Juli Zehs fulminanter erster Roman versammelt Menschen, die zu weit gehen: Jeder hat schon Regen gesehen

Hat hier jemand tatsächlich ein erstes Buch geschrieben, das nicht nur von ihm selbst handelt? Wie kann eine, die erst 1974 geboren ist, so viel wissen vom Leben und es so gut ausdrücken? "Adler und Engel" beginnt 1999 in Leipzig, da ist Max 33 Jahre alt und ein Wrack. Seine Freundin Jessie hat sich erschossen, während sie mit ihm telefoniert hat. Danach geht er nicht mehr zur Arbeit und möchte möglichst bald an Kokain sterben. Doch die Radiomoderatorin Clara spürt ihn auf und fragt über Monate hinweg seine Geschichte aus ihm heraus - für ihre Diplomarbeit in Psychologie.Einiges, was Max sich entlocken lässt, klingt wie eine psychotische Wahnvorstellung. Vor allem das, was er selbst erst mit der Zeit versteht: Er hat in Wien und Leipzig als Völkerrechtler, ohne es zu wissen, für das organisierte Verbrechen gearbeitet. Völkerrechtler sind Stars. Sie sollen Genozide, vielleicht Weltkriege verhindern und verdienen damit ein Riesengeld. Max Spezialgebiete sind der Balkan und die Osterweiterung der EU. Dass Jessie, angeleitet von Vater und Bruder, schon als Schulmädchen in größtem Stil Drogen vom Balkan eingeschmuggelt hat, weiß Max seit langem. Unwillig und mühsam begreift er nun auch, was sein Chef Rufus, den er als Juristen und Ersatzvater verehrte, für die Parallelführung von Politik und Kriminalität tut. Jetzt muss Max Clara retten, falls es noch geht.Die ungewöhnlichste Stärke des Romans ist seine Personenzeichnung. Am meisten rührt und erschreckt Jessie. Abgebrüht besorgt sie das Geschäft von Banden, die über Leichen gehen; zugleich bleibt sie bis zum Ende ein geplagtes, hoffnungslos verrücktes Kind, von Max Liebe zu erreichen, aber nicht zu heilen. Gewiss ist sie an Vater und Bruder zerbrochen, und doch hat die Liebe dieser Scheusale etwas Bewegendes. Julie Zeh lehrt den Leser einiges über die Unvernunft von Gefühlen. Man verzeiht Max eine Menge Niedertracht, weil man sich von ihm die Lösung der Krimirätsel erhofft. Ferner freut man sich, als Shershah, der Jessie so widerlich ausgenutzt hat, tot ist. Lesend applaudiert man einer außergerichtlichen Hinrichtung. Kunst ist kein Leitartikel.Zehs Figuren leben aus extremen Widersprüchen. Formal entspricht dem der gekonnt frustrierende Wechsel der Erzählebenen: Ist die 1999er-Gegenwart besonders spannend geworden, unterbricht die Autorin und lässt Max von früher berichten; spitzen sich die alten Geschichten zu, kommt er, bevor sie geklärt sind, wieder zurück. Ähnlich das Spiel mit den Tempi. Es gibt ein rasantes und ein schleichendes, ein lakonisches und ein poetisches. Ersteres ist für die Handlung. Unwichtiges weglassen können viele, Zeh jedoch verschweigt oft die Hauptsache. Die eingetretene Veränderung wird beiläufig nachgetragen, wenn es längst um etwas anderes geht. Dann, mitten in dieser Hetzerei, steigt die Autorin abrupt auf die Bremse. Die Handlung bleibt stehen, Max schaut aus dem Fenster oder die Straße entlang. Was er da ausführlich schildert, ist nichts Besonderes. Jeder hat schon Regen gesehen, Bahngleise, einen Parkplatz. Nur findet Zeh dafür Formulierungen, die man noch nirgends gelesen hat: "Die Oberleitungen der Bahn sehen aus wie Fäden einer riesenhaften Spinne, die, ihre Seide hinter sich herziehend, die Stadt überquert hat, unbemerkt, ein träger, vielleicht etwas schwankender Schatten, für eine Gewitterwolke gehalten von einigen Nachtschwärmern und beim nächsten Blick in den Himmel bereits wieder vergessen. " Die Autorin hat Europa- und Völkerrecht studiert und bei der Uno in New York ein juristisches Praktikum absolviert. In einer Passage, die mit diesen Erfahrungen zusammenhängt, hat sie Fiktion und Dokumentation problematisch verknüpft. Zwei reale Personen treten auf: Zeljko Raznatovic, bekannter als Arkan, und Franko Simatovic. Im Roman sind sie 1995 die Herren eines Lagers, in dem bosnische Frauen gefoltert und vergewaltigt werden. Einige dieser Gequälten dürfen das Land verlassen, müssen dabei aber Drogen schmuggeln - die serbische Kriegspartei finanziert sich mit Heroin- und Kokainhandel. Arkan schneidet einer Gefangenen die Ohren ab und erschießt sie, weil sie mit Jessie geredet hat. Es gibt nun zwei Möglichkeiten: Entweder haben die beiden serbischen Kriegsverbrecher das in Wahrheit so getan, wie Jessie es darstellt. Oder diese Szenen, die trotz Jessies Wahnsinn eindeutig als wahr gelten sollen, sind ausgedacht. Bei einem historischen Roman von solcher Aktualität möchte man das gerne genau wissen. Sonst keine Einwände. Ein Ereignis.Juli Zeh: Adler und Engel. Roman. Schöffling & Co. , Frankfurt am Main 2001. 445 S. , 46 Mark.