Im Strom der Zeit: Der "Oderkahn" ist eine der wenigen Kiezkneipen, die es im Prenzlauer Berg noch gibt. Nun soll sie schließen: Der letzte Futschi
Es gibt Orte, an denen ist die Vergangenheit besonders weit weg. Dass der Oderkahn einmal die einzige Kneipe in der Oderberger Straße gewesen ist, kann man sich nicht mehr vorstellen. Seit der Wende ist die Straße zu einem der zahlreichen trendigen Trampelpfade in Prenzlauer Berg geworden. Hier fühlt man sich weltgewandt und urban, isst indisch, thailändisch oder italienisch und nippt an Cocktails oder Latte Macchiato. Die Häuser, die ihre graue Fassade noch nicht mit einem pastellfarbenen Anstrich vertauscht haben, werden immer weniger. Und die Läden verkaufen keine Lebensmittel mehr, sondern wattierte Westen mit aufgedruckten Hirschen oder Pappe für Ringe zum Selbermachen. Nur den Oderkahn gibt es immer noch, doch wirkt er fremd, übrig geblieben. Und wenn es nach dem neuen Besitzer der Oderberger Straße 11 geht, Fawad Ghousi, der das indische Restaurant Naan schräg gegenüber betreibt, wird der Oderkahn ganz verschwinden.Man könnte denken, dass der Oderkahn - Tradition hin oder her - einfach nicht mehr passt in das zweite Leben der Oderberger Straße. Dass das Alte vom Neuen abgelöst wird, und das dies der Lauf der Welt ist. Und vielleicht ist das ein Teil der Wahrheit. Ein anderer Teil hat etwas mit dem schlechten Verhältnis zu tun, das manchmal zwischen Hausbesitzern und ihren Mietern herrscht. Es geht um Macht, Existenzängste und die gegenseitigen Empfindlichkeiten und Vorurteile mancher neuer und alter Bewohner von Prenzlauer Berg."Die Kündigung lag einfach so im Briefkasten", sagt die Wirtin des Oderkahn, Monika Lange. Das war vergangenen Mai. Ihr Mietvertrag lief zwar Ende 2002 aus, aber sie hatte nicht damit gerechnet, dass Fawad Ghousi ihn nicht verlängern würde. Doch dieser war, als er die Kündigung aussprach, noch nicht ins Grundbuch eingetragen. Monika Lange klagte gegen die Kündigung, Ghousi strengte eine Räumungsklage an. Die zog seine Anwältin vergangene Woche aber zurück. Ein Richter am Landgericht hatte ihr klargemacht, dass sie keine Chance habe. Nun hat Monika Lange bis Ende des Jahres Gnadenfrist. Dass Ghousi ihr erneut und diesmal korrekt kündigen wird, ist wahrscheinlich. Auch der Richter sagte, dass die Wirtin sich auf Dauer kaum wird halten können.Doch Monika Lange kann sich nicht vorstellen, dass es den Oderkahn nicht mehr geben soll. Seit 1921 ist die Gaststätte in Familienhand. "Erst hatte Oma sie, dann Vater und jetzt ich. " Seit zwanzig Jahren heizt sie am frühen Nachmittag den dunkelbraunen Kachelofen in der Wirtsstube an, damit es warm ist, wenn um vier die ersten Gäste kommen. Früher waren Stefan Krawcyk und Freya Klier manchmal da, die Puhdys und Manfred Krug. Sie kommen nicht mehr, doch im Oderkahn ist alles noch wie damals. Auf den Tischen liegen rote Stoffdecken, es gibt Bockwurst und Bouletten und alkoholische Mixgetränke namens Futschi oder Grüne Wiese. Die Toilette ist im Treppenhaus. Und im Sommer sitzen die Stammgäste draußen hinter einem weißen Zaun auf Kunststoffrasen und sehen zu, wie die Sonne untergeht.Fawad Ghousi, ein schmaler Mann von 33 Jahren mit einem Pferdeschwanz, sitzt schräg gegenüber vom Oderkahn in seinem Restaurant Naan, das es seit 1998 gibt. Er erzählt, dass er als Zehnjähriger mit seinen Eltern von Indien nach Berlin gekommen sei. Und er ist stolz, dass sein teuerstes Gericht - Lammfleisch in Sahnesauce - nur 4,80 Euro kostet. Dann sagt er: "Ich bin nicht mal scharf drauf, dass der Oderkahn rausgeht, aber