Im Film "Baltic Storm" rankt sich um den Untergang der Estonia eine wilde Agentenstory: Aufgepeitschte Ostseewellen

Am 27. September 1994 verließ die Fähre Estonia gegen 19.15 Uhr den Hafen von Tallinn in Richtung Stockholm. Die Ostsee war aufgewühlt, das Wetter rau. Die meisten Passagiere lagen in ihren Kabinen, als kurz nach Mitternacht einer der Offiziere den Eintritt von Wasser im Bereich des Bugvisiers feststellte. Die Pumpen wurden angeworfen, weil man glaubte, es sei Gischt- und Regenwasser. Doch das Pumpen nützte nichts, weil die stürmische See die äußere Bugklappe abgerissen hatte. Als Hauptursache stellte der offizielle Untersuchungsbericht später Konstruktionsmängel am Bugvisier und Versagen seitens der Crew fest. Innerhalb einer halben Stunde legte sich die Estonia auf die Seite und sank. 852 von 989 Passagieren kamen ums Leben. Viele von ihnen vermutet man im Innern des Schiffs.Doch die Bergung der Leichen wird bis heute verhindert. Die von Schweden, Finnland und Estland gebildete Untersuchungskommission ignorierte wichtige Hinweise und vertuschte mehr, als sie aufdeckte. So behaupten es jedenfalls die deutsche Journalistin Jutta Rabe und ihr finnischer Partner Kaj Holmberg, die seit 1996 gemeinsam der Vermutung nachgehen, dass der Untergang der Estonia auf einen Anschlag zurückzuführen sei. Überlebende hatten von einer Explosion an Bord gesprochen. Materialprüfungen der von Rabe und Mitstreitern auf eigene Faust geborgenen Teile ergaben jedoch so widersprüchliche Ergebnisse, dass die Hamburger Staatsanwaltschaft ihre Estonia-Ermittlungen wieder einstellte. Aber Jutta Rabe glaubt unbeirrt weiter an die Verschwörung. Sie stützt sich auf Gerüchte, dass die Estonia von russischen Geheimagenten vorsätzlich versenkt worden sei. Rabe glaubt sogar, dass ein überlebender Augenzeuge des Anschlags, ein Lagerarbeiter der Estonia, später ermordet wurde.Auf solchen Verdachtsmomenten basiert die Geschichte des Films "Baltic Storm", der von Jutta Rabe und Kaj Holmberg produziert wurde. Der Film verfolgt eine eindeutige Absicht: die Welt aufzurütteln und weitere Untersuchungen zu erzwingen. Bekannte Schauspieler wie Greta Scacchi, Jürgen Prochnow und Donald Sutherland konnten gewonnen werden. Regie führte Reuben Leder. Sein Film beginnt mit Dokumentarszenen vom Fall der Berliner Mauer, vom Abzug der russischen Soldaten aus Estland und mit dem Hinweis, dass der letzte Schuss des Kalten Krieges noch nicht gefallen sei. Dem folgt eine Szene, in der ein Ex-Stasi-Agent (Dieter Laser) der Journalistin Julia Reuter (Greta Scacchi) eine Story verkaufen will. "Es ist eine Geschichte über Ratten. Sie verlassen das sinkende Schiff", sagt der starr blickende Mann in coolem Agententon. Ein russischer Atom-Professor wolle sich mit seinem Wissen in den Westen absetzen - und zwar auf der Estonia. Die Journalistin fliegt auch gleich los, verpasst aber die Fähre, von deren Untergang sie bald erfährt, um sich sofort auf die investigative Suche nach der Wahrheit zu begeben. Dabei lernt sie den Überlebenden Erik Westermark (Jürgen Prochnow) kennen. Gemeinsam beginnen sie ihr Enthüllungswerk, das Gruseliges zu Tage bringt.Denn der russische Wissenschaftler Sergej Raspoff (Michael Schreiner) fuhr nicht nur mit einem Köfferchen auf der Estonia, sondern mit einem ganzen Lkw voller "neuester Prototypen modernster Waffensysteme", darunter Biowaffen. Der Waffendeal war zwischen einem Staatssekretär im estnischen Verteidigungsministerium (Herb Andress) und einem hohen Pentagon-Beamten (Donald Sutherland) eingefädelt worden, gedeckt von einer