Kolumne: Eingeschneit in Jerusalem
Hinauf nach Jerusalem! So steht es in der Bibel. Christen streben zur Felsenspitze des Berges Golgatha; vis à vis drängen Muslime zum alttestamentarischen Tempelberg, wo einst auch Prophet Mohammed zum Himmel aufstieg. Jerusalem liegt im Gebirge, 800 Meter höher als Tel Aviv. Am vergangenen Mittwoch kündigten die Nachrichten Kälte, Sturmböen und Niederschläge an, und meine Kollegin Rachel betete inständig, es möge schneien: „Dann muss morgen niemand arbeiten.“ Sie wurde erhört. Am Donnerstag schickte sie mir diese SMS: „Herr Gott und ich haben eine besondere Beziehung. Gut Schabbes!“ Am Ende blieb Rachels Arbeitsstätte fünf satte Tage geschlossen – bis Montag einschließlich.
Insgesamt fiel ein halber Meter sehr schwerer Schnee. Zehntausende der spröden, mediterranen Bäume zerknickten unter der Last wie Streichhölzer, Stromausfälle folgten. Bald schoss Schmelzwasser knöchelhoch durch die Gassen und Straßen, bahnte sich Gräben durch den weißen Matsch, halbgefrorene Fladen rutschten von den Dächern. Ich konnte noch drei Brote kaufen, geriet zufällig in die Grabeskirche, ganz ohne immerzu fotografierende, rüpelnde, stoßende und selbst prügelnde Pilger. Ich ging direkt zum Sarkophag Christi und murmelte in aller Ruhe: „… gekreuzigt, gestorben und begraben, niedergefahren zur Hölle, am dritten Tage auferstanden von den Toten, aufgefahren gen Himmel, sitzend zur Rechten Gottes …“
Gut gelaunte und hilfsbereite Leute
Auf den Schneesturm folgten Nachtfrost und am Sonntag strahlendes Wetter, so wie in den Alpen im März. Die Verbindungsstraßen waren wieder frei, und schon holten die überall im Land zum Warten verdammten christlichen Pilger das Versäumte nach. Mit ihrer schieren Masse brachten sie die Altstadt erbarmungslos unter ihre Gewalt.
Währenddessen saßen viele Einheimische vor den Cafés in der Sonne, stellten die Stühle in den Schnee und amüsierten sich. In den schwierigen Tagen sah ich überall gut gelaunte und hilfsbereite Leute – sei es in arabischen, jüdischen oder gemischten Vierteln.
Unter dem Motto „Den Schneesturm genießen, schicken Sie Ihre besten Fotos“ begleitete die Jerusalem Post das Chaos und regte an, dem Sturmtief Alexa einen Namen mit mehr „yiddishkeit“ zu verpassen. Für das Westjordanland wurde sofort ein israelisch-palästinensischer Krisenstab improvisiert, das von schweren Überschwemmungen heimgesuchte Gaza erhielt die angeforderten Hilfslieferungen aus Israel. In der Not, aber auch im Alltag, zeigen beide Seiten immer wieder die Bereitschaft, pragmatisch miteinander zu verkehren.
Wer von Jerusalem aus an Berlin denkt, kann nur den Kopf schütteln. Dort führt ein vergleichsweise winziges Problem – etwa die Flüchtlinge auf dem Oranienplatz oder in Hellersdorf – zu Orgien von Rechthaberei, zur Unfähigkeit zum Kompromiss, zu Bosheit und Hass.
Merkwürdig, dass man in Berlin so viele Leute trifft, die genau zu wissen meinen, wie der Frieden rund um Jerusalem am einfachsten zu finden sei. Die von den USA moderierten Verhandlungen zwischen Israelis und Palästinensern gingen während des Schneesturms weiter. Wer die beispiellose Kompliziertheit des nahöstlichen Konflikts bedenkt, wird bewundern, wie Menschen mit derart gegensätzlichen Interessen im Alltag miteinander zurechtkommen.