinlich, weil wir erst seit kurzer Zeit überhaupt so alt werden.Alte Menschen, die in nutzlosen Erinnerungen schwelgen - keine sehr schöne Vorstellung.Das sehe ich anders. Für mich waren die Reminiszenzen eine Überraschung. Das ist doch genau das Gegenteil dessen, was man von einem so alten Gedächtnis erwartet. Man denkt, da passiert nichts mehr, außer dass es schlechter wird. Und man darf nicht vergessen, dass es auch Freude macht, diese Erinnerungen zu haben, die Geschichten zu erzählen. In Altersheimen in Holland wird das Erinnern inzwischen gefördert. Es gibt einen Raum mit alten Fotos, Zeitschriften, Gegenständen, Marken aus früherer Zeit. Die alten Leute bringen ihre Verwandten gern in diesen Raum und erklären, wie etwas funktioniert hat und wofür es da war. Oft ist das Wissen dieser Menschen überholt. Was nützt es, alles über ein bestimmtes Radio zu wissen, das es seit den Sechzigerjahren nicht mehr gibt. Aber in so einem Raum sind sie die Einzigen, die erklären können, was man da sieht. Das bringt Autorität, Selbstbewusstsein zurück.Es ist schwer zu sagen, ob Ihre Thesen zum Alter ernüchternd oder tröstlich sind. Sie haben in Holland mit der Feststellung Aufsehen erregt, dass das Gedächtnis nun mal schlechter werde, man sich also die Versuche sparen könne, es zu trainieren.Ich habe damit natürlich einige Leute gegen mich aufgebracht, zum Beispiel die Produzenten von Computerspielen, mit denen man angeblich sein Gedächtnis trainieren kann. Aber die Menschen selbst schienen erleichtert zu sein. Immerzu hören sie, dass sie selbst schuld sind, wenn ihr Gedächtnis schlechter wird. Und plötzlich sagt jemand, dass das Gedächtnis in seinem eigenen Tempo seine Kraft verliert, und dass man da nicht viel tun kann. Es ist natürlich sehr wichtig, sein Gedächtnis zu nutzen, aber es ist ein Fehler zu glauben, dass man es trainieren kann wie einen Muskel. Es ist kein Muskel.Sein Gedächtnis zu nutzen, was heißt das dann?Normale soziale Aktivitäten reichen völlig aus. Viele Menschen werden unsicher, wenn sie merken, dass ihr Gedächtnis an Kraft verliert, sie schränken ihr soziales Leben ein, wenn sie eine wichtige Funktion hatten, sagen sie, ich sollte das lieber nicht mehr machen. Und das ist eine selbsterfüllende Prophezeiung, denn ein Gedächtnis, das man nicht herausfordert, baut tatsächlich ab.Ab wann ist man eigentlich nicht mehr auf der Höhe seiner Möglichkeiten?Es ist wie auf einem Transatlantik-Flug. Man steigt, bleibt lange auf derselben Höhe, bis zum Alter von 50 etwa, dann beginnt sehr langsam der Sinkflug. Es wird schwerer, Informationen zu verarbeiten, und, es schnell zu tun. Aber andere Bereiche sind nicht betroffen, man hat zum Beispiel weiterhin Zugang zu seinem Vokabular. Manches braucht nur länger. Wenn es keine Zeitvorgabe gibt, erinnern sich die Menschen genauso zuverlässig wie vorher. Nur mit Zeitdruck kann das ältere Gedächtnis nicht so gut umgehen.Alles wird schlechter, nur die Erinnerungen werden präziser - könnte das nicht deswegen so sein, weil man im Alter zurückblickt, Bilanz zieht?Das kann durchaus sein, und es ist schwer zu sagen, was Ursache und was Wirkung ist. Beginnt man aufgrund der wiederkehrenden Erinnerungen zu resümieren? Oder umgekehrt? Man sucht eine Balance. Bei Charles Dickens gibt es eine Szene, da wird ein älterer Mensch gefragt: Wenn Sie an die Zeit denken, als Sie zu Füßen Ihrer Mutter gespielt haben, ist das sehr weit weg für Sie? Er antwortet: Hätten Sie mich das vor 20 Jahren gefragt, ich hätte ja gesagt, aber jetzt bin ich siebzig und ich bin meinen Kindheitserinnerungen plötzlich viel näher. Ich habe das Gefühl, das Leben verläuft im Kreis. Das ist ein schönes Bild.Es steckt auch Traurigkeit darin.Aber auch etwas Dante-haftes: Dante vergleicht das Leben mit einer Bootsfahrt, nach und nach werden die Segel eingezogen. Man macht eine Reise, hat ein Ziel, ist sich dessen bewusst. Darin liegt doch etwas Tröstliches.------------------------------Douwe DraaismaAn der Universität Groningen ist Douwe Draaisma, Jahrgang 1953, Professor für Psychologiegeschichte. Sein Spezialgebiet ist die Gedächtnisforschung.Studiert hat Draaisma Psychologie und Philosophie. In seiner Doktorarbeit untersuchte er, wie Metaphern benutzt werden, um Gedächtnis und Erinnerung zu beschreiben.Er forschte unter anderem über die Geschichte der Zeitmessung, die Geschichte der Neurologie und das autobiografische Gedächtnis.Sein Buch "Die Heimwehfabrik. Wie das Gedächtnis im Alter funktioniert" ist soeben im Verlag Galiani Berlin erschienen.