In Lettland wird über den Rigaer KZ-Kommandanten Fritz Scherwitz debattiert: Schindler oder Schwindler?

Wer war er, dieser Fritz Scherwitz: Ein Jude, der sich in die SS geschmuggelt hatte, um sich selbst zu schützen und der als Kommandant des KZ-Außenlagers "Lenta" in Riga vielen jüdischen Häftlingen das Leben rettete? Oder ein bestechlicher Hochstapler, der sich nach 1945 als Jude ausgab und in der US-Besatzungszone Karriere machte? Margis Vestermanis, der Gründer des "Museums der Juden in Lettland", formuliert die Frage an diesem Montag in Riga so: "Schindler oder Schwindler?" Auf Einladung der Deutschen Botschaft und des Goethe-Institut liest an diesem Abend Anita Kugler aus ihrer 650 Seiten dicken Scherwitz-Biografie, die zugleich eine Geschichte des Holocausts in Lettland ist (Kiepenheuer&Witsch, Rezension siehe Berliner Zeitung vom 7.10.2004). Unter den hundert Anwesenden sind Überlebende wie der Komponist Mendel Basch, der als Handwerker in der Fabrik "Lenta" arbeitete. "Jeder sollte das Buch lesen", sagt er, "denn darin steht alles über die NS-Zeit in Lettland". Kugler liest vor hundert Zuhörern das schockierendste Kapitel: Wie am "Blutsonntag" des 30. November 1941 13 000 Juden aus dem Rigaer Ghetto in den Wald von Rumbula geführt wurden, der von deutschen und lettischen Polizisten umstellt war. Wie sich die Menschen in Zehnergruppen in Gruben legen mussten. Wie sie von einem SS-Sonderkommando per Genickschuss getötet wurden. Sie habe sich zunächst nicht getraut, diese Episode zu lesen, berichtet Kugler. Doch Vestermanis habe ihr Mut gemacht, und so habe sie dem Vorschlag des Goethe-Instituts zugestimmt. Denn zuletzt war in den lettischen Medien relativierend über die Zeit der NS-Besatzung, die Lage im KZ Kaiserwald sowie die Kollaboration mit den Nazis berichtet worden.Geschirr aus dem Ghetto"Die Zeit zwischen 1941 und 1944 ist in der lettischen Geschichtswissenschaft noch nicht detailliert erforscht", erklärt Sarmite Pijola, die lange im lettischen Hauptarchiv arbeitete. Wie in Litauen und Estland werden diese Jahre von der Erinnerung an die sowjetische Okkupation überdeckt. Außerdem fällt die Beschäftigung mit der NS-Besatzung laut Pijola schwer, weil die Letten nicht nur Opfer waren: Kugler liest Briefe vor, in denen Balten um Möbel oder Geschirr aus dem Ghetto baten - viele betonten darin, dass sie "an den Judenaktionen teilgenommen" hätten. Andere halfen Juden, sich zu verstecken oder steckten jüdischen Arbeitern nach dem "Blutsonntag" heimlich Essen zu. Dass Juden während der Besatzung ermordet wurden - insgesamt 90 000 -, hätten sie gewusst, erklären zwei Sprachschülerinnen, nicht aber, auf welch kaltblütige Art. Mehrmals wird gefragt: Wann kann man das Buch auf lettisch lesen? "Das Goethe-Institut ist bereit, die Übersetzung zu bezahlen", erklärt Rudolf de Baey, Institutsleiter in Riga. Doch müsse der lettische Verlag Produktion und Vertrieb finanzieren. Es ist abzuwarten, ob ein Verleger dem unbequemen Buch Chancen auf dem kleinen Markt von nur 1,5 Millionen Lesern einräumt. Seit dem EU-Beitritt sind die Preise gestiegen, es werden weniger Bücher verkauft. Erste Kontakte wurden nach der Lesung geknüpft, erklärt Anita Kugler: Ein Verlag will sich um die Rechte bemühen.Womöglich hilft es, dass wegen der Lesung in den lettischen Medien erstmals über die Figur Scherwitz berichtet wurde: Die größte lettische Zeitung "Diena" ("Der Tag") kürte die Autorin auf einer Dreiviertelseite zur "Frau des Tages". Inwiefern Scherwitz bei den Erschießungen in Rumbula beteiligt war, lässt sich wie so vieles in seinem Leben nicht eindeutig belegen. Um seine "Lenta"- Juden zu schützen, sperrte er sie eine Woche lang im Gebäude ein, so dass alle den "Blutsonntag" überlebten. Innerhalb der jüdischen Gemeinde kursieren laut Vestermanis viele Gerüchte über Scherwitz. Vielleicht kann nach einer übersetzung neue Details über den SS-Führer gefunden werden.