Im Winter kommt unser Gemüse aus Südeuropa. Weil es oft zu früh geerntet wird, fehlen wichtige Inhaltsstoffe: Frühreif und geschmacksarm

Tomaten, Paprika, Gurken, Auberginen, Melonen - obwohl längst Winter ist, hat sich im Angebot der Gemüsehändler hier zu Lande nicht viel geändert. Dabei gedeihen diese Feldfrüchte jetzt nicht in Mitteleuropa. Sie kommen meist aus den Treibhäusern Südeuropas.Das größte Anbaugebiet für den deutschen Gemüsemarkt liegt in der südspanischen Provinz Almeria. 350 Quadratkilometer Schwemmland an der Küste ist dort von einem Plastikmeer bedeckt. In der Gegend mit den meisten Sonnenstunden Europas steht auch die größte zusammenhängende Gewächshausanlage des alten Kontinents. Die bietet besonders im Sommer ein seltsames Bild: Die ganze Ebene leuchtet schneeweiß durch den Kalk, der als Sonnenschutz auf die Treibhausdächer gestreut wird. Die Gemüse unter den Dächern wachsen häufig nicht auf natürlichem Boden, sondern in Hydrokultur auf Substraten wie Steinwolle und Perlit oder auf Kokosfasern. Dreihundert Millionen Kubikmeter Wasser werden dafür jährlich aus dem Boden gepumpt. Die Grundwasservorräte in dem extrem niederschlagsarmen Gebiet schwanden schon in den 80er-Jahren, Meerwasser strömte nach. Mittlerweile wird ein Großteil des Wassers aus der nahe gelegenen Bergkette Sierra de Gador und aus dem 50 Kilometer entfernten Hochgebirge der Sierra Nevada geholt. Es gibt sogar Pläne, das Wasser in Pipelines aus dem mehr als 700 Kilometer entfernten spanischen Norden nach Andalusien zu leiten. Früher bestellten die andalusischen Bauern ihre Felder nur, wenn es im Frühling regnete. Heute ernten Gastarbeiter aus Marokko oder Schwarzafrika auf den riesigen Anbauflächen zweimal im Jahr. Übrig bleiben gigantische Mengen von organischem Abfall. Auch die Plastikplanen der Gewächshäuser müssen alle zwei bis drei Jahre gewechselt werden. 40 000 Tonnen Polyethylen, häufig vermischt mit Pflanzenschutzmitteln, landen dadurch jährlich auf dem Müll. Anlagen zum Recycling und Kompostieren gibt es zwar, flächendeckend sind sie aber noch lange nicht. So gammeln die Abfälle vielerorts vor sich hin. Wie in anderen großen Anbaugebieten führen die riesigen Monokulturen auch in der Küstenebene von Almeria häufig zu Schädlingsplagen. Die Bauern reagieren mit dem Einsatz von Pflanzenschutzmitteln. Wie die Deutsche Gesellschaft für Ernährung in ihrem Ernährungsbericht 2000 schreibt, kommen bei Obst und Gemüse aus Importländern Höchstmengenüberschreitungen wesentlich häufiger vor als bei deutschen Produkten.Zwar setzen einige spanische Gemüseerzeuger inzwischen auf hygienische Plexiglashäuser und biologische Schädlingsbekämpfung, wie es die Holländer schon lange tun. Aber bisher sind weniger als zehn Prozent der Treibhäuser solche "Hightech-Gemüsefabriken". Das kostbare Wasser gibt es dort tröpfchenweise über ein computergesteuertes System. Nährstoffe wie Kalzium, Magnesium und Phosphor sind gleich zugesetzt. Bei den in Almeria angebauten Tomaten handelt es sich fast ausschließlich um so genannte Longlife-Sorten wie Daniela oder Vanessa. Ursprünglich in holländischen Laboren gezüchtet, sollen sie vor allem schön aussehen und zwanzig Tage lang nicht matschen. Besonders gut schmecken diese Tomaten allerdings nicht. Selbst so mancher spanische Hersteller isst sie nur ungern. "Unsere Tomaten sind zwar rot, rund und schön anzusehen. Die alten, heimischen Sorten schmecken aber sehr viel besser", sagt Juan López Fuentes, Geschäftsführer einer großen Saatfirma in Almeria. "Die neuen Sorten sind überaus produktiv und die Früchte ertragen sehr gut den Transport von hier in die Absatzländer, aber sie verlieren dadurch an Qualität in Geschmack und Geruch." Heimische Sorten wie beispielsweise die Mucha-Miel-Tomate (mucha miel: viel Honig) werden nicht verschickt. Die Spanier essen sie lieber selbst.350 000 Tonnen Gemüse rollen jährlich aus Almeria nach Deutschland. Bis Berlin müssen sie rund dreitausend Straßenkilometer zurücklegen. Die