In Berlin machen viele Türken Musik, aber eine türkische Musikszene gibt es nicht: "Orient" ist kein Ferienwort
Szene eins, Werkstatt der Kulturen, Neukölln: Ein Baglama-Spieler mit rotem Käppi, das wie die Ironisierung eines Fes aussieht, treibt den "Irish-Turkish-Speed-Folk" der Band Alice Brennen an. Ein Stück heißt "Ali". Grinsend führt er mit ein paar Hüpfschritten den zugrundeliegenden alevitischen Tanzrhythmus vor. Es ist unmöglich, über türkische Musik zu sprechen, ohne die Langhalslaute zu erwähnen. Sie spielt eine allesbeherrschende Rolle in der anatolischen, besonders der alevitischen Volksmusik. Früher küßte der Musiker sein Instrument und berührte es mit der Stirn, bevor er zu spielen begann. Die Langhalslaute heißt korrekt "Baglama", weniger korrekt, aber ebenso häufig, "Saz". Szene zwei, Café Schwarze Kunst, Kreuzberg: Das alte und junge, türkische und deutsche Publikum unterhält sich laut und achtet nicht auf den Volksliedsänger und Baglamaspieler, der Kompositionsstudent an der Hochschule für Musik Hanns Eisler ist, der erste türkische Student dort überhaupt. Taner Akyol gibt lieber richtige Konzerte mit eigenen Kompositionen, "neuer anatolischer Musik". Doch er muß auch von etwas leben.Szene drei, Ballhaus Naunynstraße, Kreuzberg: Ein kurdischer Maler hantiert mit Rosen, Messern und Verbandszeug, der Musikwissenschaftsstudent Nevzat Akpinar experimentiert auf der Saz dazu. Die überwiegend türkischen Zuschauer haben von einer "Sazformance" wohl ein Theaterstück erwartet, viele schauen irritiert und enttäuscht.Szene vier, Miles Club, Prenzlauer Berg: Der schwarze Chef einer Reggaeband beginnt einen nuschligen englischen Wortwechsel mit der türkischen Rapperin Aziza A, die im Publikum steht. Sie geht dann für ein Stück auf die Bühne.Die genannten Beispiele illustrieren kulturelle Berührung, Kreuzung, Vertauschung der Perspektiven und sind gewiß nicht typisch für "türkisches Musikleben". Andererseits, was ist schon typisch? Wer sich in Berlin auf die Suche nach einer türkischen Musikszene macht, wird bald feststellen, daß es eine solche nicht gibt. Es herrscht im Gegenteil eine exzessive Aufsplitterung. Sie stellt einerseits ein verkleinertes, von Laienmusikern geprägtes Spiegelbild jener Genres und Stile dar, die das musikalische Leben in der Türkei bestimmen: Folklore und osmanische Kunstmusik, Pop und Soul, Bauchtanz und Arabesk, Musik in Tavernas, Musik bei Hochzeiten, Musik aus dem Zusammenhang religiöser Zeremonien. Die Berliner Hochzeitssäle und Musikrestaurants sind regelmäßige Auftraggeber und stellen so etwas wie geschlossene Kreisläufe für eine kleine Anzahl von Profimusikern dar. Darüber hinaus werden die vom internationalen Musikleben vorgegebenen Schienen wie Weltmusik, Hiphop, Neue Musik oder Jazz von Nachwuchsmusikern immer stärker genutzt.Im Fall von Weltmusik ist das zugleich besonders einfach und besonders kompliziert. Einfach, weil es erst wenige Landsleute gibt, die sich in diesem Bereich bewegen. Schwer, weil nicht nur die nichttürkischen Musiker von türkischer Musik meist nichts kennen, sondern auch das Gros der Zuhörer die orientalischen Klänge nicht mag. Ob das an den ungewohnten Skalen liegt? Oder, wie der Produzent Ünal Yüksel glaubt, an den Kriegs- und Unterdrückungsassoziationen, die das Fernsehen uns vermittelt? "Orient" sei kein sonniges Ferienwort wie "Karibik" und eigne sich schlecht zum Exotisieren. Der Bandleader Derya Takkali macht vor allem die Religion und die Mentalität verantwortlich und nennt als Beispiel den traurig-theatralischen Gestus eines Saz-Spielers, den ein Deutscher "sowieso nicht versteht". Fest steht: man muß sich etwas einfallen lassen. "Qualität und Trend", sagt Derya, der 28 Jahre alt ist und seit 19 Jahren in Deutschland lebt, "sind wichtiger für den Erfolg als die Nationalität". In seinem Ensemble spielen eine Schwedin, ein Iraner und vier Deutsche. Die Musik ist nur ganz zart von anatolischer Folklore angehaucht und kommt im übrigen zwischen Flamenco und Klassik daher: das mögen sogar die älteren Damen in Dahlem. Die Auftrittsmöglichkeiten in Berlin sind dennoch begrenzt, und das Abmischen seines Albums mit Beats und Soundflächen, das für den türkischen Markt erforderlich wäre, ist ihm zu teuer. Also weicht er nach Frankreich aus, wo ethnische Musik schon ein größeres Publikum