die müssen sich anpassen an die Mieten, die hier herrschen. " Ein paar Monate nach der Kündigung, im Sommer 2002, will Ghousi Monika Lange einen neuen Mietvertrag angeboten haben - mit zehn Jahren Laufzeit und einer Quadratmetermiete, die nicht länger bei drei, sondern bei 13 Euro liegen sollte. Monika Lange sagt, dass sie dieses Angebot nicht kennt, aber dass sie es angenommen hätte. Besser als arbeitslos mit 54 Jahren. Sie holt stattdessen ein Angebot für einen Mietvertrag vom November 2002 aus ihrem Ordner, der ein Jahr Laufzeit hat, und die Miete von 581 auf 1 555 Euro erhöht. "Die Einschaltung von Medien wie Radio, Fernsehen, Zeitungen wird ab sofort ausgeschlossen. Eine weitere Vorgehensweise Ihrerseits wie bisher wäre ein Anlass für eine sofortige Rücknahme dieses Angebotes", heißt es weiter. Monika Lange hat dieses Angebot abgelehnt, der kurzen Laufzeit wegen. Den Mund will sie sich ohnehin nicht verbieten lassen. Und dann sagt Monika Lange, dass sie glaubt, dass Fawad Ghousi sich rächen will. Die Wirtin und ihr Mann wohnen nämlich in dem Haus, in dem sich das Naan befindet. Es gehört ebenfalls Fawad Ghousi, und Langes haben jahrelang ihre Miete dort gemindert, mit der Begründung, sie fühlten sich durch die Gerüche aus der Restaurantküche belästigt.Fawad Ghousi redet nicht von Rache. Er erzählt von weißen Maden, die er ein paar Mal vor der Tür des Naan gefunden habe. Und von anonymen Anrufen - das Naan betreffend - beim Gesundheitsamt. Er sagt, dass es im Oderkahn nicht ums Geldverdienen gehe. "Da läuft was anderes ab. Die Leute dort haben meist kurze Haare. " Im Sommer hätten Oderkahn-Gäste "Kanakenbande" hinter ihm hergerufen. Er habe Drohungen bekommen: "Passen Sie auf sich auf. Das wird noch ein Nachspiel haben. " Aber er nehme das nicht ernst.Die Gäste, die mittwochabends im Oderkahn sitzen, haben keine kurzen Haare. Eine Gruppe von Frauen um die sechzig erzählt, dass sie seit fünfzehn Jahren hierher kommt, nach der Gymnastik in der nahen Sporthalle. "Für uns wäre es ein Desaster, wenn die Kneipe zumachen würde", sagen sie. "Wir passen doch anderswo gar nicht hin. " Deshalb haben sie alle unterschrieben auf der Liste, die Monika Lange vergangenes Jahr ausgelegt hat. 800 Unterschriften sind zusammengekommen, die hat sie dem Bezirksbürgermeister überreicht.Am Nebentisch sitzen die ehemaligen Studenten, wie Monika Lange sie nennt. Sie kamen schon her, als sie Chemie studierten und ihre Studentenbuden in der Gegend hatten. "Damals gab es hier das billigste Bier im ganzen Prenzlauer Berg", sagt Alexander Benkert, der heute 35 ist. "98 Pfennige für einen halben Liter. " Sein Vater habe hier als Student schon getrunken. "Nicht, Moni?", ruft er. Aber es ist nicht nur Nostalgie, die sie hier einkehren lässt: "Wir wollen eine Kneipe, keine Cocktailbar. " Der Oderkahn sei die einzige Gaststätte, in der man noch Kiezbevölkerung treffe, sagt Benkerts einstiger Kommilitone, Thomas Drescher. "In den anderen sitzen nur Touris und Yuppies. " Und sie fürchten, dass sie sich bald dazusetzen müssen.(KORREKTUR - In der Ausgabe vom 30. Januar hatten wir in dem Text "Der letzte Futschi" geschrieben, dass Herrn Fawad Ghousi ein Haus an der Oderberger Straße gehört, in dem er das Restaurant "Naan" betreibt. Das Gebäude steht nicht in seinem Eigentum, er ist dort Mieter. (BLZ) - 04.02.2003)."Es wäre ein Desaster, wenn die Kneipe zu machen würde. Wir passen anderswo nicht hin. " Ein Kneipengast.BERLINER ZEITUNG/MARKUS WÄCHTER "Erst hatte Oma die Kneipe, dann Vater und jetzt ich. " Die Wirtin des "Oderkahn", Monika Lange.