Tomaten werden grün geerntet; sie reifen beim Transport und in der Lagerhalle - nicht durch die Sonne. Was das für die Konsumenten bedeutet, wurde jetzt zum ersten Mal in Deutschland von Wissenschaftlern untersucht. Ein Team um die Agraringenieurin Susanne Huyskens-Keil om Institut für Gartenbauwissenschaften der Berliner Humboldt-Universität wies nach, dass Tomaten um so größere Mengen an wertgebenden Inhaltsstoffen wie Vitamine, Mineralstoffe und Spurenelemente enthalten, je reifer sie bei der Ernte sind. "Nur eine natürlich am Strauch gereifte Tomate hat eine ausgewogene Inhaltsstoffzusammensetzung", sagt Huyskens-Keil. "Je vorzeitiger man die Tomaten erntet, desto größere Qualitätsverluste können auftreten."Während des Reifens reichern sich in den Früchten Farbstoffe wie die Karotinoide an. Die Tomate verdankt ihr sattes Rot dem Lykopin. Dieser Farbstoff zeichnet sich durch seine antioxidative Wirkung aus: Lykopin ist in der Lage, so genannte freie Radikale einzufangen, die der menschliche Organismus durch Umweltgifte aufnimmt. Freie Radikale gelten als potenzielle Krebsauslöser; sie können auch das Altern beschleunigen. Deutsche und niederländische Studien liefern Hinweise darauf, dass Lykopin sowohl vor Prostatakrebs als auch vor Hautschäden durch UV-Strahlung schützen kann.Den optimalen Lykopingehalt erreicht die Tomate aber nur, wenn sie am Strauch ausreift. Zu ähnlichen Ergebnissen kamen Forscher in Israel und in den USA, als sie die wertgebenden Inhaltsstoffe von Mangos, Papayas und Melonen in unterschiedlichen Reifungsstadien überprüften. Dennoch: Frühreif geerntetes Gemüse bestimmt das Angebot hier zu Lande. Mehr als die Hälfte des hier verzehrten Gemüses kommt nicht aus Deutschland. Bei den Tomaten kommen sogar 95 Prozent aus dem Ausland."Was frühreif geerntet wurde, schmeckt auch nicht", sagt der Chefkoch des Berliner Spitzenrestaurants Margaux, Michael Hoffmann. Deshalb besucht er mindestens einmal pro Woche seinen Gemüselieferanten, der ihn mit allem versorgt, was Brandenburg zur jeweiligen Saison hergibt. Das Kochen ohne Rücksicht auf das natürliche Angebot der Jahreszeit ist für Hoffmann der schlimmste Feind der Esskultur. Er sieht das größte Manko in der fehlenden Aufklärung. "Für viele Verbraucher ist es selbstverständlich, dass alles zu jeder Jahreszeit zu haben ist", sagt Hoffmann. Er plädiert dafür, die Ernährungslehre in zukünftige Lehrpläne der Schulen aufzunehmen.Der Spitzenkoch vertraut allein seiner Zunge. Tomaten-Experten vom Institut für Gemüse und Zierpflanzenbau in Großbeeren aber haben den Geschmack nach wissenschaftlichen Kriterien untersucht. Sie verglichen die Aromen von rot geernteten mit denen von unreif gepflückten und künstlich gereiften Früchten. Das Resultat war eindeutig: "Die meisten wichtigen Aromastoffe, welche die Süße und Fruchtigkeit der Tomaten ausmachen, sind besonders im Rotstadium voll entwickelt", berichtet die Chemikerin Angelika Krummbein.Das Verhalten der Konsumenten haben solche Erkenntnisse bisher nicht beeinflusst. Die Nachfrage nach Tomaten, Paprika und Auberginen im Winter ist nach wie vor groß. Die Provinz Almeria kann diese Nachfrage kaum befriedigen, denn die Ebene an der Küste ist schon lange zugebaut. Im Hinterland werden nun sogar Berge versetzt, um Platz zu schaffen - für noch mehr Gewächshäuser.ECKART GRANITZA (2) Arbeiterinnen in der spanischen Provinz Almeria verlesen Tomaten. Die Früchte werden grün geerntet, denn es dauert bis zu zwanzig Tage, ehe sie den deutschen Verbraucher erreichen. Rot werden die Tomaten erst beim dreitausend Kilometer langen Transport oder bei der Lagerung in Deutschland.BERLINER ZEITUNG/RITA BÖTTCHER Anbaugebiet. Die größte Gewächshausanlage Europas steht in der Umgebung des südspanischen Städtchens El Ejido. Die Zelte aus Metallgestellen und Plastikfolie bedecken fast die ganze Ebene zwischen der Mittelmeerküste und dem Gebirge Sierra de Gador. Die schraffierte Fläche in der Grafik zeigt die ungefähre Ausdehnung.