In vielen Bezirken gehen Behörden Verdachtsfällen bei der Krankenpflege nach: Pflegebetrug weitet sich aus
Behörden und Krankenkassen sind einem möglichen Millionenbetrug bei mobilen Pflegedien-sten auf der Spur. "Die Fälle in Neukölln sind nur die Spitze des Eisberges", sagte gestern der Leiter der Rechtsabteilung der AOK Nordost, Peter Wewer. Allein die AOK Nordost sei in den ersten acht Monaten dieses Jahres bereits 266 Hinweisen und Fällen nachgegangen. Dabei gehe es um "einen geschätzten Schaden in Höhe von mindestens 1,3 Millionen Euro", sagte Wewer. Im Pflegebereich habe die AOK bereits 110 ambulante Dienste recherchiert, die einen Schaden in sechsstelliger Höhe verursacht hätten.Am Mittwoch hatte der Neuköllner Sozialstadtrat Michael Büge (CDU) über mutmaßliche Falschabrechnungen von derzeit vier Pflegedienstbetrieben berichtet. Gegen einen Pflegedienst wurde Strafanzeige gestellt, drei weitere Betriebe überprüft das Amt zurzeit. Büge spricht von "mafiösen Strukturen".Gestern meldeten sich im Sozialamt Neukölln weitere Betroffene. Es waren sowohl Angehörige von Pflegebedürftigen als auch Mitarbeiter von Pflegediensten aus Reinickendorf, Treptow-Köpenick, Mitte und Friedrichshain-Kreuzberg, die über Missstände berichten wollten. "Es geht um vorgetäuschte Leistungen. Mitarbeiter werden bedroht, weil sie es ablehnen, sich an den Betrügereien zu beteiligen", sagte Carola Röder vom Sozialamt Neukölln.Bei den betreffenden Pflegediensten besteht der Verdacht, dass sie Leistungen wie Körperpflege oder medizinische Versorgung bei der Krankenkasse oder beim Sozialamt abrechnen, die sie gar nicht erbracht haben. Bei Bedürftigen übernimmt das Sozialamt diese Kosten. Etwa 11 Millionen Euro gibt Neukölln jedes Jahr für die Hilfe zur Pflege aus, berlinweit sind es mehr als 100 Millionen Euro.Gestern berichtete eine ehemalige Mitarbeiterin der Berliner Zeitung über die Methoden der Neuköllner Pflegediensteinrichtung, gegen die das Bezirksamt Strafanzeige gestellt hat. Die Frau, die anonym bleiben möchte, sagte: "Die Klienten wurden pflegebedürftiger dargestellt, als sie tatsächlich waren. Bevor Begutachter zum Hausbesuch kamen, wurden sie darauf vorbereitet, sich bewegungseingeschränkt zu zeigen." Sie seien zum Beispiel in einen Rollstuhl gesetzt worden, um eine erhöhte Pflegebedürftigkeit vorzutäuschen und höhere Leistungen bewilligt zu bekommen. Weiter berichtete die Mitarbeiterin: "Wir wurden darauf getrimmt, ich wurde deutlich dafür kritisiert, mich nicht genug eingesetzt zu haben." Nach einem Jahr hat die Pflegerin gekündigt.In einem anderen Fall berichtet eine ehemalige Mitarbeiterin eines Pflegedienstes der Behörde über ein gut funktionierendes Netzwerk von Betrügerfamilien russischer und türkischer Abstammung: Angehörige von "Scheinpatienten" würden zum Dank als Mitarbeiter des Pflegedienstes eingestellt, bekämen so eine Aufenthaltserlaubnis. Pflegebetriebe gründeten eigene Ausbildungsbetriebe und bildeten dort zum Schein Pflegepersonal aus, es gebe zudem eine Vielzahl von Ärzten, die falsche Atteste und Diagnosen ausstellen würden. Die Polizei ermittelt inzwischen.Auch der Sozialstadtrat von Mitte, Stephan von Dassel (Grüne), weiß von einer Reihe möglicher Missbrauchsfälle in der ambulanten Pflege in seinem Bezirk. Es habe bisher sechs schwerwiegende Aussagen ehemaliger Mitarbeiter von Pflegebetrieben gegeben, in denen vermutlich massiv betrogen werde, sagte von Dassel. Er habe den Senat darüber informiert.Bezirkspolitiker wie Büge und von Dassel fordern eine zentrale Anlaufstelle beim Senat. Vergleichbar mit der Hygieneampel, der Veröffentlichung der Ergebnisse der Lebensmittelkontrollen, sollten auch die Ergebnisse der Qualitätsprüfungen von Pflegebetrieben veröffentlicht werden. "Was für Krankenhäuser und Seniorenheime gilt, muss auch für ambulante Pflegedienste gelten", sagte von Dassel.------------------------------Hotline geschaltetIn Berlin leben etwa 100 000 pflegebedürftige Menschen. Die Kosten für ihre Versorgung übernehmen die Krankenkassen und Sozialämter. Welche Leistungen nötig sind, prüft ein Gutachter beim Hausbesuch.Bei Verdacht auf Falschabrechnungen gibt es eine Hotline in Mitte:90 18 - 42655. Auch die AOK hat eine Missbrauchsbekämpfungsstelle eingerichtet. Die kostenlose Nummer lautet 080026508043195.------------------------------Foto: Auf Hilfe angewiesen: In Berlin leben etwa 100 000 pflegebedürftige Menschen.