Innere Zweiheit in Deutschland als Normalität und Chance: Die unerwartete Fremdheit

Mit "Osten" wird im vereinigten Deutschland nicht nur eine Region mit besonderer wirtschaftlicher Situation assoziiert, sondern auch eine Bevölkerung, deren sozialisatorische Muster, Werte, spezifischen Erfahrungen, Erinnerungen und Sinnkonstruktionen zum Teil deutlich von denen der Westdeutschen abweichen. Darüber hinaus verweisen "der Osten" oder "die Ostdeutschen" auf jenes Bild, das in der nun schon zehn Jahre währenden deutsch-deutschen Debatte über die neuen Bundesbürger konstruiert wurde. Diese Differenzierung Deutschlands in "Ost" und "West" wurde in der letzten Dekade überwiegend als Störung oder gar als Gefahr gesehen. Die "innere Einheit des vereinigten Deutschlands" sei eine wichtige und ungelöste Aufgabe, wobei letztlich im Vagen bleibt, was diese "innere Einheit" - über die durch das Grundgesetz ohnehin gebotene und derzeit ebenfalls noch uneingelöste Herstellung gleicher Lebensverhältnisse hinaus - überhaupt sein soll.Wir wollen diese kulturelle Differenzierung der erweiterten Bundesrepublik nicht als Anomalie, sondern vielmehr als eine Normalisierung, Bereicherung und zugleich als eine produktive Herausforderung deuten. Hierzu muss die westdeutsche Perspektive, die den Osten als Abweichung, den Westen als Norm interpretiert, zu Gunsten einer Sichtweise aufgegeben werden, die beide deutsche Nachkriegsgesellschaften als Kulturen zeigt, die sich auf jeweils unterschiedliche Weise vereinseitigt haben.Die durch die Siegermächte in ihren Besatzungszonen forcierten und zueinander konträr verlaufenden Umwälzungen führten nicht nur zu einer Polarisierung von Ostdeutschland und Westdeutschland, sondern auch zu einer relativen ideologischen, sozialmoralischen und mentalen Homogenisierung beider Gesellschaften nach innen. Zudem war die Grenze zwischen der sowjetischen Besatzungszone (SBZ) und den Westzonen schon vor der Spaltung eine gewisse Grenzlinie innerhalb der deutschen Kultur. Im Norden der SBZ lagen die weiten Räume der halb feudalen preußischen Großagrarier, in denen nicht die kleinbäuerlichen, sondern die landarbeiterlichen Unterschichten lebten, im mitteldeutschen Raum gab es eine ausgeprägte und langtradierte proletarische Kultur, die sich - abgesehen vom Ruhrgebiet - deutlich von der Kultur in den Westzonen unterschied. Das Statistische Handbuch für Deutschland aus dem Jahr 1949 zeigt, dass der Bevölkerungsanteil der abhängig Beschäftigten gegenüber dem der Selbstständigen in der SBZ deutlich höher als in den Westzonen war.Die politisch motivierte Vereinheitlichung und Proletarisierung der ostdeutschen Gesellschaft baute also auf einer für Ostdeutschland typischen, historisch gewachsenen Milieulandschaft auf. Die hier verankerten preußisch-protestantischen Tugenden - Fleiß, Pflichterfüllung und Sparsamkeit als zentrale Lebensachsen, Einordnung und Dienst an der Gemeinschaft - waren dem Wertehorizont der neuen "sozialistischen" Arbeitsgesellschaft gut adaptierbar und geradezu die Voraussetzung für ihr Funktionieren.Den von der SED verkündeten Programmen - zunächst der "antifaschistisch-demokratischen Umwälzung", und seit 1952 des "Aufbaues der Grundlagen des Sozialismus" - entsprechend, zerstörte die Politik in der SBZ und DDR gezielt die ökonomischen, alltags- wie hochkulturellen Reproduktionsbedingungen des großbürgerlichen und des kleinbürgerlichen Mittelstands-Milieus. Zugleich wurden die Angehörigen und die Kinder aus den plebejischen und Arbeitermilieus, sofern sie sich nicht explizit gegen die neue Politik stellten, beim Zugang zu höherer Bildung und zu den neuen Dienstklassen privilegiert. Dieser rabiate antikapitalistische Eingriff in die Besitzverhältnisse, gekoppelt mit einer beständigen öffentlichen Stigmatisierung bürgerlicher Ideologie und Lebensweise, mit der Repression ihrer Anhänger und der Abwanderung in den Westen, führte zu einer Selektion und Homogenisierung der Bevölkerung Ostdeutschlands in Richtung kleinbürgerlich-proletarischer