Jugendstadträte warnen, dass Sozialarbeiter fehlen - Finanzsenator verweigert Einstellungen: Kinderschutz in Not
Dreimal hat Birte Paul, 44, vergeblich mit der Familie einen Termin vereinbart. Die Eltern sind unversöhnlich zerstritten, kämpfen erbittert um das Sorgerecht für die Kinder. Birte Paul muss als Sozialarbeiterin in Charlottenburg-Wilmersdorf vor Gericht in diesem Sorgerechtsstreit aussagen. Doch ohne Gespräch mit den Eltern und Kindern vorher geht das nicht. Aber Birte Paul hat die Verabredungen immer wieder platzen lassen müssen. Denn sie hat in den vergangenen Wochen gleich zweimal verwahrloste Kinder aus Wohnungen geholt. Kinderschutz geht vor und Kollegen, die das hätten machen können, gab es nicht.Wie Paul geht es vielen Sozialarbeitern. In den Jugendämtern werden langsam die Mitarbeiter knapp. Jugendstadträte warnen vor einer sich abzeichnenden Katastrophe. "Meine Mitarbeiter sind am Ende ihrer Kräfte", sagt etwa Angelika Schöttler, Stadträtin in Tempelhof-Schöneberg.Der Krankenstand sei hoch, er habe aus allen Regionen des Bezirks Überlastungsanzeigen, sagt Reinhard Naumann, Stadtrat in Charlottenburg-Wilmersdorf. "Es wird nur noch akuter Kinderschutz betrieben. Man kann nicht mehr frühzeitig in die Familien gehen", erklärt Dirk Retzlaff, Jugendstadtrat in Treptow-Köpenick. Der Unmut der drei Sozialdemokraten richtet sich gegen ihren Parteifreund und Finanzsenator Thilo Sarrazin. Denn nach Angaben der Stadträte sind die nötigen Sozialarbeiter-Stellen in ihren Haushalten vorhanden, dürfen aber wegen eines Verbots der Finanzverwaltung nicht von außen besetzt werden.Die Stadträte fordern, dass von den genehmigten 200 Einstellungen von außen für Berlin jährlich 50 Stellen für Sozialarbeiter reserviert werden. Wenn das nicht gelinge, werde sich die Situation verschärfen, warnt Naumann. Jugendsenator Jürgen Zöllner (SPD) sieht das offenbar ähnlich. Zumindest heißt es aus seiner Verwaltung, dass diese Stellen wenigstens "vorrangig" mit Sozialarbeitern besetzt werden sollten.Im Hause Sarrazin lässt man sich nicht beirren. Die Bezirke könnten sich an den Stellenpool wenden. Ende des Jahres werden dort 34 Sozialarbeiter und 80 Erzieher, die wie Sozialarbeiter gearbeitet haben, vom Jugendaufbauwerk (JAW) übernommen. Die Kritik der Stadträte, das seien zu wenige oder aber nicht ausreichend ausgebildet, lässt Sarrazins Sprecherin Kristina Tschenett nicht gelten. Sobald die JAW-Mitarbeiter im Stellenpool ankommen, werde mit der Fortbildung begonnen, sagt sie. Erst wenn diese Sozialarbeiter-Reserve insgesamt ausgeschöpft sei, könnte man Außeneinstellungen prüfen.Die Situation in den Jugendämtern wird noch verschärft durch das hohe Durchschnittsalter der Mitarbeiter. Wie in den Lehrerzimmern führte der faktische Einstellungsstopp im vergangenen Sparjahrzehnt zu der Überalterung. Von rund 1 280 Sozialarbeitern in den Bezirken sind etwa die Hälfte älter als 50 Jahre, jeder vierte sogar älter als 55 Jahre. Die werden in den nächsten Jahren in den Ruhestand gehen. Bei "praktisch fehlenden jungen Kräften zeichnet sich eine als problematisch zu bezeichnende Entwicklung in den Jugendämtern ab", heißt es in einem Bericht der Senatsjugendverwaltung. Und in einer parlamentarischen Antwort bezeichnete Zöllner Sozialarbeiter "aktuell und perspektivisch" als Mangelberuf.Außerdem gibt es immer größere Anforderungen. Im Frühjahr wurde etwa das Netzwerk Kinderschutz installiert. Seither ist die Zahl der Hinweise auf vernachlässigte Kinder drastisch gestiegen. In Charlottenburg-Wilmersdorf wird sich im Vergleich zum Vorjahr die Zahl bis zum Jahresende auf rund 320 verdoppelt haben. Die Zahl der Kinder, die zumindest zeitweise aus ihren Familien geholt werden mussten, hat in Treptow-Köpenick um rund zehn Prozent zugenommen. Gibt es einen Hinweis auf ein vernachlässigtes Kind, müssen noch am gleichen Tag zwei Sozialarbeiter zur genannten Wohnung hinfahren. Alle andere Aufgaben, Familienberatungen, Hilfepläne für überforderte Eltern, Sorgerechts-Gutachten, bleiben liegen. Für Prävention, wie es das Kinder- und Jugendhilfegesetz eigentlich verlangt, ist keine Zeit mehr, sagt die diplomierte Sozialarbeiterin Paul. "Heute können wir nur noch reagieren."------------------------------300 Millionen Euro Familien-HilfeDie Sozialarbeiter in den Jugendämtern der Bezirke haben nach dem Kinder- und Jugendhilfegesetz vor allem folgende Aufgaben:Familien können sich an die Jugendämter wenden, wenn sie eine allgemeine Beratung brauchen: beispielsweise bei wirtschaftlichen Notlagen oder Erziehungsproblemen mit den Kindern. Entweder beraten die Sozialarbeiter dann selbst oder vermitteln an die Fachdienste.Bei Trennungsauseinandersetzungen gibt es eine Mitwirkungspflicht der Jugendämter, wenn Kinder betroffen sind. Die Sozialarbeiter müssen dann eine Stellungnahme in der Sorgerechts-Frage beim Gericht abgeben.Die Hilfen zur Erziehung (HzE) sind ein wesentlicher Teil der Tätigkeit von Sozialarbeitern im Jugendamt. Familien haben einen gesetzlichen Anspruch auf solche Hilfen.Die Jugendämter prüfen den Anspruch auf Hilfe. Liegt der vor, entscheidet der Sozialarbeiter, welche Hilfe gewährt wird. Die wird im Hilfeplan festgelegt. Das kann ein Familientherapeut sein, der täglich in der Familie vorbeischaut. Es ist auch möglich, Kinder ins Heim zu schicken. Oft setzt ein freier Träger den Hilfeplan um.Im Berliner Etat sind rund 300 Millionen Euro für Hilfen zur Erziehung veranschlagt.Um den Kinderschutz zu verbessern, war im Frühjahr das Netzwerk Kinderschutz installiert worden. Die Zahl der Hinweise auf vernachlässigte Kinder hat seither zugenommen. Im Mai und Juni gab es schon 129 Fälle.Zu den Aufgaben der Sozialarbeiter gehört es, in solchen Fällen mit der Polizei die Wohnung zu kontrollieren und unter Umständen das Familiengericht anzurufen.------------------------------Foto: "Brandschutz braucht Feuerwehrleute, Kinderschutz Sozialarbeiter." Reinhard Naumann (SPD), Stadtrat Charlottenburg-Wilmersdorf------------------------------Foto: "Meine Mitarbeiter sind am Ende ihrer Kräfte." Angelika Schöttler (SPD), Stadträtin Tempelhof-Schönberg