schwedischen Komplizin. Ehemalige KGB-Leute wollten den Transport und damit den Verrat verhindern. Sie kaperten das Schiff, ermordeten den Wissenschaftler und den Kapitän, brachten eine Sprengladung an und verschwanden mit einem Boot.Im Laufe ihrer Wahrheitssuche geraten die Journalistin und ihr Mitstreiter zwischen die Fronten von Geheimdiensten und Militärs. Sie kommen der Entführung eines Zeugen auf die Spur, starten eine Expedition zum Wrack, werden von der schwedischen Küstenwache aufgebracht, überstehen Anschläge und stehen am Ende den Hauptverantwortlichen für den Waffendeal Aug in Aug gegenüber. Leider ist der Film genau so, wie man sich einen Politthriller der schlechten Sorte vorstellt. Man weiß zwar mittlerweile, dass es in Militär- und Geheimdienstkreisen oftmals so zugeht, wie sich der so genannte kleine Moritz das ausmalt. Doch das, was im Film abläuft, ist völlig unglaubwürdig. Warum? Jede einzelne Aktion - der Deal, das Kapern des Schiffes, der Anschlag - liegt doch durchaus im Rahmen des Vorstellbaren. Es wäre eine Herausforderung gewesen, daraus eine fiktionalisierte Geschichte zu machen - mit filmischen Mitteln, die einen an den Kinosessel fesseln.Stattdessen aber entschied man sich für ein aufgepepptes Dokudrama. Filmszenen wechseln mit Nachrichtenschnipseln von der Bergung der Leichen, den Statements der Untersuchungskommission. Die Spielszenen, die in einem Dokudrama ja besonders nahe am Leben sein sollten, fallen durch ihre Hölzernheit auf. Die Emotionen sind aufgesetzt, die Figuren platt. Das Drehbuch (Reuben Leder) schreibt Klischeedialoge vor. Greta Scacchi muss als Journalistin heroische Sätze sagen wie: "Ich habe gelernt, dass die Aufgabe eines Journalisten darin besteht, der Welt den Spiegel vorzuhalten." Jürgen Prochnow muss als Erik Westermark seinen Sohn beschreiben: "Er hat ganz blonde Haare und ein so weises Lächeln." Der Pentagon-Beamte kriegt mitten in der Nacht einen Anruf, und seine Frau fragt munter: "Wer war s denn diesmal, Louie, die Iraker oder die Nordkoreaner?"Warum hat man sich nicht darum bemüht, sich in Kulturen und Denkweisen der beteiligten Seiten hineinzuversetzen? Dieser Ex-Stasi-Agent Gehrig (Dieter Laser) etwa, der da wie ein gefrosteter Dämon durch Berlin läuft und seine Story verkaufen will, sollte laut Wunsch des Regisseurs mal etwas anderes sein, als die "grauen Mäuse der wirklichen Stasi". Er sollte ein Denkmal setzen für die "Fanatiker im Ruhestand". Mit der wirklichen Stasi-Vergangenheit hat er jedoch nichts zu tun. Gefährliche Graumäusigkeit wäre viel überzeugender gewesen als das vordergründig-fratzenhaft Dämonische der Figur.Der Film wirkt wie eine Agentenklamotte auf Kosten der Estonia-Opfer. Er verspielt durch seine Unglaubwürdigkeit genau das, was er erreichen wollte: möglichst viele von der Attentats-Version zu überzeugen, damit öffentlicher Druck entsteht und neue Untersuchungen aufgenommen werden. In Ländern wie Schweden, wo allein die Existenz des Films für Aufregung sorgt, warten nicht nur die Hinterbliebenen auf Antworten.Baltic Storm Deutschland 2003. Regie & Drehbuch: Reuben Leder, Produzenten: Jutta Rabe, Kaj Holmberg, Kamera: Robert Nordström, Darsteller: Greta Scacchi, Jürgen Prochnow, Suzanne von Borsody, Donald Sutherland u.a.; 113 Minuten, Farbe. Kinostart: 16. Oktober.Der Film verspielt durch seine Unglaubwürdigkeit die Chance, möglichst viele von der Möglichkeit dieses verhängnisvollen Kalte-Kriegs-Nachspiels zu überzeugen.BUENA VISTA Wirklichkeit, unwirklich gespielt: Greta Scacchi als Journalistin, Jürgen Prochnow als Überlebender.