Milieus.Doch die Formierung der ostdeutschen Bevölkerung zu einem "neuen historischen Subjekt" mit einander angeglichenen Lebensverhältnissen und vereinheitlichten politischen Vorstellungen schien durch ökonomische Eingriffe und die Erzwingung von Loyalität allein nicht zu bewerkstelligen.Um "die initiativreiche Mitarbeit aller beim Aufbau der sozialistischen Gesellschaft" - also ein auf Überzeugungen basierendes Engagement im beruflichen und gesellschaftlichen Leben - zu erreichen, setzte die SED-Führung einen aufwändigen Propaganda- und Erziehungsapparat in Gang, mit dem ein "neues", ein "höheres", ein "sozialistisches Bewusstsein" in der Bevölkerung geschaffen werden sollte. Der Höhepunkt dieser Entwicklung war in den Jahren 1965 und 1968 erreicht, als im "sozialistischen Bildungsgesetz" und in der "sozialistischen Verfassung" die "Verbreitung der sozialistischen Ideologie" und die "Erziehung aller Bürger zu sozialistischen Persönlichkeiten" zu normativen Zielgrößen erklärt wurden.Etwa Mitte der sechziger Jahre hatte sich tatsächlich eine neue Milieulandschaft in Ostdeutschland ausgeprägt. Sie war gekennzeichnet durch "Entbürgerlichung" der Bildungselite und die Herausbildung einer "sozialistischen Intelligenz". Ihren statistischen und normativen Schwerpunkt hatte die ostdeutsche Gesellschaft aber in den Arbeiter- und kleinbürgerlich-materialistischen Milieus. Im Vergleich zum westdeutschen war sie eher proletarisch, egalitär und linker.Aber auch die westdeutsche Milieulandschaft ist Resultat einer intendierten wirtschaftlichen und ideologischen Einflussnahme. Der Marshall-Plan wurde als "ein überaus ambitioniertes Werbeprojekt" gedacht und umgesetzt.Schon 1943 diskutierte man in den USA, dass - anders als nach dem Ersten Weltkrieg - der amerikanischen Unterstützung für Westeuropa nun der "Gedanke der Demokratie" beigepackt sein müsse. Im "Bewusstsein des Durchschnittsbürgers" müsse "ein tiefes Vertrauen in alles Amerikanische, sei es Ethik, Religion, Demokratie oder Industriegüter" entstehen. 1949 forderte ein verantwortlicher Leiter für die Propagierung des Marshall-Planes "mittels eines kombinierten Einsatzes aller vorhandenen Propagandamittel", das oben umschriebene "vorgeprägte Bild im Bewusstsein des Volkes . zu schaffen".Auch das Konzept der "sozialen Marktwirtschaft" wurde mit erheblichem propagandistischen Aufwand eingeführt. 1952 gründeten Unternehmer im Umfeld Ludwig Erhards eine Organisation mit dem programmatischen Namen "Die Waage Gemeinschaft zur Förderung des sozialen Ausgleichs e.V." Ihre PR-Kampagnen wandten sich über einen längeren Zeitraum - 1952 bis 1965 - mit Anzeigen in den großen Zeitungen und Zeitschriften der Bundesrepublik, aber auch mit Werbefilmen an den "kleinen Mann auf der Straße". Man wollte ein gesellschaftliches Klima befördern, in dem der Unternehmergeist allgemein geschätzt und die wirtschaftlichen und politischen Belange in einem "ausgehandelten" Konsens gelöst wurden. In der Jahresend-Anzeige der Waage von 1956 hieß es dann auch: "Der Klassenkampf ist zu Ende. Den Begriff des Proletariers gibt es nicht mehr. Im freien Deutschland vollzieht sich eine geschichtliche Wandlung: der ehemals klassenbewusste Arbeiter wird zum selbstbewussten, freien Bürger. Ein Mann, der auf lange Sicht plant, der für seine Kinder eine gründliche Schulung verlangt, der durch Eigentum die Freiheit seiner Familie zu sichern sucht, das ist der Arbeiter von heute." Der simultane soziale Aufstieg aller sozialen Schichten im Wirtschaftswunderland Bundesrepublik in den fünfziger und sechziger Jahren war also von einem Diskurs begleitet, der auch das Selbstbild der (ehemals) "kleinen Leute" zu modifizieren suchte. Resultat war auch hier eine kulturell homogenere Gesellschaft: Im Westen die nivellierte bürgerliche Mittelstandsgesellschaft, im Osten die nivellierte arbeiterliche Gesellschaft.Der Einfluss des Wertewandels in den Industrienationen und der 68er-Revolte auf die Kultur in Ostdeutschland war jedoch aus wirtschaftlichen und ideologischen