Kolumne zu Antisemitismus: Extremismus der Mitte

Wann immer es in der öffentlichen Debatte mal wieder um Juden geht, in Erwartung übelster feindlicher Schläge in Mails, Kommentaren oder direkter Konfrontation, möchte man den Kopf einziehen. Denn was dann kommt, antisemitisch zu nennen, wäre fast noch untertrieben. Sie prasseln wütend aus dem Himmel deutscher Normalität herab, als hätte es für dieses Unwetter nur dieses einzigen Wortes bedurft: Jude.

Egal in welchem Zusammenhang oder Thema, egal mit welcher Botschaft ausgesprochen, ob mit oder ohne Israel, der Jude als Assoziation lässt es sogleich im Gemüte donnern und krachen. Da spricht der Hass aus Tastaturanschlägen und Mündern und manchmal auch aus Fäusten oder Waffen. Wer dann fragt, ob das alles Antisemitismus sei, ist im besten Falle scheinheilig. Wer jedoch behauptet, das käme nur aus dem Extremismus – besonders aus dem muslimischen – ist ein Selbstbetrüger und ein Rassist. Denn der Antisemitismus grollt aus der Mitte heraus.

Ein zentraler Mythos der deutschen Geschichte war immer die des Extremen, aus dem das Böse kriecht, versus der guten Mitte, in der die Welt ihr Gleichgewicht findet. So haben die Deutschen den Nationalsozialismus weit von sich selbst wegdefiniert und einigen Verbrechern zugeschrieben, von deren Taten niemand wusste.

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Die deutsche Mitte wurde zu lange zu unkritisch betrachtet. Auch als sich nach der Vereinigung im Osten die Nazis in „national befreiten Zonen“ gegen „Zecken“, „Assis“ und „Ausländer“ austobten, handelte es sich scheinbar nur um Extremisten. Doch die Mitte duldete dies mit mehr oder weniger Wohlwollen, konnte im Zweifel jedoch immer auf die Extremisten zeigen. Erst als Pegida selbst auf die Straße ging, wurde die aggressive Mitte sichtbar. Die Mitte also. So sieht sie aus.

Und wenn heute alle mit dem Finger auf Muslime zeigen, wenn es um Antisemitismus geht, ist das ebenso verlogen. Zwar sind Neonazis und Islamisten, was sie eben in ihrer Menschenverachtung sind – auch Antisemiten.

Doch das macht die Mitte nicht um einen Deut besser. Wer jungen Muslimen vorwirft, dass sie Juden mit Kippa nicht unbehelligt durch ihren Kiez laufen lassen, jedoch den eigenen Antisemitismus für die „Wahrheit“ über Rothschild, die „Bilderberger“ oder Israelkritik hält, ist ein Rassist. Wer umgekehrt – wie von Seiten einiger antirassistischer Aktivisten geschehen – den Mord an einem jüdischen Wachmann vor der Synagoge nicht als antisemitisch bezeichnen mag, wegen Israels Politik, der ist ein Antisemit.

Das gilt ebenso für Gerichte in Deutschland, die Anschläge auf Synagogen oder die krassesten Hassreden von Querfrontideologen aus dem gleichen Grund nicht als antisemitisch verurteilen wollen. Der Antisemitismus kehrt zu seinen Wurzeln zurück, er ist die gemeinsame Ideologie von Islamisten, Antiimperialisten gegen Amerika, Friedenswächtern für Russland, Verschwörungsideologen, Aluhüten und Pegidisten, Neonazis und durchknallten Feinden jeder Art westlicher Demokratie. Und der Mitte, die ihnen Beifall zollt.

Nicht die Kippa in Neukölln ist das Problem, sondern eine infantile und aggressive Gesellschaft, aus deren Mitte es Hass hagelt, während sie mit dem Finger auf andere zeigt. Ganz besonders, wenn das Wort Jude fällt.