hat: aus Paris kam eine Einladung, und in Marseille gibt es einen Onkel, der vielleicht behilflich sein kann.Die Gruppe Orientation illustriert noch deutlicher, wie die deutschtürkischen Musiker mit schlangengleicher Wendigkeit die doppelten Infrastrukturen nutzen. Mit ihrer Mixtur aus Jazz, Arabesk und Clubbeats tritt die Gruppe gleichermaßen in Multikulti-Spielstätten wie in Jazzclubs auf, in türkischen Musikcafés wie auch als Vorgruppe für Popstars aus der Türkei; im kommenden Sommer geht es auf ein Festival nach New York. Turgay, der Saxophonist, 28 Jahre alt und in Berlin geboren, spielte zunächst auf türkischen Hochzeiten und ging Anfang der Neunziger eine Weile mit türkischen Popgrößen auf Tournee. Faruk Düzgün, der Posaunist der Band, springt schon mal bei den Philharmonikern ein, spielt aber auch auf türkischen Hochzeiten Keyboard. Sänger Günay, 28, geboren in Heidelberg, in Berliner Fitneßräumen gestählt und in den Berliner Tavernas bekannt für seinen schönen Arabeskgesang, ist zur Zeit in Istanbul und nimmt dort sein erstes Soloalbum bei einem türkischen Label auf.So läßt sich die Situation der deutsch-türkischen Musiker, die zwischen zwei Musiktraditionen, zwei Märkten und im Zweifel sofort im Focus der Aufmerksamkeit stehen, sowohl als anstrengender Spagat wie auch als Privileg interpretieren. Die Rapperin Aziza A wurde mit den Antikopftuchfrau-Geschichten der deutschen Medien auf einen Schlag bekannt. Ähnlich ging es den Rappern von Cartel, denen die Anschläge von Mölln und Solingen einen gewaltigen Popularitätsschub gaben. Das Echo ist inzwischen verhallt, Cartel hat sich aufgelöst. Aber in der Türkei hat sich eine kleine Hiphopszene etabliert, und hierzulande ist "Oriental Hiphop" zu einem Markennamen geworden, mit dem Altrocker ihr Image auf den Stand der Zeit bringen können: Bektas Turhan, im Alter von eineinhalb Jahren nach Berlin gekommen und inzwischen 23, ist kürzlich zusammen mit zwei anderen Berliner Rappern als "zweite Cartel-Generation" mit Peter Maffay durch Deutschland getourt. Das Echo selbst bei diesem hiphopungewohnten Publikum "war unglaublich gut". Jetzt hat er sein erstes Demoband an deutsche und amerikanische Firmen geschickt. Bei Hiphop geht momentan alles, "und ob die Songs deutsch oder türkisch sind, nehmen die Firmen nicht mehr so streng". Wenn es nicht klappt, versucht er es in der Türkei. Seine deutschen Texte schreibt der (seit längerem inaktive) Politologiestudent zusammen mit seinem polnischen Schulfreund. Die türkischen schreibt er allein, die gehen leichter, "weil Türkisch besser fließt", und weil "viele Ausdrücke auf Deutsch gleich so kitschig sind": "Das ist unser Bonus: unsere poetische Mentalität."Und die Familienbindung ist es vielleicht ebensosehr. Zwar hält sie in Gestalt besorgter Eltern und künftiger Schwiegerväter, die streng auf ein geregeltes Einkommen schauen, die Zahl der Profimusiker bedauerlich niedrig. Andererseits sind die Verwandten an der Kreativität oft beteiligt. Die erste, der Bektas Werke zur Begutachtung vorgelegt werden, ist seine Mutter; die alevitischen Lieder, mit denen er großgeworden ist, scheinen ihm nicht nur eine gute Schule, sondern nach wie vor ein guter Bewertungsmaßstab zu sein. Auch Derya, der Gedichte seines Vaters vertont, steht ohne die von Deutschen gewohnten Distanzierungsformeln zur Familie. Beyhan Yahsi reiste schon als Kind mit ihrer Mutter durch Deutschland, um ihr bei der Aufführung des Semah zu assistieren, der religiösen Zeremonie der Aleviten mit Tanz und Gesang. Die 27jährige Apothekenhelferin, die bei ihren Eltern wohnt, hat bereits drei Angebote von türkischen Labels vorliegen. Doch dazu muß sie in die Türkei, mindestens für drei Jahre, sagen die Firmen. Die gebürtige Berlinerin weiß nicht, ob sie das kann. In Marzahn wurde sie nach einem Auftritt mit Flaschen beworfen, aber dennoch "ich habe mir hier schließlich meine Existenz aufgebaut", sagt sie. Und in Skinhead-Revieren hält man sich ja gewöhnlich nicht auf. Sollte sie sich dennoch entschließen, und das gilt für alle hier Aufgewachsenen, wäre eine abgelegte türkische Staatsbürgerschaft fatal. In Berlin mag man sich als Berliner und Musiker verstehen, und nur unter anderem als Türke. In der Türkei jedoch hat ein Landsmann, der so deutlich seine Herkunft verachtet, beim Publikum keine Chance.