Gründen nicht so offensichtlich und nachhaltig wie in den westlichen Ländern. Während es "den 68ern" der Bundesrepublik in den siebziger und achtziger Jahren gelang, die Diskurshoheit zu gewinnen und den gesellschaftlichen Wertewandel kommunikativ zu stützen, fehlte eine vergleichbare Breitenwirkung im Osten. Nicht nur bei der älteren und mittleren Generation, sondern auch bei großen Teilen der Jugend gab und gibt es Dispositionen, die weniger individualisiert und innengeleitet sind als im Westen. Auch die modernen Milieus des Ostens unterscheiden sich von ihren West-Pendants: Das alternative Milieu hat eine ausgeprägte links-intellektuelle Tendenz, die neuen Arbeitnehmermilieus der späten DDR waren hedonistischer und materialistischer als im Westen.Die konservative Wahlentscheidung, die die Mehrheit der DDR-Bürger 1990 traf, frustrierte nicht nur die Ost-Linken, sondern vor allem auch jene Westdeutschen, die sich durch die ostdeutschen Wähler um den anstehenden politischen und geistigen Wechsel in der Bundesrepublik gebracht sahen.Die sich als modern, linksliberal und aufgeklärt verstehende Reflexionselite der Bundesrepublik verknüpfte die unbestreitbare Rettung der Konservativen durch die Ostdeutschen rasch mit der Konstruktion eines bestimmten Klischees von "den Ostdeutschen", das weit über das Politische hinausging. Als Otto Schily, damals Grüne Partei, in einem Fernsehinterview um einen Kommentar zum Ausgang der Volkskammerwahl 1990 gebeten wurde, zog er wortlos und lächelnd eine Banane aus der Tasche und hielt sie in die Kamera. Die taz schmückte ihre Wahlstatistik mit einem abgewandelten DDR-Emblem, statt Hammer und Zirkel war im Ährenkranz eine Banane. Das Bild vom selig-blöden Ossi mit der Banane war eine der ersten Metaphern des nun beginnenden kulturellen Stigmatisierungsdiskurses, in dem sich die Enttäuschung über die unerwartete Fremdheit Bahn brach. Es ist kein Zufall, dass ausgerechnet jene Werte der politischen Kultur der Bundesrepublik, die als Früchte der 68er-Bewegung gelten, die Kritik- und Messpunkte an den Ostdeutschen wurden.Man diagnostizierte, dass die Ostdeutschen autoritärer seien als die Westdeutschen und dass der "verordnete Antifaschismus der DDR" ohne die richtige Wirkung auf die Bevölkerung geblieben sei, dass in ostdeutschen Familien repressiver als in westdeutschen erzogen worden sei, dass der Osten eine feministische Wüste und die Emanzipation der ostdeutschen Frauen keine gewesen sei. Man stellte also fest, dass den Ostdeutschen all das fehlt, worauf man selbst so stolz war. Das Bild von den Ostdeutschen entsprach dem ins Negative gewendeten idealisierten Selbstbild, das der Nach-68er-Diskurs von der Kultur des Westens geformt hatte. Das Desaster der DDR und die Wahlentscheidung ihrer Bevölkerung führte in den Sozialwissenschaften und den Medien zu einem "Konsensschwall" in Bezug auf die alte Bundesrepublik, der den 1989 erreichten Stand einer kritischen Selbstreflexion wieder fortspülte. Und der Blick auf Positiva, die der Beitritt der Ostdeutschen dem vereinigten Deutschland eventuell bringen konnte, war natürlich auch verstellt.Heute ist deutlich geworden, dass viele Ostdeutsche ihre kulturelle Andersartigkeit sowohl reflektieren als auch darauf bestehen. Dennoch sind und waren die Ostdeutschen nicht das "kollektive Subjekt", das die SED-Führung angestrebt hatte, sondern eine Bevölkerung, die sich aus unterschiedlichen sozial-moralischen Milieus zusammensetzte und zusammensetzt. Auch heute sind die Ostdeutschen keine Gruppe mit klarem, politisch formulierbaren Gruppenbewusstsein, es gibt keine markanten politischen Ziele, für die sich "die Ostdeutschen" gemeinsam einsetzen.Dennoch gibt es als typisch ostdeutsch zu bezeichnende Abweichungen im Verhältnis zur westdeutschen Durchschnittsverteilung politischer Werte und Einstellungen, es gibt deutlich andere Ordnungskonzepte und Zielvorstellungen. Zehn Jahre nach dem Beitritt kann man immer noch feststellen, dass "Herkunft DDR" in Bezug auf gesellschaftsbezogene Werte