Jürgen Habermas: Kritik an Europas Krisenpolitik
Potsdam - Der Herr mit den weißen Haaren schürt keine Illusionen. „Die Fortsetzung des europäischen Einigungsprozesses muss heute eher defensiv begründet werden“, analysiert er. „Das Thema ist kein Selbstläufer.“ So etwas hat der SPD-Parteivorstand geahnt, der auf seiner Klausurtagung in Potsdam auch die Europawahl vorbereiten will. Stolz präsentiert Parteichef Sigmar Gabriel dort den Philosophen Jürgen Habermas als Gastreferenten – einen Mann, der mit der Sozialdemokratie nie unkritisch umgegangen sei.
Tatsächlich lässt es der 84-Jährige nicht an Kritik am Zustand der europäischen Krisenpolitik und der deutschen Rolle dabei mangeln. Ohne Kanzlerin Angela Merkel direkt beim Namen zu nennen, geißelt er „die halb-hegemoniale Stellung Deutschlands“, das den Südländern eine sozial einseitige Sparpolitik aufgezwungen habe. Zudem würden die Entscheidungen zwischenstaatlich oder von der EU-Kommission gefällt und hätten so keine demokratische Legitimation. Am schlimmsten aber sei, dass die akute Krisenpolitik die Ursachen der Probleme nicht berühre.
Radikaler Politikwechsel
Die Antwort darauf kann für Habermas nur ein radikaler Politikwechsel sein. Es reiche nicht, wenn Politiker im Wahlkampf mit einer Mischung aus Brüssel-Bashing und unverbindlichen Europa-Bekenntnissen aufträten. Vielmehr müsse dringend der Konstruktionsfehler der EU beseitigt und sie zu einer politischen Union mit harmonisierter Finanz- und Wirtschaftspolitik, gemeinsamen Parteien und Transferleistungen über Grenzen hinweg ausgebaut werden. Dies werde aber nur gelingen, wenn man ein Europa der zwei Geschwindigkeiten in Kauf nehme.
Die Genossen sind hin- und hergerissen. Viele teilen das Engagement für Europa und die Kritik an der Kanzlerin, mit der man freilich zusammen regiert. Der Vortrag sei nicht nur Musik, sondern eine Symphonie in seinen Ohren gewesen, schwärmt etwa Martin Schulz, der SPD-Spitzenkandidat für die Europawahl. Zwei Geschwindigkeiten der europäischen Einigung möchte er aber nicht akzeptieren.
Parteichef Gabriel zeigt zwar Sympathie für eine stärkere politische Einigung, weist aber darauf hin, dass eine Vertragsänderung politisch derzeit kaum umsetzbar sei. „Ich teile die Kritik, dass der Mix der Krisenpolitik nicht stimmt“, meldet sich schließlich der Finanzpolitiker Joachim Poß zu Wort. Aber ob man die deutsche Rolle deshalb als „halb-hegemonial“ bezeichnen müsse, daran habe er doch Zweifel.