Kampf um die Ukraine: China, der umschmeichelte Riese
Eigentlich könnte sich China in einer glücklichen Lage wähnen. Endlich kann es beweisen, wovon es immer spricht, kann zeigen, was es kann, „verantwortungsbewusst handeln“, wie Pekings Funktionäre bei jeder Gelegenheit betonen. Der Riese in Ostasien wird derzeit geradezu umschmeichelt, von Russland auf der einen Seite, das im vorsichtigen Verhalten Chinas ein Zugeständnis für sein Handeln in der Ukraine sieht, vom „Westen“ auf der anderen Seite, das eben dieses Handeln Moskaus aufs Schärfste verurteilt und Sanktionen verhängt. Um Peking hat ein Tauziehen begonnen.
Genau das aber ist ein Dilemma Pekings. Es kann nur zwischen den beiden Polen schwanken, weil es den großen Nachbarn im Norden für seine Rohstoffe und den europäischen Partner für den Technologie-Transfer braucht. Das Land fühlt sich noch nicht stark genug, einen von beiden zu verprellen und durchläuft gerade ohnehin erst einen Prozess der Selbstfindung, was die Ausgestaltung eigener Außenpolitik betrifft.
Das Gesetz des Stärkeren
China hat zunächst durchaus Sympathien für das russische Vorgehen in der Ukraine bezeugt. Endlich habe es jemand dem Westen gezeigt, habe Mut bewiesen und eine Lektion erteilt, tönte es vor allem aus den Staatsmedien. Die chinesischen Politiker haben sich bereits da etwas leiser ausgedrückt, auf der Suche nach einer passablen Position. Es endete im Herumlavieren zwischen „Wir mischen uns nicht in die inneren Angelegenheiten eines Landes ein“ und „Verständnis für die komplexe Geschichte zwischen Russland und der Ukraine“. Es ist bei diesem Taktieren geblieben. Im national-autoritären Staatsverständnis – der Chinesen wie der Russen – spielt das Gesetz des Stärkeren stets eine große Rolle. Eben darin geht Peking mit Moskau überein und ist geradezu beeindruckt, wie und in welch' kurzer Zeit Russlands Präsident Wladimir Putin sein Ziel (mit der Annexion der Krim) erreicht hat.
Dem „Gesetz des Dschungels“ ist auch China nicht abgeneigt und provoziert, trotz all der Rhetorik von einer friedlichen Nation, die es mit höheren Ausgaben fürs Militär zu verteidigen gilt, immer wieder seine Nachbarn in Ost- und Südostasien. Es ist im Streit um die Diaoyu-Inseln, die die Japaner Senkaku nennen, nicht anders als die plötzliche Einrichtung einer Luft-Verteidigungszone der Chinesen genau über diese umstrittene Inselgruppe.
"Heimathafen" Moskau
Schlägt sich aber China auf die russische Seite, akzeptiert also das Argument Moskaus, es habe lediglich das Selbstbestimmungsrecht eines Volkes befolgt – auf der Krim leben nun einmal viele ethnische Russen, die mittels Referendum lediglich die historische Gerechtigkeit hergestellt haben wollten und in den „Heimathafen“ Moskau zurückgekehrt seien –, riskiert es Aufstände in den eigenen Provinzen. Die Taiwan-Frage ist nach wie vor nicht geklärt, in Xinjiang kämpfen einige Uiguren seit Jahren für die Unabhängigkeit von China, in Tibet kommt es ebenfalls immer wieder zu tödlichen Protesten. Gerade jetzt, wo China seine Wirtschaft umzukrempeln versucht und sich dadurch vor sozialen Unruhen fürchtet, kann es nicht noch ethnische Zusammenstöße gebrauchen.
Zudem haben die Chinesen selbst schlechte Erfahrungen mit den Russen (im Zaren- und im Sowjetreich) gemacht. Im „ungleichen Vertrag“ von Aigun verloren die Chinesen im 19. Jahrhundert Teile der Mandschurei. Bis heute ist das ein unüberwundener Streitpunkt Chinas mit Russland um Gebiete am Amur. In den 1940er-Jahren zwang das sowjetische Moskau das schwache China – mit einem Referendum –, die Unabhängigkeit der Äußeren Mongolei anzuerkennen. Eine Demütigung für Peking.
"Arrogante Weiße"
Das Misstrauen zwischen den beiden Völkern lässt sich bis heute vor allem an der mehr als 3000 Kilometer langen gemeinsamen Grenze wunderbar beobachten, florierende Handelsgeschäfte hin oder her. Die Russen bleiben in den Augen vieler Chinesen „arrogante Weiße“, die Chinesen in den Augen vieler Russen „eine unzivilisierte gelbe Gefahr“, auch wenn beide gern vom Brudervolk sprechen. Im Chinesischen aber wird bei Brüdern strikt unterschieden. Es gibt den „großen Bruder“, gege, und den „kleinen Bruder“, didi. China und Russland wollen derzeit beide der „gege“ sein.
Dass Peking dieser Rolle gerecht wird, könnte es am heutigen Dienstag beweisen. Gerade weil es, trotz aller Skepsis, starke historische Verbindungen zu Russland gibt, kann China als Vermittler agieren und beim Besuch des russischen Außenministers Sergej Lawrow in Peking darauf verweisen, wie wichtig gerade jetzt Gespräche in der Ukraine-Krise sind. Das wäre ein Stück Verantwortung.