eine gleichermaßen relevante Variable ist, wie Bildungsstand und Sozialstatus. Das zeigt sich vor allem am Konstrukt "Gerechtigkeit" und daran, inwieweit dem Staat soziale Verantwortung zugeschrieben wird.Nach wie vor und mit großer Mehrheit befürworten die Ostdeutschen die Einführung eines demokratischen Systems. Dass aber die bundesdeutsche Demokratie die "beste Staatsform" ist, glauben nur die Westdeutschen. Im Jahr 1997 waren über zwei Drittel von ihnen dieser Meinung, im Osten denkt das nur ein Drittel der Bevölkerung. Die Ostdeutschen kritisieren zudem, dass sich "demokratische Mitwirkungsmöglichkeiten im Vergleich zur DDR-Zeit" kaum verbessert hätten. Jeder zweite Ostdeutsche befürwortet eine stärkere Kontrolle der Wirtschaft durch die Politik. Diese Präferenz dürfte einerseits spezifisches Erbe der politischen Sozialisation in der DDR sein, andererseits dürften aber in hohem Maße auch die sozialen Absturzerfahrungen aus der Transformationszeit Anteil daran haben. Die Ostdeutschen interpretieren die Politik als ein der Wirtschaft übergeordnetes, und nicht nur beigeordnetes System. Im "freien Spiel der Kräfte" sehen sie mehr als die Westdeutschen die Gefahr, dass Gesellschaft zu einem Selbstbedienungsladen für die Stärkeren und Verantwortungsloseren wird, und seine Funktion als Lebensraum verliert - und dass sie die Leid Tragenden dieser Entwicklung sind. Viele Ostdeutsche erwarten ein System, das Stabilität und Solidarität zumindest befördert und Kontingenz, Partialinteressen und die zentrifugalen Kräfte des Marktliberalismus im Zaume zu halten versucht.Damit kommt man auch zur zweiten, für die deutsch-deutsche politische Kultur wichtigen Entgegensetzung, nämlich der von Freiheit und Gleichheit. Drei Viertel der Westdeutschen sind stolz auf die persönliche Freiheit in Deutschland, nur die Hälfte der Ostdeutschen teilt diesen Stolz. Die Ostdeutschen wissen politische Freiheiten sehr wohl zu schätzen, aber sie haben seit 1990 erlebt, dass Freiheit allein nicht ausreicht, ein selbst bestimmtes Leben zu führen. Seit den letzten beiden Dekaden gehören zum Erinnerungsrepertoire der Ostdeutschen sowohl soziale Absturz- und Desintegrationserfahrungen wie auch Ängste vor politischen und ökonomischen Bedrohungen. Ihre Wahrnehmungsmuster unterscheiden sich deutlich von denen vieler Westdeutscher, die in der historischen Ausnahmeperiode der Wohlstands-Bundesrepublik eine anscheinend unerschütterbare Saturiertheit herausgebildet hatten.Der Beitritt der Ostdeutschen hat die Balance und die Maßverhältnisse der politischen Kultur der Bundesrepublik verändert. Diese Komplettierung geschah allerdings nicht durch die Legitimierung und Aufnahme des ostdeutschen Traditionsstranges in den Werte-Kanon des vereinigten Deutschlands, sondern durch die Aufnahme einer Bevölkerung, die in mehreren Generationen unter dem in der DDR durchgesetzten Modernisierungsmodell sozialisiert wurde. Die Träger egalitär und etatistisch akzentuierter Wertebestände sind seit dem Beitritt also nicht mehr nur eine Minderheit von engagierten und idealistischen Intellektuellen, sondern eine relativ große, sich aus verschiedenen sozialmoralischen Milieus zusammensetzende Bevölkerungsgruppe. Das symbolische Gewicht dieser Werte ist also nach wie vor gering, aber sein "statistisches Gewicht" hat deutlich zugenommen.Die Ostdeutschen sind ein anderer politischer Resonanzboden - sie machen nicht die Musik, aber sie verändern doch ihren Klang. Möglicherweise liefern die Ostdeutschen mit ihren Lebensmodellen auch Impulse für den beginnenden alltagskulturellen "Wandel durch Minderheiten". Damit hätte der Beitritt "des Ostens" in "den Westen" auch ein Moment des Kulturtransfers.Möglicherweise liefern die Ostdeutschen mit ihren Lebensmodellen Impulse für den beginnenden alltagskulturellen "Wandel durch Minderheiten".Dass die bundesdeutsche Demokratie die "beste Staatsform" ist, glauben nur die Westdeutschen.GÜNTER BERSCH, AUS DEM BAND "STARTBAHN OST", CH. LINKS VERLAG, BERLINNaturführer, Weststrand Darß, 1999